Software: Ein unsicheres Geschäft

08.08.2002 von Gerhard Holzwart
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Seit fünf Quartalen kämpft die IT-Industrie nun schon mit der Krise - ein Umstand, der nicht zuletzt auf den Einbruch des Softwaremarkts zurückzuführen ist. Immer mehr Experten setzen sich verstärkt mit der Zukunft der Softwarebranche auseinander. Ergebnis: Der Markt könnte vor einer nachhaltigen Konsolidierung stehen, bietet aber weiterhin gute Wachstumschancen.

Das Problem ist hinlänglich bekannt und tickt seit Monaten wie eine Zeitbombe: Siebel, i2, Oracle.com, SAP & Co. kämpfen nicht nur mit der flauen Konjunktur, sondern sehen zunehmend auch ihr Image als Vertreter einer Wachstumsbranche per excellence bedroht. Letzteres lässt sich natürlich schon alleine an den jüngsten Quartalsberichten und den fallenden Aktienkursen festmachen, manifestiert sich aber immer häufiger auch in kritischen Einschätzungen von Branchenkennern und Finanzanalysten. Bereits Ende Mai hatte die US-amerikanische Investmentbank Goldman Sachs ihre kurz- und mittelfristigen Prognosen für die 25 wichtigsten Softwaretitel deutlich reduziert, vor kurzem folgte Morgan Stanley mit einer ähnlich pessimistischen Analyse. Wenn nun auch der deutsche Branchenprimus SAP, der lange Zeit den Eindruck erweckte, gegen die allgemeine Rezession immun zu sein, mit einem vergleichsweise deutlichen Wachstumsknick rechne, könne dies nicht mehr nur als eine konjunkturelle Delle betrachtet werden, hieß es. Die Softwareindustrie befinde sich in einer Krise, die in Wahrheit struktureller Natur sei.

Warnende Stimmen wie diese nehmen in den vergangenen Wochen auffallend zu - und mit ihnen Fragen, die über die bisher gestellte „Wann geht es wieder aufwärts?“ hinausgehen. Zum Beispiel die, ob die Kunden der Softwareanbieter auch in Zukunft akzeptieren werden, dass „ihr Lieferant“ Umsatzrenditen von 35 Prozent und mehr erzielt. Die momentane Investitionszurückhaltung des IT-Managements und der Trend zu deutlich kleineren Aufträgen und Projekten seien deshalb nicht nur Ursache der vielerorts eingefrorenen IT-Budgets, sondern auch die eines nachhaltigen Umdenkens, mutmaßen Beobachter. Immer weniger Anwenderunternehmen seien bereit, hohe Millionenbeträge für die Einführung neuer Softwareprogramme ohne Garantie eines Return on Investment (RoI) in die Hand zu nehmen. Mit anderen Worten: Die - bis dato oft isoliert betrachtete - Wertschöpfung neuer Software steht auf dem Prüfstand.

Vergleich mit der Automobilindustrie

Für die einschlägige Anbieterszene könnte dies, so malen es einzelne Untergangspropheten an die Wand, dramatische Konsequenzen haben. Einige Experten ziehen bereits einen historischen Vergleich zur Automobilindustrie, die Anfang des vorigen Jahrhunderts mit mehr als 300 Herstellern einen explosionsartigen Boom erlebte und mittlerweile auf gut ein Dutzend Firmen zusammengeschmolzen ist.

Jetzt könnte die Softwarebranche vor einer nachhaltigen Konsolidierung stehen - in mehrfacher Hinsicht. Einerseits müssten sich die Anbieter mittelfristig im reinen Produktgeschäft auf „normale“ Wachstumsraten im einstelligen Bereich einstellen, andererseits sei der Lizenzverkauf alleine ohnehin nicht mehr zukunftsträchtig. Besagter Nachweis des RoI, die Konsolidierung vorhandener IT-Umgebungen sowie der bei den Anwendern nach wie vor verbreitete Wunsch nach „Best-of-Breed“-Lösungen erforderten spezielles Integrations- und damit Dienstleistungs-Know-how. Bei vielen Softwarefirmen heutiger Prägung dürfte dies aber, so die Befürchtung, einer Quadratur des Kreises gleichkommen.

Zu ähnlichen Schlüssen gelangt auch McKinsey in seinem jüngsten „Quarterly“, das den Titel „A hard Turnaround for Software“ trägt. Das gesamte Segment der IT-Industrie sei im Prinzip Getriebener der eigenen Entwicklung. Fast alle heute bedeutenden Softwareanbieter hätten ihre Business- und Produktstrategie ausschließlich auf den Gewinn von Marktanteilen ausgerichtet.

Verhängnisvolles Wachstum

Konkret heißt das: Unzählige Akquisitionen, regionale Ausdehnung, Eroberung neuer Kundenschichten und Marktsegmente sowie exzessiver Ausbau der eigenen Entwicklungs- und Vertriebskapazitäten. Das Fatale dabei ist: Wie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig wurde dieser „Goldrausch“ lange Zeit von der Nachfragesituation (Jahr-2000- und Euro-Umstellung, Internet-Boom) getragen. Und auch an der Börse gab es zunächst nur Schulterklopfen: Renditen auf das eingesetzte Kapital von mehr als 50 Prozent sowie der allgemeine „Bubble“ an den Aktienmärkten ließen die Kurse ins Unermessliche steigen.

Jetzt, in der Rezession, bekämen aber, so McKinsey, viele der Himmelsstürmer die Rechnung präsentiert: Zu viele Mitarbeiter, zu großer Overhead, zu hohe Kosten - und zum Teil aufgrund veränderter Marktbedingungen auch die falschen Produkte. Denn neben der Tatsache, dass man Speck angesetzt habe, sei der eine oder andere Anbieter auch damit konfrontiert, dass er sich „von seinen Kernprodukten und seiner Stammkundschaft entfernt hat“. Angesichts zum Teil beträchtlicher Verluste befänden sich viele Companies nun in einem Teufelskreis: Der Aktienkurs ist im Keller, Finanzmärkte und Kunden haben kein Vertrauen mehr, niedrige Umsätze und negative Marktaussichten lassen aber keine Trendwende erkennen.

IT-Ausgaben - Ein Perpetuum mobile: Der Bedarf regelt die Nachfrage - und umgekehrt. Insofern braucht der IT-Branche laut PWC auch in Zukunft nicht bange zu sein.

Grundsätzlich sei daher, wie es in der McKinsey-Analyse weiter heißt, die schnelle „Turnaround“-Fähigkeit der Softwarebranche in Zweifel zu ziehen. Ihre wenig schmeichelhafte Einschätzung untermauern die Consultants auch statistisch: So hätten sich zwischen April 1990 und April 2001 nur 64 von insgesamt 492 börsennotierten Softwarefirmen, deren Kursentwicklung für zwei Jahre und mehr um mindestens 50 Prozent unter der Steigerung des für die Branche als repräsentativ geltenden Standard & Poors (S&P) Computer Software & Services Index gelegen hatte, an der Börse wieder schnell und signifikant erholt. Auch die übrigen Kennziffern dieser Statistik lassen kaum Raum für Interpretationen: 73 der untersuchten Companies wurden inzwischen von einem Wettbewerber übernommen; 292 weisen für die zurückliegende Dekade im Vergleich zum S&P-Branchenindex eine deutlich schlechtere Performance aus.

Wer den Turnaround geschafft hat

Gleichzeitig nennt McKinsey aber auch Beispiele prominenter Softwarefirmen, die den schnellen Weg aus einer existenziellen Krise fanden. Etwa den ERP-Spezialisten Peoplesoft, der sich 1998 nach einer übertriebenen Expansionspolitik und einer vorübergehenden Marktsättigung im ERP-Segment mit einigem Erfolg auf die Weiterentwicklung respektive Internet-Anbindung seiner Kernsuite „Peoplesoft 8“ konzentriert habe.

Ein ähnliches Muster gelte für Lotus, das sich Anfang der 90er Jahre mit seinem Tabellenkalkulationsprogramm „1-2-3“ der übermächtigen Konkurrenz von MicrosoftsExcel“ ausgesetzt sah und noch vor der Übernahme durch IBM mit Hilfe der Groupware-Plattform  „Notes“ in ein strategisch aussichtsreicheres Markt- und Kundensegment wechselte. Jüngster Fall eines gelungenen Turnarounds könnte, so McKinsey, Ariba werden. Der kalifornische Anbieter von E-Procurement-Software habe sich vom Hype um elektronische Marktplätze gelöst und konzentriere sich bei der Produktentwicklung wieder auf das, was er seinen Kunden ursprünglich versprochen habe: signifikante Kostenvorteile im Beschaffungswesen.

Bleibt die Frage, ob viele Softwarefirmen in Zeiten wie diesen überhaupt eine „zweite Chance“ erhalten. Denn was beim aktuellen McKinsey-Report nur unterschwellig zum Ausdruck kommt, sprechen Marktforschungsunternehmen wie Gartner Dataquest längst deutlicher aus: Trotz des vielfach gesungenen Hohelieds auf „Best of Breed“ dürfte der Trend zum „All-in-one“-Anbieter zunehmen. Vorboten dieser Entwicklung sind längst erkennbar: SAP als ehedem klassische ERP-Company sagt Spezialisten wie i2 und Siebel in deren Segment den Kampf an; Datenbankgigant Oracle drängt ins Applikationsgeschäft.

Dazwischen hat sich jedoch mit dem Thema Middleware und Enterprise Application Integration (EAI) eine Art Vakuum gebildet - Chance und Risiko zugleich für neue Anbieter, die sich in diesen Zukunftsmarkt wagen. Und über allem schwebt der „Glaubenskrieg“ der Softwarearchitekturen von morgen - Microsofts .NET, IBMs Interpretation der „Web-Services“, Sun Microsystems „Open Network“ und Oracles „Network Services“.

Dies zumindest ist die Auffassung der Experten von PWC, die in ihrem unlängst erschienenen „Technology Forecast 2002-2004, Navigating the Future of Software“ die Softwarebranche wieder einmal vor gravierenden technologischen Umbrüchen sehen - und ihre Erkenntnis mit der rhetorischen Frage verbinden, welche Plattformen und Anwendungen die IT-Investitionen in den kommenden Jahren wieder beflügeln werden. Glaubt man den Kernaussagen dieser jüngsten PWC-Studie, braucht es den betreffenden Herstellern jedenfalls nicht bange zu werden.

Konsolidierung ist das Gebot der Stunde

Demnach dürfte die IT und damit in erster Linie Software mehr als je zuvor als Erfolgsfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen betrachtet werden. Der Fokus liege dabei jedoch mehr auf der Zusammenarbeit über Firmengrenzen hinweg und in der Konsolidierung unterschiedlicher Umgebungen. Entscheidende Parameter für künftige Unternehmensanwendungen werden demnach drei Modelle sein: Anwendungsintegration, Komponententechnologie und Web-Services. „In den letzten Jahren hat eine zunehmende Zahl von Teilsystemen, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, die Komplexität der IT-Infrastrukturen insgesamt erhöht. Nun konzentriert sich die IT-Industrie wieder auf die Entwicklung der Instrumente und der Infrastruktur, die für die Integration von IT-Lösungen in allen Geschäftsbereichen benötigt werden“, lässt sich Kerstin Müller, Partnerin der Corporate-Finance-Beratung von PWC und dort für die IT-Branche verantwortlich, zitieren.

Mit diesen doch eher salbungsvollen Worten dürfte die PWC-Fachfrau vermutlich auch so manchen technologischen Irrweg schöngeredet haben, auf den die Softwarebranche ihre Kunden in der Vergangenheit gelockt hat und den diese zum Teil mit Aufwendungen in Millionenhöhe für das so genannte Customizing haben bezahlen müssen. Trotzdem: PWC erkennt keinen nachhaltigen Vertrauensverlust im Markt. Das Klima für IT-Ausgaben werde sich spätestens im kommenden Jahr wieder spürbar verbessern, hieß es bei der Präsentation der Studie vor wenigen Wochen in München.

Ihren Optimismus begründen die PWC-Experten vor allem mit zwei Trends: Einerseits würden Anwendungen zum Beispiel für das Customer-Relationship- oder Supply-Chain-Management in ihrer Funktion, etwa durch die Integration von Tools zur Personalisierung, weiter verbessert. Andererseits könnten künftige Anwendungsszenarien wie etwa Web-Services eine überzeugende Antwort „auf die Defizite bestehender Technologien“ geben. Mittelfristig die größte Stimulanz für den Softwaremarkt erhofft sich jedoch auch PWC vom Thema Mobile Computing. Viele Wireless-Internet-Lösungen und damit auch die Anbieter von morgen kenne man heute noch gar nicht, hieß es bedeutungsschwanger - konkrete Prognosen oder Szenarien blieben die Berater jedoch schuldig. Anwender wie Anbieter würden jedoch gut daran tun, sich in eine „First-Mover“-Position zu bringen.