Technik-Optionen nicht durch Tabus ausbremsen

21.08.1987

Hanns-Martin Jepsen, Ministerialdirektor im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr München

Vertragen sich unsere kulturell tradierten Wertvorstellungen, unser Menschenbild, mit der Entwicklung der neuen Techniken und ihrem Einfluß auf das Selbstverständnis des Menschen als kulturschaffende Wesen?

Die moderne Technik ist eine Herausforderung an unsere gesamte Gesellschaft und löst Veränderungen aus, die über die Bereiche von Schule und Betrieb hinausgreifen auf Erfahrungs-, Denk- und Vorstellungsgewohnheiten in der Familie, in der Freizeit und im Alltag. Wahrend sich jedoch die Techniken in immer größerer Geschwindigkeit fortentwickeln, wirft ihre Anwendung in vielen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen Probleme auf, deren Bewältigung mit diesem Tempo nicht Schritt halten kann. Die Anwendung neuer Techniken wird dadurch gebremst, und es kommt zu Reibungen und Konflikten. Die Frage der sozialverträglichen Gestaltung stellt sich immer wieder aufs neue - und sicherlich zu Recht.

Wichtig scheint mir jedoch, daß die Abwägung von Gestaltungsoptionen nicht durch Tabus verschüttet wird. Dies ist zugleich die wichtigste Forderung, die wir bei der Diskussion um die Anwendung neuer Techniken immer im Auge behalten müssen. Denn Wandel - das lehrt uns die Geschichte - ist das einzig Bleibende. Wäre es da nicht töricht, wenn wir uns selbst der Möglichkeiten berauben wurden, diesen Wandel in freier Entscheidung und Selbstverantwortung mitzugestalten?

Dies zu ermöglichen, muß das Ziel unseres gesellschaftlichen Handelns sein. Dazu soll uns die Bildung befähigen, und eben diese Möglichkeiten zur teilnehmenden Gestaltung müssen den Menschen auch an ihrem Arbeitsplatz in vermehrtem Maße eröffnet werden.

So gesehen entsprechen die durch die neuen Techniken gebotenen Gestaltungsmöglichkeiten durchaus auch unserem Bild des Menschen, der in Freiheit und Selbstverantwortung seine Entscheidungen für die Zukunft trifft. Mehr noch: Wir kommen dem Ziel der freien Entfaltung der Persönlichkeit immer näher - näher jedenfalls, als es bisher in der Geschichte der Menschheit möglich war.

Wo liegen dann aber die Schwierigkeiten, die uns daran hindern, Gestaltungsoptionen wahrzunehmen? Zum einen ist es wohl das mangelnde Wissen um die Möglichkeiten, zum anderen sind es Wertvorstellungen, deren Kategorien zur Beurteilung neuer Situationen nicht adäquat sind und damit entscheidungshemmend wirken.

Traditionelle Werte wie Fleiß, Ordnung und Disziplin geraten mehr und mehr in Gegensatz zu Werten, die aus der Kultur- und Freizeitsphäre kommen, wo Expressivität, Spontaneität und Kreativität gefordert werden. Dieser Wertewandel - weg von Pflicht und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten - muß jedoch nicht zwangsweise als Verfallserscheinung betrachtet werden.

Kreativität und Selbstentfaltung - Werte, die bei der Jugend hoch im Kurs stehen - können auch als instinktive Antizipation künftiger Entwicklungen interpretiert werden. Wir müssen uns daher fragen: Korrespondieren sie vielleicht nicht sogar besser mit den neuen Qualifikationsanforderungen? Harmonieren sie nicht vielleicht stärker mit der von uns selbst erhobenen Forderung nach ständiger Weiterbildung, nach lebenslangem Lernen?

Ich bin der festen Überzeugung, daß wir den sich vollziehenden Wertewandel in der Jugend nicht von vornherein und ungeprüft als Niedergang des gesellschaftlichen Wertesystems verdammen dürfen. Wir errichten sonst Barrieren und Tabus, die uns den Blick auf Zukunftsoptionen nehmen, die uns bei näherem Hinsehen eigentlich als erstrebenswert erscheinen müßten.

Wie steht es nun um die Annahme und die Gestaltung des technischen Wandels in den Betrieben? Technischer Wandel und strukturelle Veränderungen sind stete Begleiterscheinungen effizienten Wirtschaftens. Ihre Reichweite und Auswirkungen vervielfachen sich, wenn sich dieser Vorgang mit Basisinnovationen verbindet, wie sie für die "dritte technische Revolution" kennzeichnend sind. Es verändern sich Wirtschaftssektoren, Berufe und Berufsinhalte; eine ständige Anpassung beziehungsweise eine Neugestaltung ist nötig.

Daher muß die Frage erlaubt sein, ob wir nicht - gerade mit den Möglichkeiten der neuen Techniken - mehr Gestaltungsoptionen in den Betrieben hätten realisieren können, als dies tatsächlich der Fall ist. Ich denke hier insbesondere an die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsorganisation.

Sicher sind die Gegebenheiten in den einzelnen Branchen unterschiedlich. Wir sollten uns jedoch vor der verkürzten Betrachtungsweise hüten, die nur die Folgen technischer Innovationspotentiale berücksichtigt. Mindestens genauso wichtig und ökonomisch relevant sind die organisatorischen und sozialen Innovationspotentiale, die sich den Unternehmen damit eröffnen.

Auch hier stellt sich die Frage: Halten unsere Vorstellungen, etwa bei der Entwicklung neuer Arbeitsformen und Berufsbilder, im erforderlichen Tempo mit? Behindern uns nicht vielfach noch Statusprobleme, Mobilitätsbarrieren, Gruppenegoismen und Vorurteile?

Es wäre für unsere Jugend verhängnisvoll, wenn wir vorschnell das Potential an Entfaltungsmöglichkeiten beschneiden würden. Lassen wir uns daher nicht von den Technik-Skeptikern beeinflussen. Auf der Klaviatur des Pessimismus und der Fortschrittskrise spielen professionelle und virtuose Kassandras. Sie fördern alles, was aus rationaler Beurteilung und schöpferischer Perspektive dumpfe, ängstliche Emotionen macht.

Moralische Gebären finden immer ihr Publikum. Die Gefahr hierfür wächst, wenn Fortschrittskrisen nicht als schöpferische Unruhe erkannt werden, die eine Quelle für neue Kraft zur positiven Veränderung, zur besseren Gestaltung werden können, wenn wir es nur wollen.

Gekürzte Fassung des Vortrags "Technik verändert Schule und Betrieb" auf dem Kongreß "Lernort Schule - Lernort Hochschule - Lernort Betrieb" des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Verkehr am 4. August 1987 in Grainau.