Reality Check

Was vom SOA-Hype übrig bleibt

16.10.2008 von Wolfgang Herrmann
Die Euphorie um Service-orientierte Architekturen ist abgeklungen. Viele Projekte stecken in Schwierigkeiten. Trotzdem halten IT-Verantwortliche an ihren Plänen fest.

Auf dem Höhepunkt des SOA-Hypes überboten sich Analysten mit schwindelerregenden Marktzahlen. IDC schätzte die Größe des weltweiten Softwaremarkts für SOA-Produkte im laufenden Jahr auf knapp sechs Milliarden Dollar. Bis zum Jahr 2011 soll der Wert auf 14 Milliarden Dollar steigen. Die Konkurrenten von AMR Research legten noch eine Schippe drauf und zählten auch die Serviceumsätze mit. Demnach haben Unternehmen bereits im Jahr 2007 rund 22 Milliarden Dollar für SOA-Vorhaben ausgegeben. Die Prognose: Bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 20 Prozent könnte das Marktvolumen bis zum Jahr 2012 auf knapp 52 Milliarden Dollar anschwellen. Mindestens 77 Prozent aller Unternehmen sollen bis dahin eine SOA-Initiative angestoßen haben. Glaubt man den Auguren, sind die Motive für SOA immer die gleichen: mehr Agilität im Wettbewerb durch flexiblere IT-Strukturen, ein effizienterer IT-Betrieb dank wiederverwendbarer Services und damit unterm Strich sinkende Kosten.

Das Kostenargument für SOA wurde als erstes ad acta gelegt, sagt Wolfgang Beinhauer vom Fraunhofer Institut Arbeitswirtschaft und Organisation.

Diese Einschätzungen stehen im krassen Gegensatz zu den praktischen Erfahrungen, von denen Berater berichten. "Die meisten SOA-Vorhaben werden spektakulär scheitern", warnt Anne Thomas Manes vom renommierten amerikanischen Beratungshaus Burton Group. Eine Analyse der SOA-Initiativen von 20 Unternehmen habe ernüchternde Ergebnisse gebracht: Etwa die Hälfte aller SOA-Projekte war ein kompletter Fehlschlag; 30 Prozent ließen sich weder als erfolgreich noch als gescheitert bezeichnen. Manes' Kollege Chris Howard beobachtet eine "gewisse Ermüdung", die in der SOA-Szene eingesetzt habe.

SOA-Versprechen auf dem Prüfstand

Das sehen inzwischen auch andere Marktbeobachter so. Berichte über typische Fehler und Versäumnisse in SOA-Projekten häufen sich. Das amerikanische Marktforschungs- und Beratungshaus Gartner, eigentlich ein glühender Verfechter der SOA-Idee, veröffentlichte eine Liste mit den zwölf SOA-Todsünden. Ein kritischer Blick auf die Versprechen der SOA-Protagonisten offenbart, warum die Begeisterung nachgelassen hat.

Beispiel IT-Kosten: Laut einer Untersuchung von Saugatuck Technology erhoffen sich zwar 57 Prozent der Verantwortlichen sinkende Ausgaben als Ergebnis ihrer SOA-Bemühungen. Doch von konkreten Einsparungen in laufenden oder bereits abgeschlossenen Projekten ist kaum etwas zu hören. Angesichts der hohen Vorabinvestitionen scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. "Das Kostenargument wurde als erstes ad acta gelegt", sagt Wolfgang Beinhauer, SOA-Experte beim Fraunhofer-Institut Arbeitswirtschaft und Organisation. Olaf Herbig, Vice President Operations Implementation & Management bei T-Systems, bestätigt diese Sicht: "In der praktischen Umsetzung hat sich gezeigt, dass Einsparungen viel später als angenommen zu realisieren sind." Im ersten Schritt müssten Unternehmen zunächst investieren (siehe auch: Wie sich SOA-Projekte rechnen).

Beispiel Wiederverwendung: Einmal erstellte Softwareservices mit standardisierten Schnittstellen lassen sich immer wieder benutzen und steigern so die Effizienz in der Softwareentwicklung, lautet ein anderes Versprechen. Eine Studie von Vanson Bourne, in Auftrag gegeben vom SOA-Anbieter Progress Software, relativiert diese Aussage. Demnach lassen sich im Durchschnitt nur etwa 30 Prozent der von Anwenderunternehmen entwickelten Services wiederverwenden. Bei 25 Prozent der Befragten liegt der Anteil mehrfach einsetzbarer Softwaremodule unter zehn Prozent. Dazu passt die Einschätzung des Braunschweiger SOA-Spezialisten Nicolai Josuttis. Nach seiner Erfahrung wird ein Softwareservice durchschnittlich nur von ein bis zwei Nutzern (Consumern) in Anspruch genommen. Von einer intensiven Mehrfachverwendung könne also kaum die Rede sein, erklärte Josuttis auf dem Münchner Entwicklerkongress OOP 2008 (siehe dazu: Entwicklertipps für die SOA).

Beispiel Agilität: SOA erlaubt es Unternehmen, ihre IT zu flexibilisieren und damit agiler zu werden, werben die Softwareanbieter. Das Problem hinter diesem Argument ist vielschichtig. Budgetverantwortliche können mit dem schwammigen Begriff oft nichts anfangen; sie verlangen konkrete Zielvorgaben und Ergebnisse. Hinzu kommt, dass sich Agilität schwer messen lässt und sich damit verbundene Effekte, wenn überhaupt, erst nach einer längeren Anlaufzeit einstellen.

Ist die SOA-Blase geplatzt?

Der jahrelang geschürte Hype scheint einer großen Ernüchterung gewichen zu sein. Ist die Marketing-Blase also geplatzt, SOA womöglich als Konzept gescheitert? IT-Verantwortliche in großen deutschen Unternehmen sind anderer Meinung: "SOA ist mit Sicherheit nicht am Ende", erklärt Wolfgang Gaertner, CIO der Deutschen Bank. Der Nutzen werde sich in den laufenden Projekten zeigen. Die mit SOA verknüpften hohen Erwartungen hält der Manager für plausibel: "Wenn man solche grundlegenden Veränderungen herbeiführen will, muss man auch mutige Ankündigungen machen und entsprechende Ziele setzen." Für ihn persönlich bleibe SOA ein Topthema. "Der Begriff Service-Orientierung bringt zum Ausdruck, dass die IT wesentliche Veränderungen in den Geschäftsprozessen auslöst." Das gelte für die Deutsche Bank in besonderem Maße. Gaertner: "Wir wollen mit SOA Abwicklungsprozesse nachhaltig verändern." Konkret bedeute dies, dass die Bank Prozesse automatisiere, die heute noch papiergebunden oder manuell betrieben werden. Auch T-Systems-Manager Herbig glaubt nicht an ein Ende der SOA-Idee. Alle Beteiligten müssten sich aber mehr darauf konzentrieren, dass es bei SOA nicht nur um Technik gehe: "Viele vergessen den Menschen und die Organisationen. SOA ist ein Mindchange und nicht ein Stück Technik, das man ausrollt. An dem Punkt scheitern viele Projekte."

"Der SOA-Hype ist tatsächlich zu Ende, und das ist gut so", argumentiert dagegen Fraunhofer-Experte Beinhauer. Jetzt fingen die Projekte an. "Auch die Hersteller erkennen, dass es nicht mehr ausreicht, SOA auf ihre Produkte zu schreiben." Gefragt seien jetzt Erfahrungs- und Beratungskompetenz. Einen Erfolg der anfänglichen Euphorie sieht er darin, dass das Thema Rahmenwerk für die IT wieder stärker ins Bewusstsein der Verantwortlichen gedrungen sei. Etliche Unternehmen gäben nun finanzielle Mittel für Architekturprojekte frei.

Für das Fortbestehen des SOA-Paradigmas sprächen schon die milliardenschweren Investitionen der Softwarehersteller, urteilt Armin Büttner, Leiter Center of Competence IT bei der Audi AG. Zwar hätten die Protagonisten zu Beginn den Hype nach Kräften geschürt. Doch zahlreiche Projekte in den USA wie auch in Deutschland belegten, dass SOA in den Unternehmen angekommen sei. Die Erwartungen waren nach seiner Einschätzung keineswegs zu hoch. So habe Audi in mehreren Pilotprojekten bereits gute Erfahrungen mit mehrfach verwendbaren Services gemacht. Büttner: "Das ist keine Träumerei, sondern Realität." Der Kostenaspekt stehe für Audi dabei nicht unbedingt im Vordergrund, so der Manager. "Für uns geht es vielmehr darum, die Produktivität der Softwareentwicklung in unseren IT-Architekturen, die Qualität und die Geschwindigkeit zu erhöhen, sprich IT-Lösungen schneller in die Fachbereiche zu bringen."

Pragmatismus statt Euphorie

IDC-Analyst Rüdiger Spies sieht in der abebbenden Euphorie eine natürliche Entwicklung: "Der Höhepunkt ist sicher überschritten." Das bedeute aber nicht, dass SOA als Konzept gescheitert wäre. Vielmehr beginne jetzt die Adaption auf breiter Front. Ganz ähnlich argumentiert Matthias Zacher von der Experton Group. "Es ist ohne Zweifel richtig, dass in Bezug auf SOA Ernüchterung, Hinterfragen und zum Teil auch eine Neubewertung des Themas zu verzeichnen ist. Der SOA-Hype ist aus unserer Sicht teilweise zu Ende." Als Konzept allerdings sei SOA nach wie vor hochaktuell.

In Gartners Hype-Cycle-Modell für Emerging Technologies hat SOA das 'Tal der Ernüchterung' bereits hinter sich gelassen und befindet sich auf dem 'Weg der Erkenntnis'.

Christian Hestermann, Research Director ERP bei Gartner, verweist auf den Hype Cycle seines Unternehmens (siehe Grafik). "Am Anfang herrscht bezüglich neuer Technologien stets eine Aufbruchsstimmung, Begeisterung oder gar Euphorie", erläutert er das Modell. Darauf folgten in der Regel das "Tal der Ernüchterung", der "Weg der Erkenntnis" und schließlich das "Plateau der Produktivität". In der Gartner-Diktion habe SOA das Tal der Ernüchterung bereits durchschritten und sei auf dem Weg der Erkenntnis angekommen. Bis die Phase der Produktivität erreicht sei, könnten aber noch zwei bis fünf Jahre vergehen. Auch nach Hestermanns Geschmack haben die Protagonisten den SOA-Hype übertrieben. Andererseits habe dies vielerorts auch Interesse an dem Konzept geweckt.

Hersteller wie die Darmstädter Software AG, die ihre komplette Wachstumsstrategie auf SOA ausgerichtet hat, wollen von einem Ende der Euphorie naturgemäß nichts wissen. Vorstandschef Karl-Heinz Streibich beklagt die aktuelle Berichterstattung der Medien, die nach seinem Eindruck dem Motto "Bad news are good news" folge. "Jede neue Technologie und jeder Paradigmenwandel braucht eine Euphorie-Phase", so der CEO. Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch stelle sich irgendwann Normalität ein. Streibich: "Dann gelten wieder die alten Regeln für das Projekt-Management, für Gesamtkosten- und Rentabilitätsberechnungen."

Streibich deutet damit nur an, mit welchen Problemen SOA-Verantwortliche auch künftig zu kämpfen haben werden. Wie sich die Hindernisse auf dem Weg zur SOA umschiffen lassen, erfahren Sie im Artikel "Der Bauplan für die SOA".

Die Zukunft von SOA

Allen Unkenrufen zum Trotz und bei aller berechtigten Kritik bleibt das Thema SOA in den kommenden Jahren auf der CIO-Agenda. Einen anderen Schluss lassen die vorliegenden Informationen kaum zu. Die Einschätzung von Gartner steht dafür exemplarisch. Auch für Experton-Analyst Zacher ist es keine Frage, dass SOA in fünf Jahren noch ein Topthema in der IT sein wird. Vor allem der Bedarf an standardbasierenden und prozessorientierten Anwendungslandschaften trage dazu bei.

Armin Büttner, Audi AG: 'SOA wird nicht nur in den kommenden fünf Jahren, sondern weit darüber hinaus ein bedeutendes IT-Thema bleiben.'

Audi-Manager Büttner geht noch weiter: "SOA wird nicht nur in den kommenden fünf Jahren, sondern weit darüber hinaus ein bedeutendes IT-Thema bleiben." Er rechne mit einem Lawineneffekt in den Unternehmen. Zurückhaltender äußert sich der CIO der Deutschen Bank: SOA werde für IT-Organisationen definitiv wichtig bleiben, so Gaertner. "Ich hoffe aber, dass SOA in fünf Jahren nicht mehr zu meinen persönlichen Top-Themen gehört, sondern normal geworden ist." Genau das erwartet Fraunhofer-Experte Beinhauer: "SOA wird Commodity und als Reizwort verschwinden. Architektur-Management aber wird auch in fünf Jahren noch aktuell sein."

SOA: Zahlen und Fakten

Mehr zum Thema SOA und Business-Process-Management im CW-Experten-Blog SOA meets BPM.