Die sieben Phasen des Informatikerlebens

Vom naiven Entwickler zum abgebrühten Projektleiter

27.01.2011 von Alexander Knecht und Jürgen Lind
Zwei erfahrene Softwarearchitekten schildern ihr Leben in der IT: Wie sie wissbegierig und naiv als Softwareentwickler begonnen haben und dann Schritt für Schritt zum abgebrühten Projektleiter wurden.

1. Die naive Phase

Foto: Christine Gerhardt/Fotolia.de

Zu Beginn der Arbeit im Projektgeschäft befindet sich das Individuum in der naiven (verstanden als gebürtig, ursprünglich) Phase, in der für ein Individuum alles neu und interessant erscheint. Es nimmt an, dass Projekte so stattfinden, wie es in Vorlesungen und Büchern beschrieben wird: Solange man den Anweisungen folgt, sind keine größeren Probleme zu erwarten. Das Vertrauen in die erfahrenen Kollegen und Projektleiter ist groß nach dem Motto: "Die wissen, was sie tun, und werden mich an ihrem reichhaltigen Wissen, immer das Richtige zu tun, teilhaben lassen.”

2. Die absorbierende Phase

Nach dieser initialen Phase der Begeisterung setzt meist Zweifel an den bisher erworbenen, eigenen Fähigkeiten ein; das Individuum beginnt, möglichst viele Informationen aufzunehmen. "Ja, es gibt noch viel mehr Informationen als in den Vorlesungen und im täglichen Geschäft gelehrt werden" - dazu gehören vor allem fachfremde Informationen, häufig aus der Psychologie und der Philosophie. Als Begleiterscheinung dieser Fremdstudien folgt die Erkenntnis, dass es in anderen Fachrichtungen ebenfalls viele offene Fragen gibt, deren Lösungen für den eigenen Erkenntnisgegenstand - also die Realisierung von Softwareprojekten - relevant wären. Das Ende der absorbierenden Phase wird meist durch einen Sättigungseffekt eingeläutet. Gleichzeitig entwickelt sich der Gedanke, dass es doch eine einfache, allgemeine Lösung geben muss, die bisher noch kein anderer entdeckt hat. Dieses Wissen und die sich daraus ergebende vermeintliche Lösung muss umgehend der Umgebung mitgeteilt werden- die dogmatische Phase beginnt.

3. Die dogmatische Phase

In dieser Phase hat die Reflexion über die bisher aufgenommenen Informationen noch nicht eingesetzt, Wissen wird ungefiltert als Wahrheit angenommen. Gedanken wie "Jetzt, da ich alle Informationen habe, weiß ich, wie es geht” und "Alle anderen sehen es nicht, insbesondere die älteren Kollegen sind beratungsresistent und wollen mein Wissen nicht” sind in dieser Phase weit verbreitet. Insgesamt ist die dogmatische die für die Umwelt anstrengendste Phase, da die Individuen in ihr alle wichtigen und unwichtigen Entscheidungen in aller Tiefe ausdiskutieren möchten und ihr umfangreiches Wissen entsprechend gewürdigt sehen wollen. Einwände von erfahrenen Kollegen werden oft als Genörgel interpretiert und zurückgewiesen; das neue Wissen ist natürlich das Maß aller Dinge. Als Fehlentwicklung in der dogmatischen Phase kann es in vereinzelten Fällen zum Übergang in das ignorante Stadium kommen. Die dogmatische Phase ist aber nicht nur für die Umwelt, sondern auch für das Individuum kräfteraubend - ist sie doch vom Gefühl begleitet, gegen alle Wände zu rennen. "Die Wahrheit ist hier, ihr müsst sie nur sehen”, möchte man schreien. "Warum hört keiner auf mich?” Dazu kommt, dass die dogmatische Phase in der Regel auch die längste ist. Das mag damit zusammenhängen, dass das Anerkennen der Realität oft mit großen Schmerzen verbunden ist und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einhergeht.

Die sieben Phasen im Leben eines Informatikers
Zwei erfahrene Softwarearchitekten schildern ihr Leben in der IT: Wie sie wissbegierig und naiv als Softwareentwickler begonnen haben und dann Schritt für Schritt zum abgebrühten Projektleiter wurden.
1. Die naive Phase
Zu Beginn der Arbeit im Projektgeschäft befindet sich der Softwareentwickler in der naiven Phase, in der für ihn alles neu und interessant erscheint.
2. Die absorbierende Phase
Nach der anfänglichen Begeisterung setzt der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten ein. Das Individdum beginnt, möglichst viele, auch fachfremde Informationen aufzunehmen. Das geht einher mit der Erkenntnis, dass es auch in anderen Fachgebieten viele offene Fragen gibt, deren Lösung für die Realisierung des Softwareprojektes auch relevant wäre. Das Suchen nach der allgemeinen einfachen Lösung beginnt.
3. Die dogmatische Phase
Das neue Wissen wird zum Maß aller Dinge, zur ungefilterten Wahrheit. Einwände von Kollegen werden ignoriert. Man ist überzeugt, die Lösung gefunden zu haben und empört sich, dass einem keiner zuhört.
4. Die resignative Phase
"Was tue ich hier überhaupt?" oder "Ich könnte genausogut Schafe hüten" sind typische Gedanken dieser Phase. Man fühlt sich mit seinem Wissen zurückgewiesen.
5. Die pragmatische Phase
In dieser Zeit hat das Individuum Zugriff auf das zuvor erworbene Wissen, ohne diesem den Status von absoluter Wahrheit zuzugestehen. Je nach Lage werden die gelernten Prinzipien angewendet oder nicht. Alles kommt auf den Prüfstand und wird danach bewertet, ob es dem Projekterfolg dient oder nicht. In dieser Phase setzt häufig auch eine gewisse Zufriedenheit mit dem bisher Erreichten ein: Insbesondere das Gefühl, autonome Entscheidungen treffen zu können, ist sehr befriedigend.
6. Die agnostische Phase
Beim Individuum hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass komplexe Probleme auch komplexe Lösungen bedingen und dass die meisten der als Allheilmittel gefeierten Frameworks oder Vorgehensmodelle oft für die Praxis untauglich oder unzureichend sind.Insgesamt lässt sich die Grundhaltung in der agnostischen Phase wie folgt zusammenfassen: "Hatten wir alles schon, ist sowieso immer alles das Gleiche, es gibt keine Lösung, ist aber auch egal.”
7. Die buddhistische Phase
Für Softwarearchitekten stellt vor allem die Begierde auf der Suche nach der allgemeinen Lösung das eigentliche Problem dar. Denn: Es gibt keine einfache Lösung und jedes Streben danach verursacht nur weiteres Leid bei einem selbst und bei anderen Projektbeteiligten. Nur durch das Anerkennen dieser natürlichen Grenze - und durch das saubere Anwenden von ingenieurmäßigen Prinzipien - kann ein Zustand der inneren Ruhe erreicht werden. Eine typische Redewendung für diese Phase lautet: "Das machen wir erst mal so, wir wissen sowieso nicht, was noch kommt, wenn sich etwas ändert, ändern wir es eben auch.”

4. Die resignative Phase

"Was tue ich hier überhaupt?” oder "Ich könnte genauso gut Schafe hüten”, sind für diese Phase typische Gedanken. Aus der gefühlten Zurückweisung des eigenen Wissens erwächst eine Ablehnung der Umwelt und aus der gedanklichen Beschäftigung mit dem Erkenntnisgegenstand kristallisiert sich die Vorstellung eines Teufelskreises aus Versuch und Scheitern. Der Gedanke, immer und immer wieder die gleichen Fehler zu machen, ohne dass es eine Lösung gibt, wird übermächtig. Jede Suche nach einer Lösung gleicht der Arbeit des Sisyphos; das unvermeidliche Scheitern kurz vor dem Ziel ist zermürbend.

5. Die pragmatische Phase

Doch auch die resignative Phase hat ein Ende und führt zu der mitunter produktivsten: der pragmatischen Phase. In dieser Zeit hat das Individuum Zugriff auf das zuvor erworbene Wissen, ohne diesem den Status von absoluter Wahrheit zuzugestehen. Je nach Lage werden die gelernten Prinzipien angewendet oder nicht. Alles kommt auf den Prüfstand und wird danach bewertet, ob es dem Projekterfolg dient oder nicht. In dieser Phase setzt häufig auch eine gewisse Zufriedenheit mit dem bisher Erreichten ein: Insbesondere das Gefühl, autonome Entscheidungen treffen zu können, ist sehr befriedigend.

6. Die agnostische Phase

Die agnostische Phase ist eine direkte Weiterentwicklung der pragmatischen Phase. Der Agnostizismus vertritt die philosophische Ansicht, dass bestimmte Annahmen entweder ungeklärt, grundsätzlich nicht zu klären oder für das Leben irrelevant sind. Für den Software-Architekt bedeutet das, dass es keine allgemeine Lösung gibt, dass Lösungen für einzelne Probleme aber durchaus möglich sind. Insbesondere hegen Individuen in dieser Phase eine erhöhte Skepsis gegenüber den oft angepriesenen "Silver Bullets”, also einfachen Lösungen für komplexe Probleme.

Beim Individuum hat sich - im Gegensatz zur dogmatischen Phase - die Erkenntnis durchgesetzt, dass komplexe Probleme auch komplexe Lösungen bedingen und dass die meisten der als Allheilmittel gefeierten Frameworks oder Vorgehensmodelle oftmals für die Praxis untauglich oder unzureichend sind. Das mit dieser Erkenntnis einhergehende Selbstvertrauen ermöglicht es dem Softwarearchitekten, diese Meinung öffentlich zu vertreten, ohne sofort in Selbstzweifel zu verfallen. Insgesamt lässt sich die Grundhaltung in der agnostischen Phase wie folgt zusammenfassen: "Hatten wir alles schon, ist sowieso immer alles das Gleiche, es gibt keine Lösung, ist aber auch egal.”

7. Die buddhistische Phase

Hass und Verblendung und Begierde gelten in der buddhistischen Lehre als Geistesgifte. Für Softwarearchitekten stellt vor allem die Begierde auf der Suche nach der allgemeinen Lösung das eigentliche Problem dar. Denn: Es gibt keine einfache Lösung und jedes Streben danach verursacht nur weiteres Leid bei einem selbst und bei anderen Projektbeteiligten. Nur durch das Anerkennen dieser natürlichen Grenze - und durch das saubere Anwenden von ingenieurmäßigen Prinzipien - kann ein Zustand der inneren Ruhe erreicht werden. Eine typische Redewendung für diese Phase lautet: "Das machen wir erst mal so, wir wissen sowieso nicht, was noch kommt, wenn sich etwas ändert, ändern wir es eben auch.”

Mit anderen Worten: In der buddhistischen Phase ist das Individuum in der Lage, unsichere Situationen auszuhalten und gleichzeitig Ruhe und Zuversicht im Team zu verbreiten; die Gedanken sind auf die aktuelle Situation gerichtet und nutzen das Wissen aus vergangenen Projekten, ohne sie zur ultimativen Richtschnur zu erheben. Ebenso wenig gibt es ein durch nichts zu rechtfertigendes Vertrauen in zukünftige, einfache Lösungen. "Laufe nicht der Vergangenheit nach und verliere dich nicht in der Zukunft. Die Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht gekommen. Das Leben ist hier und jetzt." Warum nicht gleich so?

Alexander Knecht ist freiberuflicher Softwarearchitekt mit den Schwerpunkten Anwendungsarchitekturen, modellbasierte Softwareentwicklung, Content-Management und Web-Anwendungen. Dr. Jürgen Lind ist bei der Münchner Iteratec GmbH als Softwarearchitekt tätig und beschäftigt sich dort mit Architekturen für komplexe Anwendungen.