Innovationen

Vergesst das nächste große Management-Ding!

20.03.2015 von Ferdinand Knauß
Die Historikerin Jill Lepore erweist der Wirtschaftswissenschaft einen großen Dienst. Sie entzaubert Clayton Christensens Management-Konzept der "disruptive innovation" - und damit die Vermessenheit einer ganzen Professoren-Zunft.

Clayton M. Christensen ist sehr innovativ. Seine Erfindung heißt "disruptive innovation". Aber weil das nicht schön klingt, hat Christensen sie unter dem Buchtitel "The Innovator's Dilemma" vermarktet.

Der Professor der Harvard Business School hat mit seinen Büchern, allen voran dem "Innovator's Dilemma" (1997), eine starke Position auf einem heißumkämpften Markt erobert. Dieser Markt kommt zwar nicht in volkswirtschaftlichen Statistiken vor und auch in keiner Anlagestrategie von Finanzinvestoren. Auf ihm wird auch nur vergleichsweise wenig Geld bewegt, aber dafür etwas anderes, das mindestens ebenso wirkmächtig ist: Das Denken.

Zerstörerische Erfindungen

Christensen schuf mit seiner These von den disruptiven, zerstörerischen Erfindungen, die die althergebrachten Zustände "zerreißen", so etwas wie das akademische Fundament des anschwellenden Rufs nach Innovation, ohne den keine Stellenanzeige, kein Quartalsbericht und kein parteipolitisches Programm mehr auskommt. Seine These: Nicht schlechte Entscheidungen sorgen für den Untergang von Unternehmen, sondern "gute", aber alte Entscheidungen. Das ist das angebliche Dilemma: Das früher Gute ist nicht gut, weil es nicht neu ist. Und weil die Geschichte immer schneller läuft, wächst die Gefahr, Chancen zu verpassen.

Christensens These gewann bald einen dogmengleichen Status, wozu der Ruf seines Arbeitgebers Harvard Business School sicher beitrug. Ökonomen und Management-Autoren haben die Chancen denn auch ergriffen: Als "disruption consultants" predigen sie auf "disruption conferences" und "disruption seminars" Christensens Lehre. Es ist damit das akademische Fundament des anschwellenden Rufs nach Innovation geworden. Bloß gibt es dabei einen Haken: Christensens Fallbeispiele halten nicht, was sie versprechen.

Beängstigendes Dogma

Jill Lepore, Harvard-Professorin und neuer Stern der amerikanischen Geisteswissenschaften, hat das Dogma der zerstörerischen Innovation mit einem einzigen Essay im "New Yorker" in die Luft gejagt. Lepore zeigt, dass Christensen ein lausiger Unternehmenshistoriker ist: Die Firmen nämlich, die angeblich zugrunde gingen - amerikanische Diskettenlaufwerkhersteller - existierten meist in leicht veränderter Form erfolgreich weiter, und die angeblich zerstörerischen Innovatoren waren oft nach einiger Zeit selbst zerstört.

Lepore versucht nicht, ein eigenes neues Dogma an Stelle des zerstörten Christensenschen zu platzieren. Sie ist eben keine Management-Autorin, sondern Historikerin.

Wie es sich für gute Geisteswissenschaftler gehört, geht Lepore kritisch der Idee auf den Grund, die durch Christensen und andere Ökonomen in die Köpfe der lesenden Manager gepflanzt wurde: "Die Idee der Innovation ist die Idee des Fortschritts ohne die Hoffnungen der Aufklärung, sauber geschrubbt von den Schrecken des 20. Jahrhunderts, und befreit von seinen Kritikern. Disruptive Innovation geht weiter, sie ersetzt die Hoffnung auf Erlösung durch die Verdammnis, die es benennt: Zerstöre und du wirst gerettet sein."

Christensens Dogma hat, so entlarvt Lepore, vor allem einen Zweck: Es macht Angst. Angst, zerrissen zu werden von fremden Innovationen. Es taugt dadurch als Peitsche in der Hand derjenigen, die ein Interesse daran haben, zum Innovieren anzutreiben.

Der fruchtbare Boden, auf den Christensens Buch fiel, ist kein Indiz dafür, wie innovativ unsere Gesellschaft ist. Sondern dafür, wie wachsend die Nachfrage nach Innovation ist und wie schrumpfend das Angebot.

Innovationen sind der einzige Treibstoff der modernen Wachstumswirtschaft. In wohlhabenden Gesellschaften ist ein Anstieg der Güterproduktion nur sinnvoll, wenn neue Produkte auf den Markt kommen. Volkswirtschaften, die hungrige Mäuler stopfen müssen, brauchen keine neuen Produkte, sondern mehr und billigere.

Je satter die Menschen sind und je geringer mangels Kindern die Zahl der nachwachsenden Konsumenten wird, desto schneller und öfter müssen neuartige Produkte auf den Markt, wenn er insgesamt weiter wachsen soll. Wohlstandsgesellschaften sind zunehmend innovationsbedürftig - zumindest solange die Marktteilnehmer glauben, dass ihre Wirtschaft unbedingt wachsen muss, obwohl ihre Zahl schrumpft.

In so einer Gesellschaft haben aber diejenigen, die erfinden lassen wollen, das Übergewicht gegenüber denen, die selbst erfinden. Potentielle Erfinder und damit auch Unternehmensgründer werden knapp. Denn das sind üblicherweise junge, erfolgshungrige und sehr begabte Menschen. Das wachsende Heer der satten Erben ist kein fruchtbarer Humus für Erfinderpersönlichkeiten, sondern sorgt für ein Überangebot an Kapital. In innovativen Gesellschaften, wie zum Beispiel Deutschland vor 1914 oder nach 1945, ist es umgekehrt.

Business Schools produzieren nicht Wissen, sondern Moden

Ökonomen geben sich im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaftlern meist nicht damit zufrieden, Erkenntnisse über Vergangenheit und Gegenwart zu gewinnen. Schon gar nicht, wenn sie wie Christensen an einer Business School künftige Unternehmenslenker mit Handlungsanweisungen versorgen wollen.

Christensens These krankt wie so viele andere seines Faches an dem Anspruch, den ökonomischen Stein der Weisen gefunden zu haben. Nämlich aus historischen Erfahrungen ein zeitloses, quasi-naturwissenschaftliches Gesetz zu formulieren - inklusive eines Musters für die Praxis der Zukunft.

Sein Kollege Howard Yu vom International Institute for Management Development, einer privaten Manager-Schmiede in Lausanne, ist Christensen jetzt zur Hilfe gekommen. Es sei ein "systemisches Problem" der Management-Theorien, dass sie "wie Mode-Erscheinungen behandelt" würden: "Berater, Manager und Vorstände sind allzu begierig das nächste große Ding zu erlernen und versuchen dann, mit einem Konzept alles zu erklären. Wenn die Begeisterung zu groß wird, wird irgendwo irgendjemand unvermeidlicher Weise unzufrieden und versucht, Löcher in das Gedankengebäude zu bohren und das ganze Konzept als unbrauchbar zu erklären. Die Begeisterung verfliegt und die Öffentlichkeit geht über zur nächsten großen Jagd - auf der Suche nach einer anderen Idee, die wieder alles erklären kann."

Yu will den bleibenden Wert von Christensens Werk verteidigen, doch letztlich bestätigt er mit diesen Sätzen genau das, was Lepore in ihrem Artikel gelungen ist: Die Entlarvung einer Zunft, die sich zwar den äußeren Schein von Wissenschaftlichkeit gibt, doch tatsächlich nicht deren Anspruch erfüllt. Wissenschaft strebt nach Erkenntnis - nicht nach dem "next big thing" für Manager.

Yu wirft Lepore und anderen Kritikern vor, dass sie Christensens Theorie verwerfen, anstatt sie weiterzuentwickeln "wie das auf dem Feld der Medizin, der Ingenieurwissenschaften und Physik getan würde". Yu hält also die Betriebswirtschaft für eine den Naturwissenschaften vergleichbare Disziplin.

Und genau das ist der Kern des Problems, um das es in dieser Debatte geht: In den Wirtschaftswissenschaften tut man, als ob Wirtschaft ein berechenbares Naturphänomen oder eine konstruierte Maschine sei. Man ignoriert, dass Wirtschaft ein soziales und kulturelles Phänomen ist. Und dass eine Ökonomik, wenn sie erkenntnisgeleitet sein will, eine empirische Sozialwissenschaft sein muss - und keine exakte Wirtschaftsmechanistik.

Zerstörerische Innovation

Jill Lepores Verdienst ist, dass sie nicht nur Christensen, sondern der gesamten Zunft den Spiegel ihrer Vermessenheit vorhält. Sie hat beispielhaft gezeigt, wie unsinnig der Anspruch ist, ökonomische Handlungsmuster für die Zukunft liefern zu können. "Zerstörerische Innovation", schreibt Lepore, "ist kein Naturgesetz." Sie erkläre nicht den Wandel, sei "blind gegenüber der Dauerhaftigkeit" und "ein sehr schlechter Prophet."

Thesen zu verbreiten, die sich nach einiger Zeit als nicht mehr haltbar für die Gegenwart erweisen, ist für Sozialwissenschaftler keine Schande. Eine Schande ist allerdings, dass viele Ökonomen immer noch glauben, zeitlose Wahrheiten zu besitzen.

Die Zukunft bleibt derweil, was sie immer war: offen.

(Quelle: Wirtschaftswoche)