Ray Kurzweil

"Uns steht eine phantastische Zukunft bevor"

21.06.2010 von Simon Hülsbömer
Der amerikanische IT-Visionär Raymond "Ray" Kurzweil sieht im CW-Interview Mensch und IT in den kommenden Jahrzehnten zu einer Einheit verschmelzen.

CW: 2002 haben Sie 20.000 Dollar darauf gewettet, dass bis zum Jahr 2029 Computer mindestens genauso intelligent sein werden wie Menschen. Was macht Sie da so zuversichtlich?

Ray Kurzweil war anlässlich des 4. Dresdner Zukunftsforums der T-Systems Multimedia Solutions in Deutschland.

KURZWEIL: Wenn Sie sich die vergangenen Jahrzehnte anschauen, läuft alles darauf hinaus, dass ich die Wette gewinne. Schon heute gibt es Hunderte Anwendungsbereiche, in denen Maschinen das erledigen, was früher ausschließlich aus der menschlichen Intelligenz heraus bewerkstelligt werden konnte. Wenn Sie telefonieren, eine E-Mail verschicken, Produkte in Massen fertigen, mit dem Flugzeug starten und landen oder ein diagnostisches Blutbild erstellen - in allen Fällen machen Computer mittlerweile einen Job, der früher einmal dem Menschen vorbehalten war. Und das besser und kostengünstiger. Diese klaren Grenzen zwischen Menschen und Maschine weichen umso mehr auf, je mehr wir verstehen, wie menschliche Intelligenz funktioniert. Diese Entwicklung schreitet exponentiell voran: Die Genauigkeit von Gehirnscans verdoppelt sich jährlich. Heute können wir bereits in lebende menschliche Gehirne sehen und aktive Zellverbindungen ausfindig machen. Wir beobachten, wie diese Verbindungen wachsen, wie unser Gehirn Gedanken kreiert und diese Gedanken wiederum das Gehirn beeinflussen. Die Beobachtungen setzen wir in Simulationen und realistische Modelle des Gehirns um, die den Ursprung unserer Fähigkeiten und Talente, der visuellen und auditiven Sinne lebensecht darstellen können.

CW: Es wird aber eine extreme Rechenpower vonnöten sein, um das menschliche Hirn realitätsgenau simulieren zu können.

KURZWEIL: Ich habe in meinem Buch "Singularity is near" schon 2006 aus einer sehr konservativen Sichtweise heraus analysiert, welche Hard- und Software nötig ist, um das menschliche Gehirn in seiner Gesamtheit simulieren zu können. Der derzeit schnellste Supercomputer IBM Sequoia, der Anfang 2011 ans Netz gehen soll, wird in den frühen 2020er Jahren gerade einmal noch 1000 Dollar kosten. Auch dank Cloud-Computing-Technologie, mit der mehrere von diesen Rechnern zusammengeschaltet werden, werden wir bis 2029 ausreichend kostengünstige Rechenleistung haben, so dass die Hardware kein Problem mehr darstellen sollte. Der eigentliche Punkt ist die Software. Viele meiner Kritiker behaupten, ich unterschätzte die Komplexität des menschlichen Hirns. Aber nach 50 Jahren Arbeit in diesem Bereich sage ich, dass meine Kritiker die Leistungsfähigkeit zukünftiger Tools unterschätzen. Sie ignorieren das exponentielle Wachstum der IT-Leistung. Dadurch unterscheiden sich meine Vorhersagen so stark von ihren. Als ich in den 1980er Jahren die Ausbreitung des World Wide Web für Mitte der Neunziger vorhergesagt habe - ich habe es zwar nicht WWW genannt, aber seine Folgen gut beschrieben -, haben mich viele für verrückt gehalten. Exponentielles Wachstum funktioniert aber nun einmal so: Die erste Hälfte eines Zeitraums geschieht fast gar nichts - Sie schaffen gerade einmal ein Prozent Ihrer Ziele. Da sich der Fortschritt aber mit jedem Schritt verdoppelt, sind Sie damit genau im Zeitplan.

Wachstum seit 120 Jahren

CW: Wir liegen also für 2029 im Zeitplan?

KURZWEIL: Ja, denn die Entwicklung läuft bereits seit 120 Jahren und nicht erst seit beispielsweise 1965, als Gordon Moore sein Mooresches Gesetz aufstellte. Bemerkenswert ist, dass das ständige Auf und Ab der Wirtschaft in der ganzen Zeit, die aktuelle Rezession eingeschlossen, keinerlei Auswirkungen auf das exponentielle Gesamtwachstum hatte.

CW: Unternehmen geben ihre Wachstumsprognosen trotzdem linear auf der Basis der zurückliegenden zwei bis drei Jahre ab. Sie denken keinesfalls exponentiell. Warum?

KURZWEIL: Das ist im menschlichen Gehirn fest verankert. Bereits vor Zehntausenden von Jahren haben Menschen Vorhersagen über die Zukunft aus einem einzigen Grund abgegeben: um zu überleben. Sie haben lineare Prognosen darüber getroffen, wo das Tier lauert, das sie jagt. Diese Art der Vorhersagen hat sich als gut herausgestellt und so einen festen Platz in unserem Hirn eingenommen. Unsere heutige Intuition arbeitet auf linearer Basis und lässt sich kaum abschalten. Es bedarf einiger Studien und eines großen Verstandes, um zu begreifen, dass Informationstechnologie anders funktioniert als beispielsweise die Medizin. Natürlich sind die Grundlagen der menschlichen Intuition noch nicht vollständig erforscht, aber dass sie linear funktioniert, steht außer Frage. Darum planen wir auch immer nur kurzfristig und auf der Basis kurzfristiger Erfahrungen - das gilt übrigens auch für hochbegabte Wissenschaftler.

CW: Was folgt daraus für die Unternehmen? Worauf sollten sie sich einstellen?

KURZWEIL: Wichtig ist zunächst, sich nicht nur klarzumachen, auf welche Art von Technologien wir in Zukunft zurückgreifen werden, sondern es auch aufzuschreiben. Ich arbeite derzeit in einem Projekt, das von den weiteren Entwicklungen in der Kommunikationstechnik, der Display-Technologie, der zugrunde liegenden Plattformen und in der Speichertechnologie beeinflusst wird. Im Projektteam schlüsseln wir deshalb alles genau auf: Wie sehen diese vier Bereiche im Januar 2011 aus, wie im Juli 2011, wie im Januar 2012 und so weiter. Und obwohl wir alle die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte kennen und ich mich seit 30 Jahren täglich mit exponentiellem Wachstum in der IT beschäftige, ist es auch für uns allein beim Betrachten des Projektplaners überraschend, wie schnell sich die Dinge ändern. Sie schauen sich Ihren Zeitplan an und wundern sich über sich selbst, wie die Technik im Juli 2012 aussehen wird. Das läuft unserer Intuition zuwider, die gerne alles so lassen möchte, wie es gerade ist. Wir vergessen dabei, wie es noch vor zwei Jahren ausgesehen hat. Vor drei Jahren hat kaum ein Mensch soziale Netzwerke im Web genutzt, heute ist Facebook überall.

Mensch und Maschine werden eins

CW: Was kommt nach 2029?

KURZWEIL: Die Ausbreitung maschineller Intelligenz wird zunächst kaum Auswirkungen auf die Menschheit haben. Schließlich haben wir schon heute sechs Milliarden Exemplare menschlicher Intelligenz, und da können einige wenige Computer nicht sofort alles verändern. Da die IT aber weiter exponentiell wächst, wird ihre Intelligenz bis 2045 um einige Milliarden Mal stärker ausgeprägt sein als die des Menschen. Weil unser Gehirn dieser Entwicklung jedoch nicht standhält, wird sich der Prozess insgesamt etwas verlangsamen, und schließlich werden Mensch und Maschine miteinander verschmelzen, um den Veränderungsdruck aushalten zu können.

CW: Computing wird immer biologischer?

KURZWEIL: Wir kopieren die Biologie immer präziser, weil sie ein starkes Vorbild für unsere Technologie darstellt. Da aber beispielsweise die chemischen Prozesse in der Biologie millionenfach langsamer sind als die heutigen elektronischen, ist das Vorbild in gewisser Weise begrenzt. Wir können die grundlegenden Prinzipien der Biologie zwar verstehen und in die Technologie einbringen, müssen uns dann aber von ihr lösen. Ungefähr vergleichbar ist dieser Prozess mit dem Fliegen: Die grundlegenden Prinzipien haben wir uns aus der Natur angeeignet, unsere heutige Luftfahrt hat sich davon aber schnell gelöst und ganz neue Technologien hervorgebracht.

CW: Wird das technische Wachstum trotzdem irgendwann ein Ende finden?

KURZWEIL: Knapp 200 Jahre exponentielles Wachstum auf nichtbiologischer Ebene sind auch nach 2029 noch möglich - 100 davon ganz sicher bei uns auf der Erde. Erst danach werden wir uns anderen Themen wie dem Übertreffen der Lichtgeschwindigkeit zuwenden. Uns steht eine phantastische Zukunft bevor, weil wir mit jedem Schritt unsere eigene Intelligenz besser verstehen und erweitern können.

CW: Steigt damit auch unsere Lebenserwartung?

KURZWEIL: In rund 15 Jahren wird unsere Lebenserwartung jedes Jahr um ein Jahr steigen. Dann werden wir in der Lage sein, die Zellen, die für den Alterungsprozess verantwortlich sind, umzuprogrammieren. In einem weiteren Schritt werden wir biologische Systeme komplett konservieren und neu gestalten können. Jeder von uns ist eine Ansammlung verschiedenster Informationen - seien es Erfahrungen, Talente oder Emotionen. In 50 Jahren können wir all das in einem "Mind File" sichern und jederzeit wiederherstellen. Wir werden reproduzierbar.

CW: Gilt das auch für unsere Gefühle, unsere Seele?

KURZWEIL: Hier stoßen wir in die philosophische Betrachtung vor. Die Seele ist in meinem Verständnis nichts anderes als unser Bewusstsein. Und ja, auch das wird konservier- und reproduzierbar sein.

Böse Maschinen?

CW: Müssen wir keine Angst haben, dass die Maschinen das Kommando übernehmen, uns ein "Terminator"-Szenario droht?

KURZWEIL: Ich teile nicht die Auffassung, dass intelligente Maschinen per se böse sind. Technologie erweitert unsere Kreativität, kann aber natürlich auch auf destruktive Art und Weise verwendet werden, gerade in der Hand von Menschen. Insgesamt glaube ich jedoch, dass wir mehr Nutzen als Schaden aus ihr ziehen. Wenn Sie beispielsweise Thomas Hobbes lesen, können Sie sehen, wie hart und brutal unser Leben noch vor wenigen hundert Jahren war. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 37 Jahren. Das Leben bestand aus harter Arbeit, Krankheit und Armut. Wir haben dank der technischen Entwicklungen eine Menge Leiden hinter uns gelassen. Ich bin nicht so blauäugig, zu glauben, dass dem Fortschritt nur Gutes entspringt: Dieselbe technische Errungenschaft, die uns einerseits hilft, Krebsleiden durch Umprogrammierung von bestimmten Zellen zu bekämpfen, kann andererseits Terroristen bei der Entwicklung biochemischer Waffen unterstützen. Wichtig ist nur, dass wir gegen die schädlichen Auswüchse Abwehrmechanismen aufbauen, wie wir es beispielsweise gegen Softwareviren bereits tun.

CW: Gehen wir weg von der Biologie und hin zu den aktuellen technischen Entwicklungen: Inwieweit wird die IT in nächster Zeit unseren Alltag verändern?

KURZWEIL: Schon heute tragen wir Rechner mit Internet-Zugang in der Hosentasche. Der nächste Schritt ist die Integration von Brillen und Displays, damit Augmented-Reality-Anwendungen überall zum Einsatz kommen können. Sie schauen sich ein Gebäude oder eine Person auf der Straße an und sehen vor ihrem Auge sofort, was sich in dem Gebäude befindet oder wer die Person ist. Schon heute ist das problemlos möglich - bald wird das jedoch etwas völlig Alltägliches sein. Im nächsten Entwicklungsschritt wird Technologie noch einmal kleiner und handlicher werden und sich weiter ausbreiten. Ob es nun die Omnipräsenz von Kommunikationsnetzen oder von IT-Infrastruktur dank Cloud Computing ist: In zehn Jahren wird das alles fester Bestandteil unseres Lebens sein.

Die mediale Revolution

CW: Was ist das nächste große Ding in der IT? 2010 scheint das Jahr der Tablet-PCs zu werden.

KURZWEIL: Wir befinden uns dank der Tablet-PCs gerade am Beginn einer medialen Revolution. In einigen Jahren werden diese Geräte jede Form von Mediennutzung verändert haben. Filme, TV, Bücher, Zeitschriften, Musik - alles wird irgendwo in der Cloud liegen und jedem von überall aus zugänglich sein. Ein weiterer Trend ist die virtuelle Realität, die von einem spielartigen Erlebnis, wie wir es heute noch haben, zu einem Teil unseres wirklichen Lebens werden wird. Das geht heute mit den Videokonferenzsystemen los, die sich weiter in Richtung der Dreidimensionalität entwickeln werden. Bald werden wir virtuelle Realität mit allen Sinnen erleben können - zumindest visuell und auditiv. Schon heute halte ich viele Vorträge über mein eigenes Teleportec-System, mit dessen Hilfe ich mich sogar im Raum bewegen und dem Publikum in die Augen schauen kann. Auch 3D-Umgebungen im WWW wie "Second Life" werden in den kommenden zehn Jahre wesentlich realitätsgetreuer werden und immer mehr unseren Alltag bestimmen - auch wenn das genannte Beispiel für viele immer noch nur ein Spiel ist.

CW: Mit Ihren Gedanken im Hinterkopf - in welches Start-up würden Sie jetzt investieren?

KURZWEIL: Ich glaube zwar, dass sich viele technische Entwicklungen vorhersagen lassen - unternehmerischer Erfolg lässt sich aber nach wie vor nicht prognostizieren. Als Larry Page und Sergey Brin ihre Suchmaschine ins Leben riefen, gab es mehr als ein Dutzend Unternehmen, die Ähnliches vorhatten. Allein wie die beiden ihre Ideen umgesetzt haben, hat letztlich den Unterschied ausgemacht. Das ist ein Punkt, den ich in vielen meiner Investments und beratenden Tätigkeiten für junge Unternehmer immer wieder an oberste Stelle setze: Nur wer das exponentielle Wachstum der Technologie in seine Business-Pläne einbezieht, hat auch eine Chance, dauerhaften Erfolg zu haben. Wer das nicht macht und annimmt, dass die Welt der Zukunft die gleiche ist wie die heutige, hat keine Chance. Eine Gefahr dabei ist aber, überoptimistisch zu planen und von Entwicklungen auszugehen, die sich nicht bestätigen. Das Paradebeispiel ist das Platzen der Dotcom-Blase Anfang des Jahrzehnts: Die waghalsigen Prognosen, die diese Unternehmen getroffen haben, waren im Kern völlig richtig - sie waren jedoch davon ausgegangen, dass sie innerhalb von ein bis zwei Jahren eintreffen würden. Tatsächlich hat es aber zehn Jahre gedauert. Exponentielles Wachstum heißt also nicht augenblickliches Wachstum, sondern langsames und stetiges, erst später schnell ansteigendes Wachstum.

Was die Welt verändern wird

CW: In welchen Branchen stecken die größten Potenziale?

KURZWEIL: Biotechnologie ist schon lange in aller Munde - bislang fehlten uns aber die technischen Werkzeuge, sie gewinnbringend einzusetzen. In den kommenden Jahren wird sie Bereiche wie Medizin und Agrarkultur wesentlich weiterentwickeln. Auch virtuelle Welten, die auf sozialen Netzwerken aufsetzen, haben eine große Zukunft. Schauen Sie sich Facebook an: Die Integration multimedialer Elemente ist derzeit noch sehr begrenzt, dennoch nutzen es schon jetzt fast eine halbe Milliarde Menschen. Darüber hinaus sehe ich auch für semantische Suchtechnologien eine große Zukunft kommen.

CW: Sie haben einmal gesagt: "Jeder mit einem Laptop kann die Welt verändern." Gilt das immer noch?

KURZWEIL: Einige Menschen behaupten, dass nur wohlhabende Menschen Zugriff auf hoch entwickelte Technologie hätten. Doch das stimmt nicht: Schon heute hat beispielsweise jeder zweite Landwirt in China ein Smartphone. Es gibt fünf Milliarden Mobiltelefone weltweit - in zwei bis drei Jahren werden es ebenso viele Smartphones sein, für die das Gleiche gilt wie das, was ich einst über Laptops gesagt habe. Es gibt hundert Millionen Blogs in der Welt - das Wissen der Massen wird Probleme lösen können, die kein Mensch jemals allein angehen könnte. Schon heute gibt es Patientengruppen, die sich im Web organisieren und ganz ohne Arzt ihre bislang unheilbaren Krankheiten zu bekämpfen versuchen und es auch schaffen. Das wird die Welt verändern.

Zur Person: Ray Kurzweil

Raymond "Ray" Kurzweil, Jahrgang 1948, ist IT-Pionier und Autor. Er beschäftigt sich vor allem mit der optischen Zeichenerkennung (OCR), der Sprachsynthese und -erkennung, der Flachbettscannertechnologie und mit elektronischen Musikinstrumenten. Kurzweil verfasste unter anderem Bücher über technologische Singularität und Zukunftsforschung. Er gilt als einer der bedeutendsten Visionäre auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz.