VoIP-Hersteller beseitigen zahlreiche Kinderkrankheiten

12.12.2001 von Jürgen Hill
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Einer der Themenschwerpunkte auf der Netzmesse Exponet 2001 in Köln war die Konvergenz von Telekommunikations- und DV-Welt. Die Verschmelzung beider auf IP-Basis soll in Zeiten leerer Kassen nicht nur die Total Cost of Ownership reduzieren, sondern gleichzeitig die Effizienz der Geschäftsprozesse steigern. Dies versprechen zumindest die Hersteller mit der zweiten Generation ihrer VoIP-Lösungen.

Um den Wahrheitsgehalt ihrer Marketing-Slogans in der Praxis zu beweisen, hatten Hersteller wie 3Com, Nortel Networks, Tenovis oder Cisco auf der Exponet IT-Telefonanlagen der zweiten Generation im Gepäck. Anlagen, mit denen die Hersteller dem Anwender nicht mehr wie in den Hype-Zeiten der IP-Telefonie Kosteneinsparungen aufgrund der Nutzung einer anderen Infrastruktur versprechen. Kritisch zurückblickend bekennt Claus Winhard, Senior Network Consultant bei 3Com, dass die Herstelleraussagen zu Beginn der VoIP-Euphorie Unsinn waren.

Ausfallsicherheit verbessert

Offen räumen die Anbieter nun ein, dass den Anwender die Anschaffung einer IP-Telefonanlage mit den entsprechenden Systemtelefonen genauso teuer kommt wie die Investition in eine klassische TK-Anlage - oder sogar, wie Karl-Heinz Lutz, Partner-Consultant bei Nortel Networks, ausführt, noch teurer. Im Gegenzug haben die Hersteller dafür in Sachen Ausfallsicherheit aufgeholt und versprechen nun, die aus der TK-Welt bekannten 99,999 Prozent ebenfalls zu erreichen.

Die relativ hohen Anschaffungskosten begründen die Hersteller zudem mit den Zusatzfunktionen der IP-Telefonie. "Denn schließlich wird mit VoIP die seit langem in der klassischen TK-Welt versprochene Computer-Telefonie-Integration (CTI) Realität", so Carsten Queisser, Business Development Manager bei Cisco. In dieser Konvergenz beider Welten sieht auch Tenovis-Manager Steffen Richter den eigentlichen Vorteil von VoIP, "denn wenn Sprache im Netz genauso wie Fax oder E-Mail behandelt wird und die physikalischen Schnittstellen entfallen, wird die CTI- Realisierung einfacher".

Wohin die Integrationsreise gehen könnte, zeigte Cisco auf der Exponet. Der Hersteller hat in seine VoIP-Lösung eine XML-Schnittstelle integriert, so dass auf dem Telefon-Display einfache Applikationen wie eine Rufnummernsuche in einem zentralen Telefonbuch-Server zur Verfügung stehen. Auf dieser Basis, so Cisco-Manager Queisser, sind weitere Anwendungen wie integrierte Terminplaner oder eine automatische Lookup-Funktion, die in einer Datenbank Informationen zum Anrufer sucht, denkbar. Nortel-Consultant Lutz vertritt zudem die These, dass durch die gemeinsame Protokollbasis IP das Unified Messaging einfacher als in der Vergangenheit zu realisieren ist. Ein weiteres großes Einsatzszenario sehen die Anwender in Call-Center-Lösungen auf IP-Basis. An Programmier-Schnittstellen werden je nach Hersteller TAPI, JTAPI, TSAPI oder CSTA unterstützt.

Die Hersteller haben jedoch nicht nur in Sachen Schnittstellen nachgebessert, sondern auch die eigentlichen Telefoniefunktionen überarbeitet. Vermissten die VoIP-Anwender der ersten Stunde noch klassische TK-Features wie Besetztzeichen oder Chef-Sekretärin-Funktion, so sind diese Leistungsmerkmale für die aktuelle Anlagengeneration kein Problem mehr. Ebenso hat die Industrie mittlerweile die wichtigsten ISDN-Features integriert.

Angesichts dieser Mehrwertfunktionen haben die Produzenten eine relativ klar umrissene Zielgruppe vor Augen. Sie sehen als ihre potenzielle Klientel Unternehmen, für die die Telefonie ein Teil ihrer Geschäftsprozesse ist. Sucht eine Firma dagegen nur eine TK-Anlage, um zu telefonieren, dann halten selbst eingefleischte VoIP-Propagandisten eine klassische Vermittlungsanlage für die erste Wahl.

Betriebskosten günstiger

Eine Argumentation, die sich teilweise relativiert, wenn man den TCO-Aspekt betrachtet. So kommen nach Berechnungen von 3Com bei einer klassischen Telefonanlage im Laufe der Nutzungszeit pro Telefon zwischen 1750 und 2500 Dollar Kosten zusammen. Eine IP-Lösung sei hier mit rund 1000 Dollar eindeutig günstiger. Diesen Kostenvorteil begründen die Hersteller vor allem mit zwei Punkten: Zum einen entfielen die Aufwendungen für teure Servicetechniker, um etwa eine Telefonanlage mit neuen Funktionen aufzurüsten, da bei den IP-basierten Geräten lediglich ein Software-Update einzuspielen sei. Zum anderen könne die IP-Telefonie in Sachen Mobilität ihre Vorteile entfalten. Im Gegensatz zur klassischen Telefonanlage ist bei Inhouse-Umzügen der Mitarbeiter keine langwierige Rufnummernumstellung erforderlich, da das IP-Telefon anhand seiner Netzadresse erkannt wird, so dass nur eine Änderung der Routing-Tabelle nötig ist. Unter Kostengesichtspunkten dürfte

für Unternehmen mit Außenstellen, zu denen eine Datenverbindung besteht, ein weiterer Aspekt von Interesse sein. Sie können in den Niederlassungen auf die Telefonanlage verzichten, da die Gespräche der IP-Telefone für das Corporate Network nichts anderes als IP-Pakete sind, die geroutet werden. Dadurch können die Telefone in den Außenstellen ebenfalls die Funktionen der zentralen Vermittlungsanlage nutzen.

Im Vergleich zu den Systemen der ersten Generation haben die Hersteller auch in Sachen Verkabelung dazugelernt. Waren anfangs, entgegen dem Versprechen einer einheitlichen Infrastruktur, noch zwei Netzanschlüsse am Arbeitsplatz für IP-Telefon und Rechner erforderlich, so begnügen sich die aktuellen Endgeräte mit einem Anschluss. In den aktuellen Telefonen ist nämlich in der Regel ein Fast-Ethernet-Switch mit ein oder zwei Ports integriert. Dieser übernimmt je nach Hersteller zudem eine dynamische Bandbreitenzuweisung, um zu verhindern, dass etwa ein Videostreaming die ganze Bandbreite an sich reißt und so ein IP-Telefonat verhindert. Ebenfalls gelöst ist mittlerweile die Anschlussfrage klassischer TK-Geräte wie etwa Faxmaschinen. Für diese sind Adapter erhältlich, die die IP-Daten in Telefonsignale umwandeln.

Problemfall Interoperabilität

Ungeachtet der zahlreichen Verbesserungen hat VoIP noch immer mit einigen Einschränkungen zu kämpfen. So bereitet etwa der Wunsch vieler Unternehmen nach einer Multivendor-Umgebung, um die Abhängigkeit von einem Hersteller zu vermeiden, Probleme. Ähnlich wie bei den klassischen Telefonanlagen kann der Anwender alle Funktionen nur dann nutzen, wenn er zu den Systemtelefonen des Herstellers greift. Theoretisch besteht zwar die Möglichkeit, auf Basis der Standards H.323 und H.350 andere Geräte einzubinden, in der Vergangenheit haben jedoch viele Hersteller eigene, proprietäre Erweiterungen vorgenommen, so dass die Chancen für ein reibungsloses Zusammenspiel in der Praxis eher dürftig sind.

QSIG kleinster Nenner

Ebenfalls noch ein Problembereich ist die Koexistenz von klassischer TK-Welt und neuer IP-Welt, da hier Schwierigkeiten bei der Anlagenvernetzung zu erwarten sind. Zwar unterstützen die Hersteller mittlerweile auf breiter Front das Q-Interface Signalling Protocol (QSIG), doch dieses ist nur der kleinste gemeinsame Nenner, so dass wichtige Zusatzfunktionen nicht anlagenübergreifend verfügbar sind. Einen Ausweg bieten Hybridanlagen, die neben dem IP-Teil noch Gateways in die TK-Welt besitzen.