Soziale Netze statt anonymes Internet

12.11.2004 von Dieter Rappold
Unter dem Schlagwort Social Software beschreitet die Web-Gemeinde neue Wege, persönliche Kontakte zu pflegen und Interessensnetzwerke zu flechten. Techniken wie Weblogs oder Wikis sind ihre Hilfsmittel.

Die "digitale Revolution" hat bisher nur die Computer erfasst, nicht die Menschen. Zwar verbreiten sich Computer und Software immer rasanter über den Erdball. Ihre Anwendung wird aber nicht einfacher, da Programme immer noch nach dem Paradigma "Added Feature = Added Value" entwickelt werden.

Neue technische Möglichkeiten und vor allem neue Denkansätze geben uns aber die Chance, Probleme zu lösen, statt durch überbordenden Funktionsreichtum neue Probleme zu schaffen. Ziel ist eine radikale Abkehr von herkömmlichen Mustern, hin zum User-centric-Design sowie zu Applikationen, die sich an den zentralen Bedürfnissen der Benutzer orientieren.

In diesem Zusammenhang trat der Begriff "Social Software" Ende 2002 erstmals ins breite Bewusstsein einer Branche. Auslöser war eine Mitteilung des Unternehmensberaters und bekannten Bloggers Clay Shirky auf dem Social Software Summit in New York: "Jedes Mal, wenn Social Software verbessert wird, verändert das die Art und Weise, wie Gruppen arbeiten und zusammenfinden. Ein beständiger Aspekt von Social Software ist das Faktum, dass es unmöglich ist, die soziale Dynamik vorauszusehen, die von ihr ausgehen wird ..."

Clay Shirky definiert Social Software über zwei Axiome:

  1. Social Software behandelt Gruppen von Menschen anders als Paare

  2. Social Software behandelt Gruppen von Menschen als primäre Objekte innerhalb des Systems.

Doch alle Definitionen in diese Richtung beschäftigten sich zu sehr mit der Software und Technologie und zu wenig mit dem Faktor "sozial". Hierzu eine Analogie: Über Jahrtausende hat sich die menschliche Gesellschaft prinzipiell nicht geändert.

Zueinander finden

Ein Großteil der Anstrengungen, die technologische Weiterentwicklung eingeschlossen, entsprang und entspringt dem Begehren, sich zu "vergesellschaften", "to socialize". Und unser Netzwerk an Straßen oder Schienen, an telegraphischen Leitungen und schließlich das Internet dienen primär dazu, leichter und schneller mit Menschen in Kontakt zu treten. In diesem Sinne ist Social Software lediglich Software, die Menschen den Kontakt untereinander einfach und rasch ermöglichen soll. Wobei Social Software, genauso wie die Straßen, nicht die Verbindung kontrolliert, sondern diese lediglich zur Verfügung stellt.

Hieße das zum Beispiel, dass Social Software bereits bei der "cc"-Zeile einer E-Mail beginnt? Darüber lässt sich streiten. Aber für die Zukunft von Social Software sind folgende drei Prämissen wichtiger:

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass traditionelle Software ein Projekt, eine Aufgabe, eine Organisation und Ähnliches an die erste Stelle setzt, während Social Software sich auf das Individuum fokussiert und nicht danach fragt, was die Technik vermag, sondern was der Mensch braucht. Daher stellen Social-Software-Applikationen immer die Verbindung des Individuums mit Personen oder Personengruppen seiner Umwelt her. Der Dreh- und Angelpunkt ist die Person, das Ziel ihre Vernetzung.

Das Internet ist nur der letzte Beweis von vielen, welche Kraft und welche Dynamik von vernetzten Strukturen ausgehen. Große Teile der Lebensbereiche in einer westlichen Welt sind heute ohne Internet nicht mehr denkbar. Wirtschaftliche Prozesse funktionieren dank TCP/IP, WWW, FTP und Co. schneller und effizienter denn je.

Leben im Netzwerk

Das Netzwerk ist omnipräsent im vernetzten Denken, im persönlichen Networking, in der Globalisierung und leider auch in den Netzwerken des Terrors. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und das Internets sind wir mehr denn je in der Lage, große, sozial dominierte Netzwerke, deren Typologien und ihre Effekte zu beobachten, und daraus zu lernen.

Gerade jene Garde junger, dynamischer Unternehmen aus dem näheren Umfeld "Social Software" ordnen sich drei grundsätzlichen Prinzipien unter:

Durch den Einsatz einheitlicher und offener Standards wird es möglich, ein Netzwerk von Services zu schaffen, die miteinander kommunizieren und Daten austauschen können, anstatt einzelne Systeme mit zahlreichen Funktionen zu schaffen. Damit wird die Fokussierung, die stärkere Konzentration auf bestimmte Funktionen möglich. Die Ziele, die dabei mit den Services verfolgt werden, sind gänzlich unterschiedlich.

Weblogs und Wikis sind der Nukleus der Social Software. Nicht nur, weil die Entwicklung des Begriffes in Weblogs stattgefunden hat, sondern weil mit der Entstehung von Weblogs das "anonyme" Internet durch ein Netz von Identitäten ergänzt wurde. Hinter jedem Weblog steht eine Person, in manchen Fällen zwar mit Pseudonym, aber dennoch stark mit der "virtuellen Heimat" verbunden. In Weblogs wird Meinung geäußert und Stellung bezogen. Durch einfache Technologien, die das Publizieren für jeden leicht machen, wird all dies erst möglich. Wikis sind von ihrer Natur eher für ein kollaboratives Umfeld gedacht, folgen jedoch denselben Paradigmen.

Aus Amerika kommend, hat sich der Gedanke der Weblogs auch in Europa sehr schnell verbreitet. Hosting Services wie twoday.net reduzieren das Publizieren im Internet auf das Wesentliche: das Schreiben. Durch den frühen Einsatz von standardisierten Datenformaten und Schnittstellen florieren Services und Unternehmen, die sich direkt oder indirekt mit Weblogs befassen. Die Nähe zu Konzepten, die schon Tim Berners-Lee, der Urvater des Web, vorschlug, lassen die Vermutung zu, Weblogs könnten das lange gesuchte Front-End zum Semantic Web sein. Mit ihnen werden Informationen erstellt und publiziert. Sie sind das Tool, um neue Informationseinheiten zu verbreiten und weiterzugeben.

Online-Tools helfen vernetzen

Um Informationen zu sammeln, werden gerne Feedreader eingesetzt, die ein standardisiertes, XML-basierendes Format (RSS) einlesen. Dies kann entweder über ein Online-Interface geschehen wie beispielsweise Bloglines (http://www.bloglines.com) oder über ein Programm, das lokal auf dem Computer installiert wird wie etwa Feeddemon. Diese Programme ermöglichen es dem User, Informationen zu sammeln sowie auf einfache Art und Weise zahlreiche Informationsquellen zu verfolgen. Hinter den Informationen stehen wiederum Personen, die als Knoten im sozialen Netzwerk aufgefasst werden können.

Um aus der Flut der Informationen die wirklich relevanten herauszufiltern, versuchen wir, sie in einen Kontext zu stellen. Social Software verwendet dazu ebenfalls das soziale Netzwerk. Dienste wie del.icio.us oder Kinja bieten Usern die Möglichkeit, öffentliche Bookmarks anzulegen, denen sich Kategorien zuordnen lassen und die verschlagwortet werden. Der Service bietet die einfache Administration dieser Listen und erstellt automatisch Hitlisten der beliebtesten Links, visualisiert die Themenlandschaften und stellt Verbindungen her.

Rund um den Dienst haben User komplementäre Services entwickelt, die beispielsweise eine einfachere Kategorisierung der Dienste oder Backup-Funktion ermöglichen. Auch Technorati oder Waypath versuchen, aus der Natur des hypermedialen Internets Angaben über die Vernetzung von Informationen und damit auch Personen zu ziehen. Neue Modelle entstehen ständig, hier sind sicherlich noch interessante Anwendungen zu erwarten.

Zum Thema Umgang mit Informationen - und darum geht es letzten Endes im Rahmen von Netzwerken - beschreibt Ben Shneiderman in seinem Buch "Leonardo’s Laptop" vier menschliche Basisaktivitäten und damit Grundbedürfnisse: Collect, Relate, Create und Donate. Und fast magisch scheinen sich Social Software Services in diese Typologie einzuordnen. RSS-basierende Newsdienste und Suchmaschinen sammeln Daten, Technorati, Waypath und andere Dienste vernetzen diese.

Der kreative Prozess bleibt dabei beim einzelnen Anwender, und via Publishing-Tools wie Weblogs und Wikis werden die neuen Memos wieder verteilt. Insofern versucht jede erfolgreiche Social Software, einfach und leicht zu bedienende Applikationen zu bieten, die es dem User ermöglichen, sich mit anderen zu vernetzen - aus der Isolation des Desktops hinaus in die Welt des Netzwerks.

Erste Nutzer, erste Fehler

Die Prinzipien und Grundlagen aus dieser Entwicklung werden in Zukunft verstärkt in unseren Alltag integriert sein und somit massiv die Art und Weise beeinflussen, wie wir Kontakte knüpfen, pflegen und uns austauschen. Wir sehen, dass diese rasante Entwicklung jetzt schon die Early Adopter, die intensiven Nutzer des Internets, erfasst. Wir sehen auch die Fehler, die gemacht werden, wie zum Beispiel das Auftauchen neuer Dienste zum Networking wie LinkedIn, Orkut und Ähnliche, die von den Massen gestürmt werden, die zahlreiche Neuregistrierungen vermelden und nach wenigen Wochen sehr verwaist wirken.

Man legt in solchen Netzwerkdienste eine Visitenkarte an, gibt seine Daten ein, vernetzt sich und wartet. Aber worauf? Soziale Netzwerke im Internet bilden sich laut David Weinberger automatisch oder gar nicht. Wer versucht explizit zu machen was so herrlich implizit und unscharf ist, wird scheitern. Die Dienste sind eher Baustein einer größeren Social Software. Es ist aber gut, Know-how darüber zu sammeln, wie Menschen vernetzt sind und vernetzt werden können. Blogs sind aber ein wesentlich besseres Tool, weil die Vernetzung automatisch passiert und nicht das primäre Ziel ist.

Das Gute ist, dass die Entwicklung sehr rasch ist und Fehler aus der jüngsten Vergangenheit zum Teil noch gut im Gedächtnis geblieben sind. Social-Software-Dienste werden bestehende und gelernte Kommunikationsformen wie Chat, E-Mail oder Foren ergänzen, aber nicht von heute auf morgen ablösen. Genauso wie es nach wie vor die Festnetztelefonie oder den guten alten Brief gibt. Aber die Prinzipien der Social-Software werden bestehende Kommunikationsformen massiv beeinflussen und diese hoffentlich im Sinne des Anwenders verbessern.