Humanisierungsprojekt gegen psychischen Streß

VIKS soll den Vertrieb auf den neuesten Stand bringen

22.12.1989

Mit Hilfe den PC-gestützten Vertriebsinformations- und Kommunikations-Systems (VIKS) soll in einem Dortmunder Betrieb im Vertrieb ein dezentrales PC-Netzwerk aufgebaut werden. Ziel des HdA-Projekts ist es, organisatorische Schwachstellen zu beseitigen. Christian Rüppell* und Annegret Köchling* beschreiben das Humanisierungsprojekt.

Das Humanisierungsprojekt VIKS wird in einem Betrieb des Dortmunder Anlagenbaus durchgeführt. Produziert werden Flaschen- und Dosenfüllanlagen, Flaschenreinigungsanlagen - überwiegend in Einzelbeziehungsweise Sonderfertigung. Die Anzahl der Beschäftigten mit Stammhaus in Dortmund und Regionalfilialen beläuft sich auf rund 1200. Die Auslandsfilialen haben eine eigene Rechtsform.

Schwachstellen treten zutage

Ziel dieses Vorhabens ist die menschengerechte Anwendung eines PC-gestützten Vertriebs-Informations- und Kommunikations-Systems (VIKS). Aufgrund von technischen Produktinnovationen und verstärktem Wettbewerb stößt die Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -übermittlung mit konventionellen Arbeitsverfahren und -mitteln zu Zwecken von Angebots-, Vertrags- und Auftragserstellung zunehmend an Grenzen. Die dabei zutage tretenden organisatorischen Schwachstellen führen auch zu verstärkten gesundheitlichen Belastungen der Vertriebsmitarbeiter.

Vorgesehen ist, im Bereich Vertrieb ein dezentrales PC-Netzwerk aufzubauen, an dem Arbeitsplatz-Terminals beziehungsweise tragbare PCs anzuschließen sind und dabei eine vertriebseigene (jedoch mit dem vertriebsexternen Informationswesen abgestimmte) Datenorganisation aufzubauen. Der Übergang von der Einführung der Stand-alone-Systeme im ersten Jahr) mit Datenträgeraustausch zum vertriebsinternen PC-Netzwerk (im dritten Jahr) geschieht in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten.

Die Planung eines Systemkonzeptes, das den vielfältigen Anforderungen an Produktkomplexität, Marktflexibilität und Qualitätsverbesserung genügen soll, erfordert ein Bündel miteinander verzahnter Maßnahmen zur Unterstützung der PC-Anwendung. Die betriebliche Ausgangssituation machte ein ganzheitliches Anwendungskonzept erforderlich (Technik und Qualifizierung und Organisation und Partizipation und Ergonomie). Das Know-how zur Vorbereitung und Realisierung maßgeschneiderter aufeinander abgestimmter Teilkonzepte mußte aber zunächst von außen in den Betrieb hereingetragen werden. Dafür bot sich die Beteiligung an einem HdA-Modellversuch geradezu an.

Die drei Arbeitnehmergruppen Leitungsfunktionen, Sachbearbeiter und Assistenzkräfte füllten den GfAH-Fragebogen zur Organisationsanalyse aus. Hier konnten die Mitarbeiter auch eintragen, welche Ursachen sie im einzelnen für bestehende Arbeitserschwernisse verantwortlich machten, wie sie Arbeitserschwernisse individuell bewältigten und welche Verbesserungsvorschläge sie im einzelnen für erforderlich hielten.

Durch die Zusammenstellung und Systematisierung der dabei genannten Informationsdefizite kristallisierten sich zum Beispiel unter Berücksichtigung der technischen Machbarkeit die ersten Grundformen für das spätere Softwarepaket VIKS heraus. Kasten 1 zeigt die ermittelten Informationsdefizite und die unterschiedlichen betrieblichen Problemlösungsstrategien zu ihrer Behebung. Wesentlich ist dabei, daß das Informationswesen des Vertriebes als Ganzes gesehen wurde.

Die detaillierte Kritik der Mitarbeiter an vorhandenen, aber notwendigen Formularen zur Auftragsbearbeitung - der sogenannten Technischen Spezifikation (TS) - führte zum Beispiel zu ersten Überlegungen zur Überarbeitung des Formulars und zu seiner EDV-Übertragung. Daraus entstand das Konzept für den späteren Datenbankgenerator für das TS-System.

Die Angebots- und Auftragserledigung bei hohem Arbeitsanfall und Termindruck und gleichzeitigem Wissen um Informationsdefizite (Maschinendaten, Fertigungstermindaten) setzte die Außendienstmitarbeiter bei Kundengesprächen unter hohen psychischen Streß und schränkte ihre Handlungsspielräume im Entwickeln von Angebotsänderungen und -alternativen vor Ort stark ein. Bei jeder frei abgestimmten Änderung im Kundengespräch bestand die Gefahr, daß die hausinterne Auftragsabwicklung den Kundenabmachungen nur unter hohem Änderungsaufwand nachkommen konnte. Der Änderungsaufwand war zu gering kalkuliert. Dieses Problem war bei den Außendienstmitarbeitern besonders gefürchtet.

Bei der Angebots- und Auftragsabwicklung kümmerten sich die Verkaufsmitarbeiter daher eigenständig um die vertragsgerechte Abwicklung in vor- und nachgelagerten Bereichen, wie zum Beispiel Konstruktion, Anlagenprojektierung, Montage und Fertigung. Die innerbetriebliche Abwicklung führte dann häufig zu Problemen und tendenziell zu Überforderungen der Vertriebsmitarbeiter. Sozialkontakte können unter bestimmten Randbedingungen zur psychischen Überforderung werden: zu viele Kontaktpartner, zu starke gegenseitige Instrumentalisierungstendenzen, zu geringe Kontaktzeiten führen notgedrungen zu persönlichen Spannungen und auch sozialen Reibungen zwischen ganzen Unternehmensbereichen. Die Zielvorstellung für das Projekt war daher nicht die Neuschaffung oder Erhaltung von Sozialkontakten zur Vermeidung von sozialer Isolierung, sondern die Befreiung bestehender Sozialkontakte von dem Ballast, der kollegiale Anforderungen in Streßfaktoren für beide Seiten verkehrte.

Zur Vertiefung wurden Einzel- und Gruppengespräche mit interessierten Vertriebsmitarbeitern geführt. Die Projektgruppe stellte Vorergebnisse zu Bestandsaufnahme und Sollkonzept ausgewählten Vertriebsbereichen, Führungskräften und der Geschäftsführung vor. Die Diskussionsergebnisse (Kritiken und Verbesserungsvorschläge) wurden protokolliert und in die Fortschreibung des Gesamtkonzeptes aufgenommen. Dieses eher pragmatische Vorgehen zur Mitarbeiterpartizipation erwies sich insofern als fruchtbar, als eine Fülle detaillierter Arbeitnehmervorschläge im Gesamtkonzept berücksichtigt werden konnte. Auf diesem Hintergrund entstand ein Paket von Maßnahmen zur Realisierung und Operationalisierung des Werkzeugkoffers VIKS.

Dem VIKS-Benutzer sollen flexibel zu handhabende PC-Werkzeuge in Form von PC-Programmen angeboten werden. VIKS besteht aus den vier Grundwerkzeugen:

1. dBase in Form eines offenen Datenbanksystems, von Assistenzkräften und Sachbearbeitern individuell für verschiedene Zwecke einsetzbar: individuelle Dateien für individuelle Auswertungen.

2. Tex-ASS-Window als zweistufiges Textsystem. In der ersten Stufe zur Textbearbeitung auch von Sachbearbeitern nutzbar, in der zweiten Stufe zur Textverarbeitung und informationsgestützter Textverarbeitung nur von professionellen Schreibkräften handhabbar.

3. Fertige dBase-Programme in compilierter Form wie zum Beispiel Angebots- und Auftragsdateien mit vollständigen, richtigen und aktuellen Produkt-, Auftrags-, Termin- und Kundeninformationen - nutzbar von Sachbearbeitern und Assistenzkräften.

4. Ein CAD-System zur Erstellung von Vertriebsgrafiken durch VIKS-Spezialisten in der Systempflege.

Der Werkzeugkoffer VIKS besteht also aus einfachen und

komplexen, teilweise auch miteinander kombinierbaren PC-Werkzeugen, die der Benutzer entsprechend seinen situativen Anforderungen flexibel handhaben kann. Die Grundwerkzeuge 1, 2 und 3 sind von dem Benutzer auch in bestimmten Teilen miteinander kombinierbar. Beispielsweise können Benutzer sich fertige dBase-Dateien in ihren individuellen Arbeitsbereich kopieren und mit den offenen Datenbankprogrammen dBase nach eigenen Vorstellungen bearbeiten. Beispielsweise können vom Textverarbeitungssystem aus Daten der fertigen dBase-Programme gelesen werden. Kasten 2 zeigt ausgewählte VIKS-Komponenten.

Um die Datenbasis arbeitsorientiert zu gestalten, um also den Beschäftigten im Vertrieb jederzeit vollständige, aktuelle und korrekte

Informationen anbieten zu können, wurde die bisherige Vertriebsabteilung Technische Dokumentation zur Systembetreuungs-/Systempflege-Abteilung umgestaltet.

Als technische Innovation wurde dazu ein Datenbankgenerator für die Technische Spezifikation (TS) entwickelt. Das Programm versetzt die Systempflege in die Lage, technische Spezifikationen, Hilfstexte und Preislisten ohne weitreichende Programmierkenntnisse selbst zu erstellen. Die notwendigen Datenbankdateien werden vollautomatisch erzeugt. Als Vorgabe dient ein einfach zu erstellendes Textdokument.

Laptop-Nutzung stößt auf Skepsis

Die Übertragung der aktualisierten Informationen an die Benutzer soll zukünftig online durch Nutzung des PC-Netzes Arcnet geschehen. Zur Zeit erfolgt das Updating noch über Diskettenübertragung, also offline. Die Erprobung des Werkzeug- und Systempflegekonzeptes ist Voraussetzung für die Online-Übertragung.

Den Außendienstmitarbeitern werden die VIKS-Werkzeuge und -Daten sowohl über einen Arbeitsplatzcomputer als auch über einen Laptop für unterwegs zur Verfügung gestellt. Der Arbeitsplatzcomputer besteht aus der Laptop-Zentraleinheit, separatem Bildschirm und separater Tastatur.

Ein Teil der Verkaufsmitarbeiter bevorzugt derzeit die ausschließliche Laptop-Nutzung und will auf die Doppelnutzung verzichten, da Laptop-Tastatur und die hier verwendete Arbeitsplatz-Tastatur unterschiedlich gestaltet sind. Dabei tritt für die Benutzer in den Hintergrund, daß es sich bei der Laptop-Systemauslegung um ein unergonomisches Kompaktgerät handelt. Man befürchtet, daß man bei Kundenverkaufsgesprächen die richtigen Tasten nicht sofort finden könnte. Es ist im Projektverlauf zu überprüfen, ob und inwieweit es sich hierbei nur um einen Anfängereffekt handelt oder ob die Tastaturbedienungs- beziehungsweise -wechselängste mit zunehmender Routine in PC-Anwendung und -Bedienung abklingen werden.

Es ist nicht das Ziel, die Arbeitsweisen der Verkaufssachbearbeiter zu vereinheitlichen. Technik soll hier angewandt werden, um weitgehende Freiräume zur Benutzeranwendung offenzuhalten, die individuellen Vorgehensweisen, Verfahren und Instrumenteneinsatz im Rahmen komplexen Arbeitsabläufe und vielfältiger Arbeitsaufgaben gestatten. Man spricht daher auch von Werkzeugcharakter oder vom "Werkzeugkoffer VIKS". Man geht sogar noch einen Schritt weiter. Die freie Wählbarkeit des Werkzeugs selbst steht zur Diskussion. VIKS-Daten werden den Benutzern auch in Form von Computerausdrucken angeboten.

Benutzerhandbuch wird erstellt

Die direkte Umsetzung der DIN-Normen zur Dialoggestaltung DIN 66234 T.8 stößt auf große Schwierigkeiten bei der Eigenprogrammierung und bei der Vergabe von Fremdprogrammen. Das betrifft das VIKS-Grundwerkzeug 3. - "Fertige VIKS-Programme auf der Basis von dBase". Die DIN-Norm ist erstens in einer arbeitspsychologischen Fachsprache geschrieben, deren Gedankenwelt und Begriffe von Programmierern weder nachvollzogen noch umgesetzt werden können. Zweitens läßt der Abstraktheitsgrad der Gestaltungsregeln zuviele Programmier-Spielräume und Realisierungsmöglichkeiten zu. Betriebsintern ist eine Vereinheitlichung vonnöten, die sich auf die Benutzeroberfläche bezieht.

Paket enthält auch ein VIKS-Musterprogramm

Daher wurde eine Programmieranweisung erstellt, die für Eigen- und Fremdprogrammieranweisung einzuhalten ist. Zusätzlich liegt dazu ein VIKS-Musterprogramm bereit, damit die Programmierer die wichtigsten Regeln zur Gestaltung der Benutzeroberfläche in einer beispielhaften Umsetzung vor sich sehen.

Für jedes VIKS-Programm muß ein Benutzerhandbuch vom Programmierer erstellt werden. Auch hierzu wurde ein Konzept erarbeitet, das in Form einer Schreibanweisung für eine Vereinheitlichung sorgen sollte, insbesondere was Aufbau, Didaktik, Layout und Typografie der Handbücher betrifft. Zusätzlich liegt eine beispielhafte Umsetzung vor.