VoIP mischt Festnetztelefonie auf

24.08.2005 von Jürgen Kotschenreuther
Voice-over-IP-Angebote (VoIP) setzen die klassische Telefonie zunehmend unter Druck. Die Telekommunikationskonzerne müssen entweder mit auf den Zug springen oder sich neue Festnetzangebote einfallen lassen.

Hier lesen Sie...

  • warum VoIP die klassische Festnetztelefonie wirtschaftlich gefährdet;

  • mit welchen Strategien die Festnetzbetreiber kontern;

  • wie die Politik den Markt zu regulieren versucht.

Seit drei Jahren sprechen die Telefonkunden immer weniger im Festnetz. Doppelt bitter für die Telekom, weil auch immer mehr Kunden die Angebote der Wettbewerber nutzen.

Das Geschäft mit klassischer Telefonie im Festnetz hat offenbar seine Grenzen erreicht. Hielten sich die schmalbandigen Telefonate - über Wählverbindungen der Analog- und ISDN-Anschlüsse - 2002 noch auf dem Niveau des Vorjahres, ging es 2003 mit einem Verbindungsvolumen von 344 Milliarden Minuten bereits bergab. Dieser Trend setzte sich 2004 mit einem Rückgang auf 326 Milliarden Minuten fort. Vor allem die Deutsche Telekom hatte in diesen Jahren kräftige Einbußen zu beklagen, während die Wettbewerber zumindest noch leichte Zuwächse verzeichneten. Der Ex-Monopolist büßte allein zwischen 2001 und 2004 rund ein Viertel seines Minutenvolumens ein.

Stagnation und Rückgänge im Festnetz sind im Wesentlichen auf den Aufschwung des Mobilfunks zurückzuführen. Die zunehmende Breitbandvernetzung könnte den Trend verstärken. Darüber hinaus hat der härtere Wettbewerb für sinkende Minutenpreise und Margen gesorgt. Damit hat die Festnetztelefonie an Bedeutung als Umsatz- und Profiterzeuger eingebüßt.

Nicht genug, dass Mobilfunk und Breitbandkabel das Festnetz bedrohen. Mit Internet-Service-Providern (ISPs) wie beispielsweise AOL, Freenet und United Internet oder auch Newcomern wie Sipgate und Skype formieren sich weitere Angreifer, die sich mit aggressiven Angeboten Anteile am milliardenschweren Telefonie-Massenmarkt sichern wollen. Ihre Strategien haben einen gemeinsamen Nenner: VoIP.

Die großen ISPs wollen offenbar die Wertschöpfungsketten ausbauen und sich als Virtual Network Operator (VNO) mit direktem Kundenzugang etablieren. Erklärtes Ziel der deutschen AOL in Hamburg ist es beispielsweise, vom ehemals reinen Internet-Provider zum Komplettanbieter breitbandiger Festnetzdienste zu avancieren. Anfang April dieses Jahres wurde der Sprachtelefondienst "AOL Phone" aktiv, der nicht nur den eigenen Kunden, sondern allen Interessenten zur Verfügung steht. AOLs Deutschland-Chef Stan Laurent machte unmissverständlich klar, "führender Anbieter von digitalen Diensten und Telekommunikation" werden zu wollen: "Internet-Telefonie wird die bisherige Festnetztelefonie auf lange Sicht ablösen."

Die Telekom bekommt Probleme

Die Deutsche Telekom sowie die alternativen Carrier beziehungsweise Access-Provider müssen sich also mit neuen Konkurrenten herumschlagen. Die größte Sorge der etablierten Telefonieanbieter dürfte sein, dass VoIP den traditionellen Telefondienst in die Ecke drängen könnte. Ferner könnten sich langfristige Investitionen in leitungsvermittelte Sprachnetze und andere Infrastrukturen als verfehlt erweisen.

Glossar

Voice over IP (VoIP) ist ein Dienst, der auf Basis des Internet Protocol die Sprachübertragung über ein paketvermitteltes Datennetz erlaubt. Dabei kann es sich um das Internet oder gemanagte IP-Netze handeln. Die Nutzung von VoIP-Diensten setzt einen breitbandigen Internet-Anschluss voraus.

Auf die Gefahren, die sich für die Deutsche Telekom, alternative Carrier und Call-by-Call-Anbieter ergeben, weist zum Beispiel die Deloitte-Studie "Am Start - Auswirkungen von Voice over IP auf den deutschen Telekommunikationsmarkt" hin, die Anfang August veröffentlicht wurde.

Nach Einschätzung von Andreas Gentner, Partner bei Deloitte, muss sich die Deutsche Telekom damit auseinander setzen, dass Eintrittsbarrieren durch VoIP aufgebrochen und Wertschöpfungsketten neu gegliedert werden. Eine große Gefahr sei die mögliche Kannibalisierung des klassischen Telefonieangebots der T-Com-Sparte durch die VoIP-Strategie der Konzernschwester T-Online.

Die größte Gefahr für den ehemaligen Monopolisten sei jedoch, dass die Telefonkunden zu einem konkurrierenden Anbieter wechseln. Deloitte schätzt, dass bis zu 30 Prozent der Privatnutzer ihren Anschluss zugunsten eines Breitbandanschlusses mit VoIP kündigen werden.

Die Leitung ist Trumpf

Noch halten der Konzern sowie die anderen Netzbetreiber jedoch einen entscheidenden Trumpf in der Hand: Sie verfügen über den Leitungsanschluss zum Kunden - und ohne Leitung geht nichts. Durch die regulatorische Vorgabe der Koppelung von Endkundenzugang und Sprachtelefonievertrag ist diese Konstellation noch geschützt.

Für die alternativen Carrier und Access-Provider fürchtet Gentner ebenfalls erhebliche Marktanteils- und Umsatzeinbußen durch VoIP. "Das Geschäftsmodell der Anbieter ohne eigene Netzinfrastruktur basiert im Wesentlichen auf der Marge zwischen Interconnection-Kosten und Endkundenpreis. Sofern VoIP-Anbieter mit Telefonie zum ,Nulltarif’ auf den Markt drängen, werden die alternativen Carrier große Anstrengungen unternehmen müssen, um ihre typischerweise preissensitiven Kunden halten zu können."

Reaktion: Preise steigen

Doch die etablierten Festnetzbetreiber haben längst damit begonnen, ihr klassisches Telefoniegeschäft abzusichern und Zukunftsstrategien zu entwickeln. Dazu gehören zum Beispiel die Transformation leitungsvermittelter Netze zu konvergenten, breitbandigen und multimedialen IP-Netzen und die Entwicklung von Breitbanddiensten, die von VoIP über kombinierte Produkte wie beispielsweise Videotelefonie bis hin zu hochwertigen Premium-Diensten reichen.

Die Deutsche Telekom hat zudem in den vergangenen Jahren nahezu unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit die Grundgebühren für den Telefonanschluss kräftig erhöht, allein 2004 waren es rund sechs Prozent. Die Konsumenten haben diese Strategie bislang ohne lautes Murren akzeptiert. Auch die politische Seite mit der Regulierungsbehörde stützte diesen Kurs. Nur so lässt sich erklären, warum im vergangenen Jahr trotz des Rückgangs des Minutenvolumens die Umsätze unter dem Posten Leistungen für Festnetzanschlüsse von 21 Milliarden Euro 2001 auf 23 Milliarden Euro 2004 stiegen.

Zwar stiegen die Festnetzumsätze der Telekom in den vergangenen Jahren. Dies ist aber allein auf die erhöhten Grundgebühren zurückzuführen.

Ein kluger Schachzug des Konzerns war es ferner, den DSL-Anschluss nur in Kombination mit dem Telefonanschluss und Telefondienst zu vermarkten, auch wenn Letzterer gar nicht nachgefragt wird. Mit den beiden Maßnahmen - Gebührenerhöhung und Bündelung - hat sich der Ex-Monopolist vorläufig hohe Einnahmen gesichert.

Ein Risiko für die Telekom bleibt allerdings eine ab dem 1. Juli 2008 mögliche Entbündelung durch den Regulierer. Daher bestehe die größte Herausforderung darin, einen Premium-Aufschlag für klassische Sprachtelefonie im Vergleich zur kostengünstigeren IP-Telefonie durchzusetzen, meinen die Analysten von Deloitte. "Eine Premium-Gesprächsgebühr kann die Deutsche Telekom aber nur dann begründen, wenn sie dem Endkunden Dienstleistungen und Services anbieten kann, die er via VoIP nicht bekommt. Diese Premium-Dienste sind derzeit jedoch nicht sichtbar."

Die Wettbewerber der Deutschen Telekom im Festnetz wie beispielsweise Arcor, Colt oder QSC sehen dem Angriff der VoIP-Service-Provider recht gelassen entgegen. Sie fühlen sich gut präpariert und haben größtenteils eigene VoIP-Angebote entwickelt. Arcor mit rund sechs Prozent Anteil am etwa 27,1 Milliarden Euro schweren Festnetzmarkt in Deutschland hat seinen VoIP-Dienst im April dieses Jahres gestartet. Der hiesige Arcor-Chef Harald Stöber, zugleich Vizepräsident des Verbands der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM), lehnt eine separate VoIP-spezifische Regulierung ab. Es müssten lediglich die für den Telefonmarkt geltenden Regeln auf VoIP übertragen werden. Die Vorleistungspreise für Teilnehmeranschlussleitungen müssten so reguliert werden, dass sich in Deutschland ein vitaler Breitbandwettbewerb entfalten könne.

Auch die Regional- und City-Carrier werden in Sachen VoIP zunehmend aktiv. So hat der Bundesverband der regionalen und lokalen Telekommunikationsgesellschaften (Breko), in dem Betreiber wie beispielsweise die mittlerweile zu Telecom Italia gehörende Hansenet, Netcologne, Mnet, Ewe Tel, Versatel und Tropolys zusammengeschlossen sind, Ende Juni ein Bekenntnis zu der neuen Technik abgegeben. "VoIP ist keine Gefahr für die Teilnehmernetzbetreiber, sondern eine Möglichkeit zur Innovation", ließ Hansenet-Chef Harald Roesch wissen. Voraussetzung sei allerdings eine konsistente und auf unterschiedliche Wettbewerbsformen ausgerichtete Regulierung. Bedroht sieht der Verband eher die Call-by-Call-Anbieter, da für die Teilnehmernetzbetreiber die Interconnection-Gebühren nicht so entscheidend sind wie für die Verbindungsnetzbetreiber.

Politik in der Zwickmühle

Die klassischen auf Call-by-Call spezialisierten Verbindungsbetreiber müssen sich angesichts des harten Preiswettbewerbs neue Verdienstmöglichkeiten einfallen lassen. So entwickelt sich beispielsweise 3U Telecom systematisch vom klassischen Verbindungsnetzbetreiber zum Netzdienste-Anbieter für Privat- und Geschäftskunden.

VoIP versus Sprachtelefonie

• Über zwölf Prozent aller internationalen Gespräche aus Deutschland liefen laut Deloitte im vergangenen Jahr über VoIP.

• Rund 14 Prozent der deutschen Unternehmen nutzen nach Einschätzung der Marktforscher VoIP.

• Das Potenzial von Kunden, die VoIP statt dem Festnetz nutzen können, liegt in der Größenordnung von etwa 33 Prozent der heutigen Pre-Selection- und Call-by-Call-Telefonierer - Tendenz steigend.

• Die Kosten für die Sprachübertragung in IP-Netzen beziehungsweise via Internet liegen weit unter denen für die Übertragung in traditionellen leitungsvermittelten Telefonnetzen. Analysen zeigen, dass sich bis zu 93 Prozent Vermittlungskosten und zwischen 50 und 94 Prozent Übertragungskosten einsparen lassen.

Die politische Seite steht innerhalb dieses Kräftespiels vor der Herausforderung, auf der einen Seite Innovationen, Investitionen und Wachstum zu stimulieren und dazu die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen. Auf der anderen Seite müssen die Regulierungsbehörden darauf achten, dass die Festnetzgrößen ihre Macht nicht monopolistisch auf den DSL-gestützten VoIP-Markt übertragen können.

Problematisch ist, dass in Sachen Festnetz fast nichts ohne die letzte Meile der Deutschen Telekom geht. Etwa 95 Prozent aller von Wettbewerbern bereitgestellten Anschlüsse beruhten 2004 auf gemieteten Telekom-Leitungen. Wünschenswert im Sinne eines vermehrten Wettbewerbs wären mehr alternative Zugangsnetze und Autonomie der Wettbewerber bei der Gestaltung von Serviceangeboten.

Mit Blick auf die Preise für die Teilnehmeranschlussleitung und deren Derivate wie beispielsweise Line Sharing bleibt daher die Zugangsregulierung wichtig. Die Bundesnetzagentur kann im Rahmen des neuen Telekommunikationsgesetzes die Deutsche Telekom verpflichten, Netzkomponenten auch anderen Anbietern nutzbar zu machen. Erforderlich sind hierzu standardisierte Netzzugangsschnittstellen auf IP- und ATM-Ebene. Zudem kann die Behörde ab dem 1. Juli 2008 die Deutsche Telekom zum "entbündelten" Resale von Anschlüssen verpflichten. Dann würden die Karten neu gemischt. (ba)