Two-Speed-IT ist kein Allheilmittel

Warum die IT Sportwagen und LKW zugleich sein muss

29.06.2016 von Elmar Nathe
2014 brachte McKinsey das Buzzword der Two-Speed-IT in Umlauf. Dahinter verbirgt sich der Ansatz, vor dem Hintergrund der Digitalen Transformation die firmeneigene IT zweigleisig fahren zu lassen: Auf der einen Seite die zentrale Unternehmens-IT mit historisch gewachsenen, zuverlässigen Systemen. Auf der anderen eine schnelle, vollkommen autarke IT für digitale Projekte. Kann das auf Dauer gut gehen?

Nein! Zu groß ist die Zahl der Schnittstellen, die die neuen, schnellen Lösungen zur bestehenden IT-Infrastruktur benötigen. Deren Programmierung aber durchläuft den im Unternehmen üblichen, seit Jahren bewährten Prozess. Und so wird der brandneue Sportwagen der innovativen Lösungen häufig durch den unbeirrt sein Höchsttempo fahrenden LKW der bestehenden Prozesse und IT ausgebremst. Und lässt er sich nicht bremsen, fährt er auch schon einmal an die Wand.

Sicher: Die McKinsey-Forderung, im Rahmen der digitalen Transformation eine Startup-Kultur zu entwickeln und in diesem Zusammenhang auch gleich eine neue, schlanke und schnelle IT aufzubauen, hat Bewegung in die deutsche Unternehmens-IT gebracht. Und wer es sich finanziell und personell leisten konnte, hat das empfohlene Prinzip der IT der zwei Geschwindigkeiten bereits im eigenen Unternehmen umgesetzt - oder doch zumindest die ersten Schritte zu seiner Umsetzung unternommen.

Siehe dazu auch: Forresters Abgesang auf die bimodale IT

Neue IT auf der grünen Wiese für viele zu kostspielig

Und genau das ist die Crux der Thematik: bei weitem nicht jedes Unternehmen kann es sich leisten, eine zweite IT-Organisation - mit einer nicht unerheblichen Zahl an Redundanzen und organisatorischem Überbau - auf die grüne Wiese zu setzen. Im Klartext bedeutet das: die meisten Unternehmen müssen sich Alternativen einfallen lassen, um auch mit einem überschaubaren Budget künftig Digitalisierungsprojekte erfolgreich umsetzen zu können.

Hinzu kommt: die gewachsene, aber auch bewährte IT wird auch weiterhin benötigt, denn sie deckt viele Basisaufgaben im Unternehmen ab und ist in der Lage, Daten aus den verschiedensten Bereichen zu konsolidieren. Daten, die auch die neuen Systeme früher oder später benötigen. Das bedeutet: IT-Verantwortliche müssen sich ohnehin Gedanken darüber machen, wie sie die gewachsene IT in ihrer Liefergeschwindigkeit beschleunigt.

Digitalisierung: 8 Tipps für das Change Management und den Rollout
Wie Sie Mitarbeiter für die digitale Transformation begeistern
Die Analysten von IDC geben Tipps, wie die Digtialisierungsstrategie von CDO und CIO in kurz-, mittel- und langfristigen Schritten geplant werden sollte. Der Fokus richtet sich dabei auf den Faktor Mensch, denn nur mit motivierten Mitarbeitern wird die digitale Transformation ein Erfolg.
Tipp 1: Prozesse überprüfen
Schritt 1 - kurzfristige Maßnahmen: Durchleuchten Sie die aktuellen Digitalisierungsinitiativen. In welchem Maß erfordern diese Projekte Veränderungen an den organisatorischen Abläufen, den Arbeitsprozessen und der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen?
Tipp 2: Bedenken der Mitarbeiter sondieren
Schritt 2 - kurzfristige Maßnahmen: Besprechen Sie gemeinsam mit den Abteilungsleitern, welche Bedenken die Mitarbeiter hinsichtlich der Veränderungen haben könnten.
Tipp 3: Sorgen der Mitarbeiter adressieren
Schritt 3 - kurzfristige Maßnahmen: Überlegen Sie, wie die möglichen Sorgen der Mitarbeiter hinsichtlich der Veränderungen durch Kommunikationsmaßnahmen angesprochen werden können.
Tipp 4: Fokusgruppen bilden
Schritt 1 - mittelfristige Maßnahmen: Führen Sie für künftige Digitalisierungsinitiativen, die organisatorische Veränderungen zur Folge haben, Fokusgruppen oder Interviews mit Mitarbeitern ein, um deren Bedenken kennenzulernen.
Tipp 5: Kommunikationsstratiegie ausarbeiten
Schritt 2 - mittelfristige Maßnahmen: Prüfen Sie die Möglichkeiten, wie die interne Kommunikation für künftige Rollouts eine Kommunikationsstrategie gestalten kann, um diese Bedenken zu adressieren.
Tipp 6: Mitarbeiter motivieren
Schritt 3 - mittelfristige Maßnahmen: Überlegen Sie, wie Sie durch die Einbindung der Mitarbeiter in den Planungsprozess deren Engagement im Vorfeld des Rollouts gewinnen können.
Tipp 7: Mitarbeiter schulen
Schritt 1 - langfristige Maßnahmen (12 bis 24 Monate): Bauen Sie ein gutes Verhältnis zur internen Kommunikation und zur Personalabteilung auf. Prüfen Sie die Möglichkeiten, wie diese Abteilungen mit Kommunikation und Mitarbeitertraining die menschliche Komponente der digitalen Transformation flankieren können.
Tipp 8: Budget prüfen
Schritt 2 - langfristige Maßnahmen: Identifizieren Sie mögliche Auswirkungen dieser menschlichen Komponente innerhalb der digitalen Transformation auf das Budget. Suchen Sie Unterstützung bei der Rechtfertigung zusätzlicher Mittel, um die Akzeptanz der Mitarbeiter im Rahmen eines Digitalisierungsprojekts effektiv sicherzustellen.

Kundenanforderungen als Ausgangspunkt

Ein neues Geschäftsmodell auf Basis einer schnellen IT aufzubauen - gegen diesen Gedanken ist im Prinzip erst einmal nichts einzuwenden. Wenn aber die finanziellen und personellen Ressourcen dafür fehlen, braucht es einen differenzierenden Ansatz zur Gestaltung der Two-Speed-IT. Doch wie legt man fest, welche Aufgaben von der schnellen IT beziehungsweise von der sicheren IT übernommen werden sollen?

Ein möglicher Ansatz ist es, die Business Capabilities oder Geschäftsfähigkeiten zu identifizieren, die für das Umsetzen der digitalen Strategie am wichtigsten sind. Der Weg dorthin führt über so genannte Customer Journeys, bei denen der Projektverantwortliche in die Haut des Kunden schlüpft, um das eigene Unternehmen mit dessen Augen zu sehen und zu erleben. Dies gilt vor allem für die möglichen Kontaktpunkte in der digitalen Welt. Dabei werden in der Regel eine ganze Reihe von Stärken und Schwächen aufgedeckt.

Vorgehen bei der Umsetzung einer Customer Journey:

Auch wenn das Identifizieren der Geschäftsfähigkeiten ein alter Hut sein mag: in der Regel wird es von den wenigsten Unternehmen konsequent vorgenommen. Erst damit jedoch wird sichtbar, welche Geschäftsfähigkeit von einem Digitalisierungsprojekt betroffen ist. Und dies ist eine wichtige Grundlage für die Entscheidung, mit welcher IT die Aufgabe umgesetzt werden soll - der schnellen oder der nachhaltigen.

Kriterien der Service-Klassifizierung

Wurden die wichtigsten Business Capabilities identifiziert, führt die Präzisierung der dazugehörigen Epics ganz automatisch zu einer Zuordnung in der Umsetzung: jede von ihnen wird alternativ den schnellen oder den sicheren IT-Services zugeordnet. Um die Business Capabilities klar zuordnen zu können, müssen diese im Vorfeld klassifiziert werden. Kriterien zur Klassifizierung können beispielsweise sein:

Neue Geschäftsfähigkeiten, die zur Implementierung der digitalen Transformation notwendig sind, werden in der Regel nach dem Muster der schnellen IT umgesetzt. Deren Kennzeichen: agile Vorgehensweisen, leichtgewichtige Architekturen, lose gekoppelte Integrationsmechanismen, schlanke Laufzeitumgebungen. Bei bestehenden Geschäftsfähigkeiten stehen dagegen Einzelfallentscheidungen an: je nach fachlichem Änderungsbedarf muss festgelegt werden, wie der benötigte IT-Service bereitgestellt werden kann. Alternativ werden dazu die bestehenden Services modernisiert oder aber in der schnellen IT komplett neu aufgebaut.

Weg mit altem Plattformdenken: Microservices statt Monolith

Ist die Transformationsplanung der Services abgeschlossen, muss im nächsten Schritt über die technische Realisierung entschieden werden. Wichtig dabei ist es, altes Plattformdenken abzulegen. Nicht jede neue Lösung muss in die bestehende SAP-Landschaft integriert werden.

Die IT-Architektur ist in vielen Unternehmen heute noch weithin durch Software-Monolithen geprägt. Für die Integration von Anwendungen und Daten sind zwar auch hier die Prinzipien der losen Kopplung eingeführt worden (beispielsweise durch eine SOA-Initiative); doch trotzdem fällt der digitale Wandel schwer. Denn die Änderungen betreffen - auch wenn scheinbar nur ein abgegrenzter IT-Service betroffen ist - eine komplette monolithische Anwendung wie beispielsweise ein stabiles SAP- oder Mainframe-System.

Hier jedoch sind - zur Wahrung der Systemstabilität - die vorgeschriebenen Prozesse im Änderungsfall sehr festgefahren und langwierig. Daher kommt die sichere IT bei der Unterstützung sich häufig ändernder Geschäftsfähigkeiten nur selten zum Zuge.

Für die Umsetzung von Business Capabilities, die einem häufigen Wandel unterliegen, sind schnelle IT-Services, eingebettet in eine kleinteilige Microservice-Architektur, gefragt. Sie sind abgekoppelt und damit ohne Risiko für die anderen Systeme im Unternehmen.

Bei diesem Architekturstil wird die Funktionalität des Gesamtsystems über verschiedene, vollkommen autonome Services abgebildet. Dabei wird jeder Service für einen bestimmten fachlichen Anwendungsfall oder eine andere Business Capability entwickelt, deren Erfordernisse er vollständig alleine abdeckt. Aufgrund ihrer Autonomie beziehungsweise untereinander nur sehr losen Koppelung können solche Lösungen auch nachträglich schnell und beliebig oft geändert, ja sogar ausgetauscht werden.

Fazit: Eine IT der zwei Geschwindigkeiten (bimodale IT) ist für die meisten Unternehmen aus finanziellen Gründen nicht umsetzbar und kann schon in einem Zeithorizont von zwei bis drei Jahren zu erste Problemen in Hinblick auf Wartbarkeit und Nachhaltigkeit führen. Schließlich wird in der neuen IT kaum mehr dokumentiert. Der goldene Mittelweg besteht darin, nur die Geschäftsfähigkeiten, die für die Umsetzung der digitalen Transformation von Bedeutung sind und deren Parameter einem häufigen Wandel unterliegen, durch schnelle Micro Services zu unterstützen. Dies immer vor dem Hintergrund, diese Dienste bei einem dauerhaften Erfolg des Geschäftsmodells in die gewachsene IT-Landschaft zu integrieren. Letztere muss gleichzeitig entkoppelt und beschleunigt werden und sich agile Arbeitsweisen zu eigen machen.

Erfolgreich ist am Ende, wer bei der Umsetzung der digitalen Strategie Business-orientiert und feingranular vorgeht. Die Transformation der Customer Journeys und die klare und durchgängige Verbindung von Geschäftsfähigkeiten und IT-Services bietet die Alternative zum berühmten "Holzhammer", schnelle und sichere IT zusammenarbeiten zu lassen. (wh)

Leseempfehlung:

"A two-speed IT architecture for the digital enterprise"; by Oliver Bossert, Chris Ip, and Jürgen Laartz, McKinsey&Company, Dezember 2014