Was ist ein Offshore-Qualitätssiegel wert?

23.01.2004 von Joachim Hackmann
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Indische Offshore-Anbieter treten mit zwei wichtigen Argumenten an: Ihre Dienste sind gut und günstig. Letzteres untermauern sie mit dem Verweis auf die niedrigen Lohnkosten, Ersteres mit der Zertifizierung gemäß SEI CMM Level 5 (SEI CMM = Software Engineering Institute Capability Maturity Model). Während um die Kosten schon seit längerem eine kontroverse Diskussion geführt wird, mehren sich nun auch Zweifel an der Aussagekraft des Qualitätssiegels.

CMM betrachtet die Prozesse zur Softwareentwicklung in den Unternehmen und definiert Reifegrade. Die höchste Stufe der CMM-Zertifizierung haben weltweit rund 70 Unternehmen erreicht.   Quelle: SEI

Der Club der CMM-Level-5-Zertifizierten (siehe Kasten "CMM bewertet Prozesse") ist exklusiv, die Anforderungen an die Mitglieder sind hoch. Weltweit gibt es nach übereinstimmenden Angaben des SEI und der Marktforscher von Gartner nur 70 Firmen, die dieses Gütesiegel erhalten haben, 50 davon stammen aus Indien. Sie wurden dafür ausgezeichnet, dass sie interne Prozesse realisiert haben, um Software termingenau, budgetgerecht und hochwertig zu entwickeln. Die Abläufe sind transparent gestaltet und gleichzeitig so flexibel, dass nötige Änderungen schnell erkannt und umgesetzt werden. Über die Qualität der Produkte sagt das Siegel jedoch nichts aus - eine Tatsache, die CMM-zertifizierte Dienstleister meistens nicht erwähnen.

Was also ist ein Zertifikat für hiesige Anwender wert, das ursprünglich für das US-amerikanische Verteidigungsministerium entwickelt wurde und von indischen Softwarehäusern mit Leben gefüllt wird? Die Antwort der Anbieter vom Subkontinent fällt eindeutig aus. Die standardisierten Prozesse helfen, die Kosten zu senken, behauptet Sangita Singh, Leiter Strategic Marketing bei Wipro Ltd. Die Einsparungen würden an die Kunden weitergegeben.

CMM bewertet Prozesse Das Capability Maturity Model (CMM) wurde 1987 vom Software Engineering Institute (SEI) der Carnegie Mellon University im Auftrag des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums erstellt. Die Behörde benötigte ein Referenzmodell, um Softwareanbieter nach Termin- und Budgettreue sowie Qualität bewerten zu können. Das SEI entwickelte zwar keine Vorschläge zur Softwareerstellung, definierte aber fünf verschiedene Reifegrade, mit denen sich die internen Prozesse der Anbieter bewerten lassen. Welche Entwicklungskonzepte, Modelle und Verfahren die Softwareanbieter verwenden, bleibt ihnen überlassen. Nach den SEI-Vorgaben sind Unternehmen mit dem niedrigsten CMM-Level 1 chaotisch organisiert und Prozesse nicht erkennbar. Die Auszeichnung mit dem höchsten Zertifikat ist Unternehmen vorbehalten, die klar definierte Abläufe und Qualitätssicherungsverfahren unterhalten. Sie haben zudem Innovationsprozesse etabliert und können ihre Abläufe neuen

Anforderungen schnell anpassen. Alternativen zu CMM sind beispielsweise Bootstrap und Spice.

Doch während unter Experten Konsens darin besteht, dass die Softwarequalität mit höherem CMM-Level steigt, ist die Formel umstritten, wonach bessere Prozesse zu günstigeren Preisen führen. "Erhebungen zu Qualität und Reifegrad haben eindeutig Verbesserungen bei Kosten und Termintreue ergeben", behauptet Bill Peterson, Leiter Software Engineering Process Management beim SEI. "Ob die Anbieter die Einsparungen an die Kunden weitergeben, entzieht sich unserer Kenntnis. Das sind Management-Entscheidungen. Aber Anbieter mit CMM Level 5 sind besser als ihre Konkurrenten. Es ist demnach gerechtfertigt, wenn sie mehr und nicht weniger für ihre Dienste in Rechnung stellen, fügte Peterson hinzu.

Mit Kanonen auf Spatzen

Dieser Meinung sind nicht alle Experten. Vielfach wird kritisiert, dass CMM-Level-5-zertifizierte Dienstleister weit über das Ziel hinaus schießen und die so entstehenden Kosten an ihrer Kunden weiterreichen. Die Anstrengungen hoch dotierter und hervorragend organisierter Offshoring-Dienstleister verpuffen wirkungslos, wenn Kunden mit chaotischen internen Abläufen operieren. "CMM stellt hohe Anforderungen an Prozesse. Das Modell verlangt von Level-5-Anbietern, die Projekt- und Systemanforderungen sehr detailliert zu dokumentieren und auch mit Maßangaben zu versehen", erläuterte Bart Perkins, Managing-Partner des Beratungshauses Leverage Partners, Louisville, Kentucky. "Bei Anwenderunternehmen mit Arbeitsabläufen, die dem Level 1 entsprechen, passen die Anforderungen auf die Rückseite eines Briefumschlags." Dort mit Level 5 zu operieren, sei, wie wenn man in Alaska Pkws mit Klimaanlage verkaufte. An sich ist das höhere Zertifikat ein nützliches Instrument, in der

Praxis liefert es in solchen Fällen kaum Vorteile.

Zudem stellt CMM teilweise unangemessen hohe Anforderungen an Abläufe (siehe "Qualitätssiegel macht Indien interessant"). So mancher Anwender bemängelte etwa, dass selbst einfache Tätigkeiten einem streng reglementierten Prozess folgen müssten und damit unverhältnismäßig schwer umzusetzen seien. CMM-Abläufe gelten daher als schwerfällig und zeitaufwändig. Außerdem beschränkt sich das vom SEI entwickelte Zertifikat auf die Softwareentwicklung isolierter Systeme. Die Erkenntnis, dass für ein erfolgreiches Projekt nicht nur Prozesse, sondern auch Personen ausschlaggebend sind, schlägt sich in dem SEI-Modell nicht nieder. Dennoch finden die Auszeichnungen zunehmend Anklang bei Anwendern. "Unser CIO möchte nur mit Level-5-Anbietern zusammenarbeiten", schilderte Alan Stanley, Programm Manager beim Versicherungskonzern Farmers aus Los Angeles, Kalifornien. "Es

ist ein Weg, die besten Firmen herauszufiltern. Darüber hinaus haben wir keinen Vorteil von der CMM-Auszeichnung unserer Partner, denn wir orientieren uns bei der Arbeitsverteilung und der Prozessgestaltung an dem, was wir hier tun." Dagegen nutzte die Cendant Corp. aus Parsippany, New York, die Dienste eines Level-5-Outsourcers, um die Abläufe in der eigenen IT-Organisation zu verbessern. "Wir haben erkannt, dass wir unsere Anforderungen genauer definieren müssen", sagte Helen Cousins, vormals CIO des Unternehmens.

Dennoch warnt Gartner-Analyst Partha Iyengar vor allzu großen Erwartungen, denn CMM-Standards beschreiben, aber verordnen nicht. Sie besagen, "was getan werden muss, aber nicht, wie es getan wird", so der Gartner-Experte. Daher könne ein Anbieter verschiedene Wege wählen, um die Anforderungen zu erfüllen. Ob die richtige Wahl getroffen wurde, um ein konkretes Problem zu lösen, bleibt offen. CMM egal welchen Levels beinhaltet keine Qualitätsgarantien für Ergebnisse.