Überforderte Datenverarbeitung

25.04.1980

Roland Traunmüller, Dozent am Institut für Informatik der Johannes-Kepler-Universität Linz

Seit vielen Jahren wird die Darstellung rechtlicher Vorschriften in Softwaresystemen vor allem durch "Delegation an den Programmierer" gelöst. Diese bequeme Lösung stößt zunehmend auf Schwierigkeiten. Die Gründe liegen nicht nur im Wachsen von Umfang und Komplexität, vielmehr treten neue Gesichtspunkte in den Vordergrund. So sei auf Software-Engineering, benutzerorientiertes Design, Kontrolle und Revision wie auch Flexibilität als neue Forderungen verwiesen.

Methoden und Ansätze

Im folgenden werden Methoden und Ansätze zur Modellierung rechtlicher Vorschriften in Softwaresystemen diskutiert. Das besondere Augenmerk richtet sich dabei auf Entwicklungen, die in der Verwaltungsautomation eingesetzt werden können.

Klassische Programmierung ist die Art, das Problem dem Programmierer zu überlassen. Sie stellt eine triviale Lösung dar, ist aber nichtsdestoweniger weit verbreitet und hat den - zumindest kurzfristigen - Vorteil einer schnellen und raschen Durchführung.

Ein zweiter Ansatz, bei dem rechtliche Vorschriften erfolgreich in Datenverarbeitungssystemen abgebildet wurden, sind juridische Information-Retrieval-Systeme. Vor allem für die Mensch-Maschine-Kommunikationen gedacht, sind diese weniger geeignet, eine auf sie aufbauende Automatisierung von Verwaltungsabläufen zu unterstützen. Grund dafür ist die Tatsache, daß im Information-Retrieval syntaktische und semantische Mehrdeutigkeiten nicht aufgelöst, sondern an den Benutzer weitergegeben werden.

Sprachen und Datenbanksysteme für bestimmte Funktionsklassen, wie Steuerwesen, Studienwesen und so weiter, vereinen formale Behandlung und Endbenutzerorientierung. Durch weitreichende Anpassung an den Problembereich kann hohe Effektivität erzielt werden.

Ein Anwendungsbeispiel liefert das in Linz erstellte System CERI2. Die Vorschriften hierbei werden in einer Formularsprache kodiert. Der Aufbau ist hierarchisch, wobei den Knoten eines Datenbaumes einzelne Punkte der Vorschrift entsprechen. Zu jedem Knoten können Verknüpfungen (und/oder) beziehungsweise kompliziertere Regelungen (Fußnoten) angegeben werden. Dadurch werden Alternativen als disjunkte Bäume abgebildet. Auch für den Einsatz moderner Softwareentwurfsmethoden würde die Abbildung in Bäumen eine günstige Schnittstelle abgeben. Werden in einem weiteren Schritt der Norm Sachverhalte zugeordnet, entsteht ein netzförmiger Strukturgraf, welcher im weiteren Verlauf, so beispielsweise für die Berechnung der Normerfüllung, als Algorithmus wirkt. Ein konkretes Beispiel bildet der Studiengang. Hier werden Normen durch den Studienplan, Sachverhalte durch Prüfungen über Lehrveranstaltungen und Normerfüllung durch den berechneten objektiven Studienerfolg repräsentiert. Für diese Aufgabe ist das System auch operational in Einsatz gekommen.

Allgemeine Systeme können als eleganteste Lösung angesprochen werden. Zur Zeit ist "Legol" in Entwicklung, welches in einer Pilotversion auf verschiedenen Applikationen angewendet wird. Ein Beispiel ist der Einsatz von Legol für die Definition des Terminus "Familie" im Beihilfenwesen, Zur Darstellung der Bedingungen, in Legol "Regeln" genannt, müssen für jedes Objekt Beginn und Ende mit Zeitpunkt festgelegt sein. Dadurch können zeitliche Operatoren (während bevor, nachdem etc.) einfach und effizient definiert und angewendet werden.

Semantische Netzwerke stellen eine Anwendung der "artificial intelligence" auf juridische Begriffe dar. Diese Netze können leicht erweitert werden und reflektieren somit ausgezeichnet das Problemlösungsdenken des Juristen. Sie sind daher mehr für juridische Verfahren als für Verwaltungsautomatisierung geeignet, da es gerade diese Flexibilität und Erweiterbarkeit ist, welche semantische Mehrdeutigkeit ins System einbringen kann.

Softwaretechniken und Semantik

Strukturierte Programmierung stellt eine einleuchtende Analogie zur Strukturierung der Gesetze dar. Aber Ähnlichkeit im Aufbau sagt noch wenig aus, vielmehr muß die volle Semantik in die Semantik des Programmes abgebildet werden. Diese Semantik ist grundlegend verschieden: Programmiersprachen sind bis ins kleinste genau definiert; Gesetze haben mit Absicht einen Bedeutungsinhalt, der ungenau und weitreichend gehalten wird. Es wäre illusorisch, anzunehmen, daß vage und vielfach vernetzte Begriffe auf einfache Art in Computerprogrammen abgebildet werden können.

Je weniger ein Ansatz pragmatisch ist, und je mehr er versucht, die tiefe funktionale Relation von Programmierung und Recht zum Ausdruck zu bringen, desto höhere Ansprüche stellen sich an die Theorie. In diesem Fall muß von Seiten der Rechtswissenschaft sicher noch die Theorie der Strukturierung, Formalisierung und Algorithmierung des Rechtes vertieft werden, da nur, dann die Schnittstelle zur Datenverarbeitung hin genau genug spezifiziert werden kann. Dabei muß bedacht werden, daß die Versuche zur Logifizierung des Rechts das juridische Problemlösen im weiteren Sinn betrachten. Für sie ist die Frage einer möglichen Verwaltungsautomation nur ein Teilaspekt des anvisierten Problemkreises und steht nicht im Vordergrund des Interesses.

Automationsgerechte Normensetzung ist ein ausgesprochen pragmatischer Ansatz zur Lösung dieses Problems. Für viele Jahre ist es als allgemeines Heilmittel angesehen worden, daß man die Gesetze so klar machen könnte, daß sie sich leicht modellieren lassen. Heute hat man erkannt, daß aus Gründen verschiedener Semantik auch beim besten Willen des Gesetzgebers nur ein Teilerfolg erreicht werden kann. Daß allerdings der Fortschritt in den vergangenen Jahren derartig entmutigend gering war, kann auch nicht allein mit Semantik erklärt werden, Manchmal ist diesem Ansatz entgegengehalten worden, daß sich das System dem Benutzer und nicht der Benutzer dem System anzupassen habe. Das ist sicherlich eine wichtige Maxime heutiger Datenverarbeitung, soll aber nicht vergessen lassen, daß Disziplin in der Formulierung der Gesetze beiden, dem System und dem Benutzer, zugute kommen.

Beurteilung der Methoden und Ansätze

Die Methoden und Ansätze können nach verschiedenen Kriterien beurteilt werden. Im einzelnen von Interesse sind Eigenschaften wie:

- Eindeutigkeit in der Darstellung und Bedeutung;

- Möglichkeit zur Überprüfung der Korrektheit;

- Formalisierung in Ausmaß und Tiefe;

- Generalisierung in Ansatz und Anwendungsbreite;

- Orientierung des Systems an den Wünschen des Endbenutzers;

- Verständlichkeit für einen DV-Laien;

- Beweisbarkeit des semantisch richtigen Verhaltens;

- Möglichkeiten zur Operationalisierung;

- Eignung des Modelles zur Automation;

- Effizienz des Systems.

Eine Bewertung nach diesen Kriterien eröffnet die Möglichkeit, die Chancen künftiger Entwicklungen abzuschätzen. Sprachen- und Datenbanksysteme zur Modellierung rechtlicher Vorschriften dürften auf lange Sicht hin die beste Lösung im Verwaltungsinformationssystem werden. Dabei wird der Trend von Funktionsklassensystemen zu General-purpose-Systemen und wieder zurück zu Spezialsystemen führen.

In der konkreten Anwendung wird vorläufig weiterhin die klassische Methode der Delegation an den Programmierer dominieren. Allerdings werden moderne Softwareentwürfe und computerunterstützte, projektbegleitende Dokumentationsverfahren die krassen Schwächen dieses Ansatzes mildern.

Unter dem Gesichtspunkt der Integration, sicherlich unter Einbezug der Textverarbeitung, könnten juridische Information-Retrieval-Systeme auch im Gebiet Verwaltungsautomation Bedeutung erlangen; allerdings nicht als Basis der Algorithmen, sondern für die weitere Auswertung und Nutzung der gespeicherten Daten. Die primäre Bedeutung von juridischen Information-Retrieval-Systemen und semantischen Netzen wird aber weiterhin im computerunterstützten Problemlösungsverfahren liegen.

Die funktionale Relation von Software und Gesetzgebung wird stärker als bisher Theorie und Praxis herausfordern. Die Umsetzung in operationale Konzepte ist ein langer Weg, Als ein erfolgversprechender Ansatz bietet sich die Definition der Schnittstelle, insbesondere deren Untersuchung auf Systematisierung und Normung an. Ein Anschluß zu computerunterstützten Designmethoden von Anwendungssoftware, bietet sich an. Der hohe Integrationsgewinn im Designprozeß wäre der Preis für einen sicher noch hohen Aufwand in Forschung und Entwicklung. Optimistisch gesehen kann die schnelle Verbreitung von Entscheidungstabellentechniken als Zeichen der Akzeptanz einer solchen neuen Denkweise in der Verwaltungsinformatik gewertet werden.

Automationsgerechte Gesetzgebung ist als Forderung und Richtlinie anerkannt. Wie weit sie sich durchsetzt ist fraglich. Der Autor ist der pessimistischen Ansicht, daß Komplexität, Sachzwänge und Zeitdruck vereint auch in Zukunft immer wieder rechtliche Vorschriften, entstehen lassen, welche der Datenverarbeitung das letzte an Kapriolen abverlangen.