Web 2.0: "Die Menschen quatschen und quatschen und hören nicht mehr auf"

26.07.2007
Eine spannende Diskussion läuft derzeit auf der Website des Wall Street Journal. Zwei populäre Autoren, die jeweils Bestseller zum Web-2.0-Phänomen verfasst haben, diskutieren, ob das Mitmach-Internet eher eine Chance oder eine Katastrophe für die Gesellschaft bedeutet.

Andrew Keen, Autor des Kassenschlagers "The Cult of the Amateur", sieht Blogs, Social Networks, Video-Sharing-Sites und was das Mitmach-Internet sonst noch hervorgebracht hat, als Bedrohung. Web 2.0 bedeute die radikale Demokratisierung der Medien. Die ehemaligen Konsumenten von Medien würden durch Web 2.0 selbst zu Medienschaffenden und wandelten sich zu digitalen Autoren, Musikkünstlern, Filmemachern und Journalisten. Die Youtube, Wikipedia, Myspace und Facebook seien Sites, auf denen sich das Volk austobe.

Bei den Sales- und Marketing-Profis im Silicon Valley gebe es keine Zweifel: Die Demokratisierung und die radikale "Abflachung" der Medienlandschaft kann aus ihrer Sicht nicht verkehrt sein. Sie finden es traumhaft, dass jeder, der will, eine "digitale Version von Gutenbergs Druckerpresse" zur Verfügung hat und seine Inhalte einfach erzeugen und via Internet verteilen oder verkaufen kann.

Geht mit den Amateuren im Internet hart ins Gericht: Andrew Keen
Foto: Keen

Doch hier setzt Keen mit seiner heftigen Kritik an: "Die Menschen quatschen und quatschen und hören nicht mehr auf. Das Problem ist, dass IHR! (Das Time Magazin hatte "YOU!" als die große Menge der Content-Erzeuger im Internet zur "Person of the Year 2006" gewählt) vergessen habt, wie man zuhört, wie man liest und wie man beobachtet." Das Interesse an der Genauigkeit und Seriösität sowie der Objektivität, wie es die großen Mainstream-Medien hätten, geht laut Keen im Mitmach-Internet verloren. An seine Stelle sei Selbstverliebtheit getreten, jeder halte sich mit seinen subjektiven Inhalten für den Nabel der Welt. Der Autor hat dafür den Begriff "digitaler Narzissmus" geprägt.

Die abgeflachten Medien sind laut Keen personalisierte, chaotische Medien, die ohne den essenziellen "erkenntnistheoretischen Anker der Wahrheit" auskommen wollen. "Die Unparteilichkeit eines respektierten und sich der Verantwortung stellenden Experten wird durch die Nebulosität eines anonymen Amateurs ersetzt. Wenn jedermann behauptet, ein Autor zu sein, dann kann es keine Kunst, keine verbindliche Information und keine Zuhörerschaft geben." Alles gehe in einem großen Nebel unter, Keen spricht von Anarchie. Man müsse sich nur auf Youtube, Facebook, Myspace oer in der Blogosphere umsehen, um zu wissen, was los sei.

Viel Mist – und viele mündige Nutzer

Völlig anderer Ansicht ist David Weinberger, Autor des Bestsellers "Everything is Miscellaneous". Er glaubt, dass Web 2.0-Tools dem Nutzer dabei helfen, Irrelevantes und Inkorrektes von Wichtigem und Seriösem zu trennen. Es sei richtig, dass sich im Web jeder auslassen könne, dass – anders als bei den konventionellen Medien - kein Pförtner den Einlass kontrolliere, dass es viel Mist gebe und zu viele Stimmen, die nichts zu sagen hätten. Gleichzeitig sei das Netz aber selbst die Instanz, die diesen Missstand bekämpfe. Von den ersten Usenet-Diskussionsforen über Wikipedia bis hin zu Sites, die Anwendern das Taggen von Informationen ermöglichen, gab es laut Weinberger immer Vorrichtungen und Techniken, um Ideen und Informationen miteinander zu verbinden, zu sortieren und zu bewerten.

Die Menschen seien nicht so dumm, allen Web-Inhalten blind zu vertrauen. "Öffnen Sie wahllos eine Seite der Enzyklopädia Britannica und sie finden sofort Inhalte, denen sie vertrauen können. Im Web würden Sie nie so vorgehen. Dort verlassen wir uns, angefangen bei der Webadresse, auf eine breite Palette an Mechanismen und Zeichen, denen wir vertrauen und die uns lenken. Das populärste Beispiel sei Ebay, wo Nutzer Angebote beurteilen und zugleich selbst beurteilt werden.

Foto: kenyarmosh.com

Für Weinberger ist das Web ein Spiegel der Menschheit, der sehr viel mehr Nuancen und Extreme anzeigt, als alle bisherigen Medien. "Das Web bietet mehr von allem: mehr Verunglimpfungen, mehr Ehrerbietungen. Mehr Porno und mehr Liebe. Mehr Ideen und mehr Zerstreuung. Mehr Lügen und mehr Wahrheit. Mehr Experten und mehr Profis. Das Web ist Überfluss, während die konventionellen Medien stets mit Mangel zurecht kommen mussten – sowohl wirtschaftlich als auch das Wissen und die Inhalte betreffend."

Wenn Keen den Verlust des "erkenntnistheoretischen Anker der Wahrheit" beklage, den er in den alten Medien finde, und wenn er den respektierten, sich der Verantwortung stellenden Experten vermisse, dann gelte das allenfalls für einige Fakten und für Inhalte, die man auch in den Almanachen finde. Gehe es darum, die Welt zu verstehen – einschließlich Wissenschaft, Politik und Künste – dann biete das Web sehr viel mehr.

"Primaten mit unbegrenzten Botschaften auf unbegrenzten Kanälen"

Keen stimmt Weinberger in der Feststellung zu, dass das Web weniger ein Medium als ein Spiegel sei. Entscheidend sind für ihn aber die Folgen: "Web 2.0 macht uns zu Affen. Das ist die Folge des neuen Überflusses, des 'Long Tail', wenn Sie so wollen. Primaten mit unbegrenzten Botschaften auf unbegrenzten Kanälen."

Weinberger habe Recht: Das Internet repräsentiere den Überfluss von allem: mehr Porno, mehr Liebe, mehr Ideen, mehr Zerstreuung. Für einen Philosophen möge das faszinierend sein. Für einen Normalsterblichen, der sich auf Informationen verlassen wolle, führe der digitale Überfluss in die intellektuelle Armut. Je mehr wir wissen, desto weniger wissen wir am Ende wirklich. "Um dieses chaotische Medium wirksam zu nutzen", so Keen, "müssen wir unsere eigenen Taxonomien entwickeln. Für die Mehrheit der Menschen, die die Welt verstehen möchten, ist das nicht realistisch. Sie halten Taxonomie für etwas, mit dem man zum Flughafen fahren kann."

Gute Autoren und Künstler sind den Ausführungen des Web-2.0-Kritikers zufolge schon immer knapp gewesen. Sie mussten Wege finden, ihr Talent zu Geld zu machen. Traditionelle Medien hätten sie dabei unterstützt, indem sie sie entdeckt, gefördert und vermarktet hätten. "Wenn aber alles verflacht, wenn Bücher digitalisiert und Bibliotheken zu Gehilfen von Google werden, wenn Schreiber zu Vertriebs- und Marketing-Verantwortlichen für ihre eigene Marke mutieren - wohin soll das führen?", fragt Keen, der offenbar den Untergang des Abendlandes fürchtet.

Du bist ein Künstler oder ein Affe…

Weinberger hält dagegen: "Wir sollten die Zeiten, in denen traditionelle Medien den Ton angaben, nicht verherrlichen. Weil es so teuer war, kulturelle Produkte wie Bücher, Tonträger oder Filme zu produzieren, haben nur wenige Glückliche ein Massenpublikum erreicht. Der große Rest ist einfach von der Landkarte verschwunden", konstatiert der Autor. In der traditionellen Medienlandschaft habe stets die Regel gegolten: "Du hast Talent oder du hast es nicht. Du bist ein Künstler oder ein Affe." Dadurch sei der Eindruck entstanden, dass Talente knapp seien. In Wirklichkeit sind laut Weinberger aber nicht die Talente, sondern die konventionellen Distributionswege knapp, über die sie vermarktet werden. Die Kosten waren stets zu hoch und die Veröffentlichungen zu riskant.

Talente gibt es aber laut Weinberger in allen möglichen Abstufungen und Formen. Ob sie einen großen Kreis an Interessenten finden, ist für ihn nicht entscheidend. Im Web könne man den Größten der Welt zuhören, gleichzeitig aber auch Exoten mit vielleicht unperfekter Technik finden, "die uns aber berühren oder weiterbringen".

Und Möglichkeiten, um diese Dinge zu finden, gibt es laut Weinberger im Web genug. Die Pförtnerfunktion, die traditionelle Medien aufgrund des knappen Platzes haben müssten, brauche es nicht. Auch bedürfe es keiner Taxonomien. "Wir verlassen uns auf die Angaben von Experten, die Inhalte und Angebote klassifizieren, auf nach Relevanz sortierte Suchergebnisse (Google) und auf Empfehlungen von vertrauenswürdigen Menschen.

Weinberger beharrt darauf, dass Web 2.0 auch Intellektuellen weiterhelfe. "Es mag Talente geben, die für sich allein aufblühen, doch viele Typen von Talenten entwickeln sich erst in der Kommunikation mit anderen. Das gilt vor allem für die Entwicklung neuer Ideen. Wissen ist kein Spiel für einen Einzelnen. Wissen entsteht durch kollaborative Prozesse", so der Autor.

"Der Chor der Affen brüllt im demokratisierten Netz"

Keen konzediert zwar, dass im Web auch Experten und Profis zusammenfinden und fruchtbare Ideen entwickeln könnten, doch dafür stehe Web 2.0 in Wirklichkeit nicht. "In Wirklichkeit ist es doch so, dass ein Großteil der Web-2.0-Kommunikation anonym erfolgt und von Menschen beigesteuert wird, die eher an vulgären Beleidigungen als an respektvollem intellektuellem Austausch interessiert sind. Die Kommentarecken auf den meisten Websites sind angefüllt mit Müll. Nicht anders sieht es in der Blogosphere aus. Mit anderen Worten: Es ist richtig, dass sich Experten im Internet entdecken und austauschen können. Was mich aber stört, ist der Chor der Affen im demokratisierten Internet." (hv)

Der hier verkürzt wiedergegebenen Austausch der Autoren ist auf der Website des "Wall Street Journal" unter der Headline "The Good, The Bad, and the Web 2,.0" öffentlich zugänglich.