Web 2.0 stellt Unternehmen auf die Probe

12.07.2006 von Sascha Alexander
Das Platzen der Dotcom-Blase hat die Weiterentwicklung des Internets nicht gestoppt. Tradierte Geschäftsmodelle und Werbeformate verschwinden im Zeitraffer.

Marketingbegriff, technische Evolution, kollektive Intelligenz - vieles wird dem Begriff Web 2.0 nachgesagt, seitdem er Ende 2004 auf einer Konferenz des Verlegers Tim O’Reilly geprägt wurde.

Hier lesen Sie …

  • wofür Web 2.0 steht;

  • warum es wichtig für Unternehmen ist;

  • wie sich neue Techniken und Werbekonzepte nutzen lassen.

Täglich entstehen mehr kollaborative Anwendungen, über die sich Web-Nutzer selbst organisieren.

Web 2.0 steht für eine stärkere und vor allem individuelle Vernetzung von Menschen(gruppen) und Informationen als sie bisherige Websites, Chat-Foren oder E-Mail geboten haben. Höhere Bandbreiten, günstige und einfach zu nutzende Techniken wie Atom, Ajax, RSS, Wikis, XML oder Tagging (Klassifizierung von Inhalten und Sites über Metadaten), Trackback, Suchmaschinen wie Technorati oder Feedster sowie bisherige Open-Source-Software schaffen die Grundlage für neuartige Web-Plattformen.

Kreativität ist der Schlüssel

Es ist vor allem die kreative und gezielte Nutzung dieser Techniken für bestimmte Aufgaben oder Interessengruppen im Web, die ihre Popularität ausmachen. Web-2.0-Plattformen wie Flickr (Bilderaustausch), Delicious (Social Bookmarks), Wikipedia (Enzyklopädie), Myspace (interaktives Internetportal) oder Youtube (Video-Sharing) sowie unzählbare Blogs und soziale Netzwerke machen es vor: Wissen und Daten werden zunehmend außerhalb des PCs verwaltet und über diese Web-Plattformen selbst organisiert, bewertet und miteinander geteilt. Kollaborative Projekte wie Linux und File-Sharing-Sites wie Napster bereiteten den Weg. Je mehr mitmachen, desto schneller potenziert sich das Wissen und die Qualität und Relevanz der Inhalte für den Einzelnen, besagt die Theorie. Der alte Traum vom Web als sozialen Lebensraum scheint sich zu erfüllen: "We are the Web", lautet eine alte Parole.

Dass Web 2.0 auch ein Riesengeschäft ist, zeigt der Erfolg von Google, Amazon, Ebay, Microsoft MSN oder Yahoo. Sie alle können sich aufgrund neuer, cleverer Online-Geschäftsmodelle zusehends der Informationsflüsse bemächtigen. Es vergeht kaum eine Woche, in der sich diese Giganten nicht populäre Web-Communities zu teils horrenden Preisen einverleiben, um ihre Plattformen selbst zu einem Web 2.0 zu machen. Ob ihre hohe Börsennotierung angemessen ist und ob ihr Einfluss im Web nicht zu groß wird, steht auf einem anderen Blatt. Auch könnte man wieder darüber diskutieren, ob die vielen neuen Internet-Startups mit ihren originellen, aber oft wenig tragfähigen Geschäftsmodellen, die Rückkehr der Risikokapitalgeber (zumindest in den USA) und eine wachsende Euphorie in der digitalen Wirtschaft Zeichen einer schwellenden Dotcom-2.0-Blase sind.

Doch Web 2.0 ist nicht nur ein "cooles" und verlockendes Thema für Internet-Surfer und Startups, sondern muss auch Unternehmen beschäftigen. Dies beginnt beim internen Wissens-Management: So könnten Wikis als Basis für ein FAQ-System, als Glossar, für Linklisten, für die Dokumentation beziehungsweise als gemeinsame Wissensbasis in der Qualitätssicherung oder bei Forschung und Entwicklung, als Projekt-Management-System, für Marketing-Kampagnen oder im E-Learning dienen. Erste Anwendungen bei Unternehmen existieren heute schon (ausführlich hierzu in der computerwoche Nr.27, Seite 26).

Wikis und Blogs könnten gegenüber bisherigen Ansätzen im Wissens-Management eine schnellere und gezielte Kommunikation zwischen Benutzergruppen ermöglichen - vorausgesetzt, der Endanwender nimmt teil und die Unternehmensrichtlinien unterstützen diese Interaktivität. Eine Integration dieses Wissens in die Geschäftsprozesse wäre wohl die vielversprechendste Lösung. Ferner inspirieren Web-2.0-Trends die Design-Prinzipen neuer Web-Anwendungen und Softwareinfrastrukturen. Neben der Popularität von Ajax in der Client-Entwicklung hat beispielsweise das Konzept einer Service-orientierten Architektur (SOA) aus dem Web wesentliche Impulse und Standards wie Web-Services für seine Umsetzung erhalten.

Mehr als Imagepflege

Die größten Herausforderungen und Chancen für Unternehmen liegen jedoch jenseits der Firewall: Das Internet als Kommunikations- und Vertriebskanal entwickelt zunehmend seine eigene (unkontrollierbare) Dynamik, die sich mit herkömmlichen Webauftritten und Werbeformaten immer weniger steuern lässt. Wenn beispielsweise potenzielle Kunden laufend (kritisches) Feedback zu Produkten und Programmbibliotheken über Google-Alerts, Technorati oder sonstige Mechanismen beziehen können, sollten eigentlich die Alarmglocken beim Anbieter läuten. Wer keine Strategien für das Web 2.0 entwickelt, könnte am Ende Umsätze verlieren und/oder Imageschäden erleiden. Ob ein juristisches Vorgehen gegen Kritiker der richtige und vor allem machbare Weg ist, sei dahin gestellt. Laut Volker Glaeser, Direktor Media und Search bei Yahoo, sollten Unternehmen die individuellere Informationsverteilung im Web vielmehr als eine große Chance sehen. So können RSS-Feeds einen zielgruppenspezifischen Kanal zum Kunden öffnen, den es vor Web 2.0 nicht gab.

Blogs können für Firmen, die beispielsweise Konsumgüter vertreiben, ein Aushängeschild sein und andere Blogger dazu ermuntern, auf sie zu verlinken oder sich per Tagging "kommentieren" zu lassen. Der Anbieter gewinnt so wichtige (im Guten wie im Schlechten) Marktinformationen. "Richtig spannend" wäre das Web 2.0 für Vertriebsorganisationen aber vor allem dann, wenn sie über mobile Endgeräte Communities kontaktieren könnten, um sich zu informieren oder Informationen weiterzugeben: "Hier sehe ich die größten Effekte", sagte Glaeser.

Einkaufen oder ausprobieren

Der Aufbau eigener Communities für Werbung und zur Kundenbindung nach den Prinzipien von Web 2.0 ist weitaus schwieriger. Eine Option mag die Akquisition interessanter Sites sein. Diesen Weg ging Medienmogul Rupert Murdoch, der kurzerhand für 580 Millionen Dollar die größte Internetgemeinschaft der Welt Myspace.com mit ihren 70 Millionen Usern kaufte. Die New York Times ließ sich das populäre Ratgeberportal About. com 410 Millionen Dollar kosten. Doch für die meisten Unternehmen bleibt nur der Weg, zusammen mit ihren Web-Dienstleistern Erfahrungen zu sammeln. Sie versuchen statt klassischer Werbung (Banner, Popups etc.) und statischer Web-Präsenzen Kunden gezielter im Kontext und nach Interessen anzusprechen.

Me-Commerce statt E-Commerce

Ein revolutionäre Neuerung und ein potenziell riesiger Markt für den elektronischen Handel könnte etwa die gezielte (kontextbezogene) und einfache Platzierung und Referenzierung von Produkten auf Blogs, in Social Software oder Homepages mit Hilfe spezieller Verkaufstools wie "Ebay Relevance Ads", "Chitika Minimals", "Mecommerce", "Backpack", "Wists", Kaboodle" oder "Slide" sein, die in den letzten Monaten aufgetaucht sind. Marktkenner sehen hier vor allem eine Chance für Online-Händler, sich von Ebay oder Amazon zu lösen. Noch weiter treibt es Yahoo, das mit dem Web-2.0-Dienst "Shoposphere" Benutzern die Auswahl und das Tagging der zu verkaufenden Produkte über "Einkaufslisten" überlässt. Ein weiterer Ansatz, der für traditionelle Unternehmen und Dienstleister eine Gefahr und Chance zugleich ist, sind Anwendungen zur Suche und Bewertung von lokalen Angeboten (Ort, Region) wie hierzulande Qype.

Der Erfolg hängt letztlich davon ab, ob der Service inhaltlich gut ist (sprich: den Benutzer interessiert) sowie das tägliche Leben erleichtert und die Kommunikation fördert. "Erst dann kann die Community eine kritische Masse erreichen", weiß Glaeser. Dabei gilt es stets, die eigenen kommerziellen Interessen mit den Vorlieben der Benutzer (User Experience) auszubalancieren. Diesbezüglich lässt sich bei den oft von wenigen Leuten entwickelten und betreuten Web-2.0-Communities wenig abgucken, da sie zwar nützlich und beliebt sind, aber kaum Umsatz generieren wollen oder können. Beispiele wie das Business-Netzwerk "Open BC" mit seinen 1,4 Millionen registrierten Usern zeigen aber, dass es sich rechnen kann. Der Betreiber kommt ohne Werbung aus, kann aber für den Zugang zur Community Geld verlangen. Gleiches gilt schon länger für Gaming-Angebote im Internet.

Derweil erproben etwa Versandhäuser wie Neckermann, Karstadt-Quelle oder die Otto Group das Potenzial von Web 2.0. So kündigte im Juni beispielsweise die Otto Group unter der Bezeichnung "eShopping 2.0" eine Weiterentwicklung ihres Online-Handels mit ausdrücklicher Erwähnung von Web-2.0-Konzepten an.

Wieviel Freiheit ist erlaubt?

Ziel sei es, "die Dialogfähigkeit, Interaktivität und Partizipation der User auszubauen". Traditionelle Unternehmen hingegen, die bisher nicht über das Web verkauften, tun sich heute noch schwer mit dem Web 2.0. Ein Beispiel ist das Kundenportal "Cokefridge.de" von Coca Cola. Die Plattform sei eine Reaktion auf die zunehmende Internet-Nutzung der Jugendlichen und soll ihnen "eine permanente Interaktion mit dem Produkt ermöglichen", erläuterte kürzlich Gregor Gründgens, Director Marketing Communications, auf dem Deutschen Multimedia Kongress Digital Wirtschaft in Berlin. Alle Kampagnen und Verlosungen des Konzerns laufen nun über die Plattform und finden künftig das ganze Jahr hindurch statt.

Doch eine interne Strategie allein garantiert noch nicht den Erfolg: "Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Community-Schaffern und ihren Nutzern" räumte Gründgens ein. Warum soll ein junger Kunde ausgerechnet auf die Coca-Cola-Site gehen, um Musik herunterzuladen oder mit anderen zu kommunizieren? Zwar hätten sich seit dem Start im letzten Jahr bereits rund 500000 Nutzer angemeldet und man habe es auf 150000 Visits und 2,5 Millionen Page Impressions pro Woche gebracht.

Dennoch ist Cokefridge heute vor allem eine Werbeplattform mit Incentives und nicht die angestrebte interaktive Kundenplattform. Was die Community davon hält, wisse man eigentlich nicht, da es noch zu wenig Feedback gebe, räumte Gründgens ein. Zudem muss der Hersteller wie alle andere Unternehmen eine fundamentale Entscheidung treffen: An dem Ausmaß der "Freedom of speech", wie Coca Cola den freien Meinungs- und Informationsaustausch auf seiner Plattform umschreibt, wird sich zeigen, ob sich bisherige Geschäftsmodelle mit den Prinzipien von Web 2.0 vereinbaren lassen.