Arbeiten in der Informationsgesellschaft

Virtuelle Unternehmen: Nichts für Computerfreaks

07.08.1998

Von Ina Hönicke

Im Kampf um Kunden finden sich immer mehr Unternehmen zu virtuellen Verbünden zusammen. Zweck dieser Allianzen ist es, Geschäftschancen zu nutzen, die das einzelne "Netzwerkunternehmen" allein nicht wahrnehmen könnte. Der Ansatz des virtuellen Unternehmens geht weit über bloße Telearbeit hinaus. Virtuelle Firmenverbünde sind ein räumlich verteilter und projektorientierter Zusammenschluß von selbständigen Best-of-Class-Partnern, die ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen. Für den Erfolg dieser virtuellen Zusammenarbeit ist die Umsetzung von Informations- und Kommunikationstechnologie entscheidend. Schon heute gibt es eine ganze Reihe von Herstellern berühmter Markenartikel - von Computern über Spielzeug bis hin zu Turnschuhen -, die ihre Produkte gar nicht mehr selbst fertigen. Statt dessen steuern und kontrollieren kleine, hochqualifizierte Kernbelegschaften die Vergabe von Lizenzen, Know-how und Markenzeichen an Auftragsproduzenten in aller Welt.

Ein gutes Beispiel ist nach Ansicht von Arbeitsmarktexperten die Informatikbranche. Hier zeigt sich bereits, daß hochflexible Verbünde bürokratischen Industriegiganten zunehmend den Rang ablaufen, weil deren Haupthindernis ihre eigene Größe ist.

So haben einst erfolgreiche Newcomer wie Sun Microsystems oder Netscape schon so manche renommierte Branchengröße in beträchtliche Schwierigkeiten gebracht. Viele der jüngeren Informatikunternehmen beschäftigen heute beinahe mehr Subunternehmen und Freelancer als eigene Festangestellte. Der virtuellen Organisationsform bedienen sich mittlerweile Firmen aus allen Branchen.

So haben sich im Rheintal-Bodenseeraum mehrere Betriebe des Maschinenanlagenbaus aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unter dem Dach einer virtuellen Fabrik zusammengetan. Auf diese Weise können sie sich auf Auftragsausschreibungen bewerben, an denen sich jedes einzelne Unternehmen allein kaum beteiligen könnte. In den kommenden zwei Jahren wollen die Partnerfirmen ihr Netz auf bis zu 50 Unternehmen ausbauen.

Für ein besonders gutes Beispiel hält Carsten Kröger, Mitarbeiter der Diebold Deutschland GmbH, die US-Firma Walden Paddlers, die preisgünstige Kajakboote aus recyceltem Kunststoff produziert. Der Clou: Das Unternehmen besteht aus nur einem Angestellten, dem Gründer und Chef Paul Farrow. Von seinem Büro aus steuert er das Netzwerk aus Designern, Zulieferern, Produzenten und Marketing-Unternehmen. Kröger: "Unternehmen wie Walden Paddlers entstehen auf der grünen Wiese, oftmals mit nur wenig Startkapital, aber einer guten Geschäftsidee. Sie bilden den Idealtypus virtueller Unternehmen, weil sie sich echt - nur auf Zeit und rechtlich unabhängig - mit anderen Firmen virtuell zusammenschließen."

Deutscher Vorreiter aus Oberhausen

Bei den bundesdeutschen Großunternehmen wiederum hat die Deutsche Babcock-Gruppe in Oberhausen eine Vorreiterrolle übernommen. Die 1991 gegründete Babcock Dienstleistungs-GmbH (BDL) macht heute mit rund 170 Mitarbeitern einen Umsatz von 65 Millionen Mark. BDL-Geschäftsführer Peter Friedrich: "Virtuell heißt ja im Grunde nicht wirklich existent. Man nutzt eine Organisation, die es in dieser Form eigentlich nicht gibt."

Diese Art der Zusammenarbeit setze voraus, daß die beteiligten Partner vernetzt sind. Bei dem Oberhausener Dienstleister hat man sich für den Einsatz von Lotus Notes entschieden. Allerdings ist nach Ansicht des BDL-Chefs weniger die Technik für den erfolgreichen Einsatz entscheidend als vielmehr die Kultur- und Organisationsänderung im Unternehmen: "Ein virtuelles Unternehmen setzt voraus, daß die Beteiligten in den Firmen lernen umzudenken, daß sie sehr stark abstrahieren können, daß sie mit Partnern in Netzwerken zusammenarbeiten, die sie vielleicht niemals kennenlernen." Dies setze insbesondere Offenheit und Vertrauen gegenüber den Partnern voraus.

Der Einsatz von Lotus Notes, da ist sich Friedrich sicher, hat entscheidend zu einem Kulturwandel in der Babcock-Gruppe beigetragen. Quer über juristische Unternehmensgrenzen und Länder hinweg hat der Dienstleister einen virtuellen Einkauf aufgebaut, der Lieferanten, Babcock-Firmen und Projekte in einem Netz miteinander verbindet. Friedrich: "Wenn ein Unternehmen sich entscheidet, in Netzwerken zu kooperieren, führt das automatisch zu einer Organisationsanpassung. Man muß sich horizontal ausrichten, also kunden- und prozeßnah." Diese Vorgehensweise kollidiere allerdings in den meisten Fällen mit den herkömmlichen Hierarchiestrukturen. Der BDL-Geschäftsführer: "Hier ergibt sich eine gute Gelegenheit, die traditionelle Form der Hierarchie in Frage zu stellen."

Die Idee, sich auftragsbezogen zusammenzuschließen, ist keineswegs neu. Schon lange praktizieren Verlage, Bauunternehmen und Banken auf unterschiedlichen Geschäftsfeldern ähnliche Formen der Kooperation. Der Unterschied zu sonstigen Zusammenschlüssen wie Konsortien oder Joint-ventures besteht indes in der engen, netzwerkartigen Verflechtung, bei der die IT-Systeme eine entscheidende Rolle spielen. Dementsprechend haben alle Partner als Voraussetzung für die virtuelle Zusammenarbeit eine funktionsgerechte IuK-Infrastruktur vorzuweisen.

Probleme bei DV-Systemen

Schließlich müssen sich die informationstechnischen Systeme schnell und flexibel an neue Marktsituationen anpassen lassen und reibungslos - auch mit kurzfristig neu hinzukommenden Partnern - kommunizieren können. Bislang sind E-Mail und Internet bei der virtuellen Organisationsform neben dem Telefon die wichtigsten Kommunikationsmittel.

Daß die Zusammenarbeit der unterschiedlichen DV-Systeme nicht immer problemlos verläuft, weiß der Schweizer Unternehmensberater und Buchautor Marc Ott aus langjähriger Erfahrung. Oftmals würden die IT-Abteilungen von den Virtualisierungsplänen des Managements regelrecht überrascht. Dies sei nicht verwunderlich, denn Neustrukturierungs-Entscheidungen würden auf höchster Ebene, meist ohne Mitwirkung der IT-Manager, gefällt. Demzufolge sehen sich die Betroffenen erst nach der Management-Entscheidung mit der neuen Aufgabe konfrontiert. Ott: "Ein schwieriger Job für IT-Spezialisten, denn die einzelnen Unternehmen besitzen in der Regel unterschiedliche DV-Systeme, benutzen nicht miteinander kompatible Software und haben ihre Daten anders strukturiert."

Neben technischen können aber auch menschliche Schwierigkeiten den Verantwortlichen Schweißperlen auf die Stirn treiben: "In einem virtuellen Zusammenschluß werden eine gan-ze Menge Informationen und Know-how transferiert. Solange die Beziehung stabil ist, ist das auch kein Problem. Doch Partner von heute können morgen unter Umständen wieder erbitterte Mitbewerber werden", so der Schweizer Unternehmensberater. Deshalb kommt seiner Meinung nach der Auswahl der Partner die bei weitem größte Bedeutung zu. So sei es unerläßlich, zunächst einmal die eigenen Stärken und Schwächen zu analysieren. Erst wenn man wisse, in welchen Bereichen man selbst und in welchen der potentielle Mitstreiter "best in class" sei, verspreche die Kontaktaufnahme auch Erfolge.

Nach dem Entstehen einer virtuellen Organisation gelte für alle Beteiligten Offenheit als oberstes Gebot. Deshalb spiele die Wahl der Mitarbeiter ebenfalls eine wichtige Rolle. Diese Spezialisten müßten besondere Anforderungen erfüllen. Neben dem rein fachspezifischen, projektbezogenen Wissen, seien die richtige mentale Einstellung und soziale Kompetenzen, vor allem Teamfähigkeit, gefragt.

Reine Computerfreaks wären für virtuelle Organisationsformen eher wenig geeignet. Doch nicht nur von den Mitarbeitern, auch von den Führungskräften (insbesondere traditioneller Unternehmensformen) wird ein Umdenken verlangt.

Berater Ott: "Für den Erfolg eines solchen Firmenverbunds ist eine Denkweise wichtig, die in den üblichen Wirtschaftsbeziehungen nicht gerade gang und gäbe ist." Sein Resümee: "Virtuelle Unternehmen haben den Vorteil, wesentlich schneller, schlanker, flexibler und kostengünstiger als ihre Mitbewerber zu sein. Dafür sind neben der Technik vor allem offene und teamfähige Mitarbeiter und Führungskräfte erforderlich.

Ina Hönicke arbeitet als freie Journalistin in München.