KI und ML - mehr Realität als Vision

Viele Wege führen zur Digital Factory

18.04.2019 von Jürgen  Hill
Die Digitalisierung der Produktion ist nicht zu stoppen und KI und ML werden ein fester Bestandteil davon sein. Doch welche Technologien und Strategien sind die richtigen zum Bau einer Smart Factory? Und wer entscheidet – IT oder Shopfloor?
Durch Ausprobieren werden Robotor künftig wie Kleinkinder lernen.
Foto: Hill

Während die einen die Fabrik der Zukunft noch für eine ferne Vision halten, nimmt sie bei anderen immer schneller konkrete Formen an. So zeigten erst kürzlich auf der Hannover Messe 2019 klassische Anlagenbauer und IT-Player die ganze Bandbreite an Lösungen, die bereits heute zur Verfügung stehen, sowie Konzepte, an denen noch gearbeitet wird. Dabei führte die HMI eines deutlich vor Augen: KI- beziehungsweise genauer Machine-Learning-Produkte sind da und verfügbar. Was vor ein bis zwei Jahren nur erste Gedankenspiele waren, ist mittlerweile in Form von konkreten Lösungen zu finden. Letztlich geht es darum, Produktion und Prozesse intelligent zu machen.

Die Prinzipien der Industrie 4.0 spielerisch erlernen: Die fischertechnik Lernfabrik 4.0 verdeutlicht die Prozesse in einer digitalisierten Fabrik von der Online-Bestellung über die Fertigung bis zum Versand.
Foto: HMI

Eine Herausforderung, die nicht nur die klassischen IT-Player angenommen haben, sondern auch die zahlreichen Hidden Champions, für die der deutsche Mittelstand global bekannt ist. Egal, ob flexible Produktion mit sich selbst organisierenden Maschinen, oder intelligente Fehlererkennung und Qualitätsprüfung, viele Anbieter offerieren mittlerweile Produkte mit KI/ML-Unterstützung.

Verliert Deutschland wirklich den Anschluss?

Dieser Markteindruck lässt die öffentliche Diskussion darüber, dass Deutschland in Sachen KI/ML den Anschluss verliere, in einem ganz anderen Licht erscheinen. So überboten sich auch im Rahmen der HMI Verbände wie der VDI etc. mit Warnungen, "dass Deutschland den Anschluss im globalen KI-Wettbewerb verliert", wie etwa VDI-Präsident Volker Kefer beklagte. "Es wäre fahrlässig, bei der KI weiter an Boden zu verlieren", appellierte Kefer an die Politik, "daher fordert der VDI, ausreichende Fördermittel speziell in den Bereich industrielle Anwendungen von KI-Technologien sowie in die Stärkung von generellem KI-Know-how zu investieren."

Altmeier appleierte auf dem Leaders Dialogue an die Industrie, sich nicht nur auf den Staat zu verlassen, sondern auch selbst in KI zu investieren - wie es auch die US-Konzerne tun.
Foto: Hill

Sicher, angesichts der globalen Konkurrenz gibt es für die deutschen Unternehmen keinen Grund, sich auf ihren Erfolgen auszuruhen. Auch die erneut von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier auf dem Leaders Dialogue in Aussicht gestellten drei Milliarden Euro zur KI-Förderung sind im Vergleich zu den USA oder China noch nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Zumal es sich hierbei um eine Mogelpackung handelt, denn 2,5 Milliarden werden lediglich umverteilt, werden also an anderer Stelle fehlen. Mit Blick auf die USA forderte Altmeier allerdings auch, dass nicht nur der Staat Geld für KI bereitstellen müsse, sondern auch die Konzerne in der Pflicht stünden zu investieren, wie es etwa Google, Amazon und andere täten.

Letztlich, so mahnte der CDU-Politiker, hänge unser Lebensstandard davon ab, ob es uns gelingt, die Arbeitsplätze der Zukunft nach Deutschland zu holen. Es könne nicht angehen, so der Minister weiter, dass Deutschland zwar ein führendes Land in der KI-Forschung sei, aber die eigentliche Wertschöpfung dann, wie etwa beim intelligenten, elektrischen Auto, zu 60 bis 65 Prozent außerhalb Deutschlands stattfindet. Noch liegt sie im Automobilbereich zu 80 bis 90 Prozent in Deutschland.

Sieht so die Fabrik der Zukunft mit ihrer flexiblen Produktion aus? Sie könnte dank Funk und Induktionstechnik komplett kabellos sein.
Foto: Hill

Wo die Wertschöpfung stattfindet ist auch eine Frage des Know-how. Was ist wichtiger: das Domänen-Know-how des Shopfloors oder das Wissen der IT? Um diese Frage entwickelt sich ein neuer Streit - vergleichbar mit dem, den wir damals bei Industrie 4.0 und IoT erlebten. Nur, dass es diesmal vielleicht keinen Sieger geben kann, denn erfolgreiche KI/ML-Projekte stellen sowohl hohe Anforderungen an das Prozesswissen in der Produktion als auch an das IT-Wissen, um eine Echtzeitverarbeitung der Daten sicherzustellen. "Wir verschmelzen klassische Fabrikautomation mit Informationstechnologie und ermöglichen Interoperabilität durch offene Standards (OPC UA, TSN, 5G). Soft- und Hardware werden entkoppelt und somit die Flexibilität und Ökonomie für den Kunden optimiert", skizzierte Heiner Lang, Leiter des Geschäftsbereichs Automation and Electrification Solutions der Bosch Rexroth AG die derzeitige Situation.

Ingenieur versus ITler?

Dashboard-Lösungen zur Steuerung und Überwachung von Maschinen und Produktionslinien sowie ganzer Fabriken liegen 2019 voll im Trend.
Foto: Bosch Rexroth

Die Frage, wer bei diesem Thema führen darf, beantwortete Christoph Schmitz, Senior Partner und Leiter der globalen Manufacturing Practice bei McKinsey, ganz anders. Für ihn sind es weder der "Ingenieur mit seinem Zoo an Gadgets, noch der ITler, der alles in die Cloud bringt". Schmitz zufolge gehört die Entscheidung in die Hand der Business Leader, die kritisch hinterfragen, was die Investitionen unter dem Strich bringen.

Doch nicht nur die Frage, wer über die Investitionen in KI/ML entscheidet, ist offen, sondern auch, wo die entsprechenden Daten verarbeitet werden sollen -alles in die Cloud, oder doch lieber auf eine ortsnahe Verarbeitung im Edge setzen? Naturgemäß sprechen sich Cloud-Anbieter wie AWS eher für eine Verarbeitung in der Cloud aus. So biete die Cloud mehr Rechen-Power für die KI-Algorithmen. Zudem könnten dort aufgrund des günstigen Speicherpreises mehr Daten, wenn nicht sogar alle Daten abgelegt werden. Schließlich wisse der Anwender nicht, welche Algorithmen er in Zukunft einsetze. Vielleicht würden ja in ein paar Jahren Lösungen entwickelt, die aus bereits vorhandenen Daten - die heute nutzlos erscheinen - ganz neue Erkenntnisse gewinnen.

Edge Computing statt Cloud?

KI im Edge: Die Movidius Myriad X Vision Processing Unit (VPU) der Inntel-Tochter Movidius kombiniert Bildanalyse, Computer-Vision-Verarbeitung und Deep-Learning im Endgerät auf einem einzigen Chip.
Foto: Intel/Movidius

Andere IT-Player wie etwa Cisco sehen dagegen die Cloud nicht als erste Wahl für die Datenverarbeitung, sondern präferieren das Edge Computing. Dank Maschinennähe ließen sich die Daten hier effizienter und schneller verarbeiten. Zudem habe der Edge-Ansatz zwei Vorteile: Zum einen ließen sich hier wirklich im Gegensatz zur Cloud Daten in Echtzeit verarbeiten. Zum anderen könne mit der Bearbeitung der Daten im Edge das Übertragungsvolumen deutlich reduziert werden. Das spare nicht nur Zeit, sondern verhindere auch, dass das eigene WAN an seine Grenzen stößt und so ein teures Upgrade erforderlich wird.

Apps für das Edge Computing sollen wie hier etwa bei Siemens die Zustandüberwachung von Werkzeugmaschinen ermöglichen.
Foto: Siemens

Ganz undogmatisch gehen Maschinenbauer wie Siemens, Bosch Rexroth oder Festo an die Frage heran. Sie haben meist eigene Edge-Lösungen im Portfolio und warten zudem häufig mit eigenen Cloud-Angeboten auf - wobei die Cloud-Infrastruktur häufig von einem der drei großen Cloud-Betreiber AWS, Microsoft und Google stammt. So heißt es etwa bei Festo, dass dieDatensammlung und Überwachung durch die intelligente Softwarelösung entweder on Edge oder on Premises stattfinden kann, oder über ein IoT-Gateway in der Festo Cloud erfolgen kann. Für den Einsatz von KI on Edge oder on Premises spricht laut Festo, dass alle Daten im eigenen Haus bleiben, ohne Sicherheitsrisiken oder Verzögerungen der Datenströme durch Netzlatenzen. Wichtig sei aber, dass ausreichend strukturierte Daten vorliegen, um diese mit dem Werkzeug KI sinnvoll analysieren zu können. Die Cloud wiederum biete mit ihren sehr hohen Rechenkapazitäten gute Auswerteergebnisse über mehrere, verteilte Produktionsstandorte hinweg.

Die drahtlose Fabrik

Digitalisierung macht es möglich: Ein elektrisch angetriebenes Motorrad komplett aus dem 3D-Drucker.
Foto: Hill

Apropos Netz, verfolgt man die derzeitigen Diskussionen um die flexible, smarte Fabrik, dann drängt sich der Eindruck auf, dass ohne 5G künftig nichts mehr in der Fertigung geht. Egal ob es sich um autonom bewegende Roboter, flexibel einsetzbare Produktionsanlagen etc. handelt, nichts scheint künftig ohne den neuen Mobilfunkstandard zu funktionieren. Sicher, Punkte wie QoS, lizenzierte Frequenzbänder oder Echtzeitfähigkeit sprechen für den neuen Standard, doch zu welchem Preis? Sollen die Unternehmen noch ein zusätzliches Netz managen, wo ihnen doch bereits häufig die Ressourcen fehlen, um die vorhandenen LANs und WLANs zu administrieren, argumentierten in Hannover die klassischen Netzausrüster. Und noch etwas führen sie ins Feld: Der WLAN-Standard 802.11ax - auch als WiFi 6 bekannt - biete alle diese Vorteile ebenso, ohne sich wie bei 5G eine weitere neue Technologie ins Haus zu holen.

Und noch etwas sollte bei den Diskussionen um die digitale Fabrik beachtet werden: Es ist Zeit, KI/Ml zu entmystifizieren, um so zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen, welche Möglichkeiten KI/ML wirklich offeriert. Denn nicht für alles sind KI/ML-Projekte erforderlich. Viele Problemstellungen lassen sich bereits mit klassischem Analytics und statistischen Methoden lösen. Und last but not least sollte in den Augen von McKinsey-Manager Schmitz, der Messen wie die HMI als zu sehr "technology forwarded" kritisierte, eines nicht vergessen werden, "wie steht es um die Wertgenerierung und welchen Beitrag zur Produktivitätssteigerung leistet eine Technologie wirklich."

Lernende Roboter

Hand in Hand arbeiten Roboter und Mensch immer öffter zusammen, wie etwa mit der BionicSoftHand von Festo.
Foto: Festo

Ungeachtet aller offenen Fragen, eines bringt die Digital Factory auf alle Fälle mit sich: Die Trennung von Roboter und Mensch ist Vergangenheit. In der modernen Produktion arbeiten beide Seite an Seite, wobei Kollege Roboter dank KI/ML immer vielfältiger einsetzbar und in der Lage sein wird, einfache Aufgabenstellungen wie ein kleines Kind durch ausprobieren selbst zu lösen. Allerdings mit einem Unterschied: Das Erlernte kann der Roboter in Sekundenbruchteilen an seine vernetzten Kollegen weitertransferieren. Zudem erlernt er jetzt zunehmend das Greifen von Dingen, was ganze neue Einsatzmöglichkeiten eröffnet. Die Roboter assemblieren, montieren künftig Bauteile und Produkte. Optimisten sehen darin bereits die Chance, etwa die Smartphone-Produktion wieder nach Deutschland zurückzuholen.