Was der Einzelhandel vom Online-Handel lernen kann

So verändert die Digitalisierung den Handel

01.06.2017 von Uwe Küll
Lange erschien die Digitalisierung dem stationären Einzelhandel hauptsächlich als Bedrohung. Doch aktuelle Untersuchungen zeigen: Das Ladengeschäft hat Zukunft - wenn die Betreiber vom Erfolg des Onlinehandels lernen.
Mit digitaler Technik hat der Einzelhandel durchaus Chancen gegen den Online-Handel.
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Samstagnachmittag im Schuhgeschäft in der Innenstadt: Der Verkäufer bedient ebenso kompetent wie freundlich. Sofort hat er einen eleganten "Business-Schnürer" parat, nur ist der Schuh einen Tick zu klein. "Kein Problem", sagt der Verkäufer, "laut Computer haben wir das Modell auch in Größe 44 vorrätig.". Doch der Schuh ist nicht zu finden, weder im Regal, noch im Lager - offenbar hat ihn jemand falsch einsortiert. Der Kunde geht verärgert, der Umsatz ist verloren und der Verkäufer genervt. Das Szenario zeigt exemplarisch ein Problem des stationären Handels auf, das sich mit der Nutzung digitaler Technologien lösen lässt.

Einzelhandel unter Druck

Zwar rechnet der Handelsverband Deutschland (HDE) für 2017 im Einzelhandel mit einem leichten Umsatzwachstum von nominal zwei Prozent - doch der größte Wachstumstreiber bleibt laut HDE der Online-Handel. Und die Marktforscher der GFK gehen in einer E-Commerce-Studie davon aus, dass der Anteil des Online-Handels bis 2025 auf 15 Prozent, im Non-Food-Bereich gar auf 25 Prozent steigen wird.

Selbst im Lebensmittelsegment, im dem der stationäre Umsatz bislang am stärksten dominiert, sorgt nicht nur die Einführung von Amazon Fresh in Deutschland für Bewegung. Bei REWE beispielsweise können Verbraucher längst online bestellen - auch per mobiler App. Doch Online als zusätzlicher Kanal ist nicht die einzige Möglichkeit der etablierten Player im Handel, ihre Zukunft zu sichern.

Schließlich verfügen Ladengeschäfte über einige unbestreitbare Vorteile gegenüber dem Versandhandel. Dazu gehört neben der "Instant Gratification", also dem unmittelbaren Glücksgefühl, die Ware in der Hand zu halten, vor allem das haptische Erlebnis beim An- und Ausprobieren. Jetzt kommt es darauf an, diese Vorteile mit den Vorzügen digitaler Technologien anzureichern, die dem potenziellen Käufer helfen, das gesuchte Produkt im Laden schneller und einfacher zu finden, auszuprobieren und zu bezahlen.

Veränderte Kunden

Der Kunde von heute erwartet im Laden eine personalisierte Ansprache, wie er sie vom Online-Shopping gewohnt ist.
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Die Erfahrungen mit dem Online-Einkauf haben die Kunden nachhaltig verändert: Sie sind es gewohnt, eine schier endlose Auswahl, zahlreiche Detailinformationen zum Produkt, klare Aussagen zu Verfügbarkeit oder Lieferterminen und personalisierte Vorschläge mit passenden Ergänzungen oder Alternativen zu einem gewählten Produkt zu erhalten. Kein Wunder also, wenn die Verbraucher zu fast 90 Prozent davon ausgehen, dass die meisten Geschäfte in Zukunft digitale Dienste anbieten werden. Das ergab die aktuelle Studie "Die Zukunft des Einkaufens" von Comarch und Kantar TNS.

Digitale Technik im Laden

Wie digitale Technik einen klassischen Laden beleben kann, zeigt ein Besuch bei Alexander Black, einem Concept-Store, den der Netzwerk- und IT-Dienstleister BT in seinem Forschungszentrum in Adastral Park eingerichtet hat. Hier können Besucher Kleidung anprobieren und sich dabei filmen lassen, wie sie über den Laufsteg spazieren, um anschließend selbst auf einem großen Bildschirm die Außenwirkung des neuen Outfits zu beurteilen oder über Social-Media-Plattformen Freunde nach ihrer Meinung zu fragen.

Legt der potentielle Käufer ein Produkt auf einen Tresen mit integriertem Touch-Screen-Display, erhält er automatisch eine Fülle von Informationen dazu - von der Herkunft über verwendete Materialien und verfügbare Farben bis hin zu Pflegehinweisen. Und, wie bei Amazon, Empfehlungen: Zu diesem Produkt passt auch jenes.

Das Beispiel Mailand

Auch ausführliche Produktinformationen sollte der Laden automatisch bereitstellen.
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Dass die Digitalisierung im Laden über Konzeptstudien hinausgeht, belegt ein Pilotprojekt bei Gallerie Commerciali Italia. Für den Betreiber von mehr als 40 Einkaufs- und Fachmarktzentren hat BT in drei Shopping-Malls im Großraum Mailand eine Kombination aus Infrastruktur-Services, Customer-Relationship-Management- (CRM-) und In-Store-Lösungen implementiert, um die Attraktivität des stationären Handels zu steigern und den Einzelhändlern neue Geschäftschancen zu eröffnen. Eine eigens entwickelte mobile App bietet diverse Services: Kunden können ihr Auto im Parkhaus mit dem "Car Locator" einfacher wiederfinden, über Musik abstimmen, die im Einkaufszentrum gespielt werden soll, und personalisierte Gutscheine erhalten.

Doch damit nicht genug: Das Projekt umfasst darüber hinaus interaktive Promotion-Systeme, die den Kunden nicht nur audiovisuell, sondern auch über den Geruchsinn ansprechen. Die Display-Säulen, die an mehreren Stellen im Einkaufszentrum stehen, erkennen via Kamera Geschlecht und Alter des Kunden und können entsprechende Angebote anzeigen. Die Dame sieht also zum Beispiel eine Handtasche aus der aktuellen Kollektion, und die Promo-Säule strömt dazu dezenten Lederduft aus; das passende Parfum duftet nach Rosen. Der Cheeseburger hingegen, der dem hungrigen Jugendlichen angezeigt wird, riecht lecker nach Bacon.

WLAN und Beacons

Ebenso erwarten die Kunden beim Shopping automatische Empfehlungen.
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Zusätzlich zur WLAN-Infrastruktur, die von den Besuchern kostenlos genutzt werden kann, wurden Kameras und Beacons installiert, so dass der Betreiber der Shopping-Mall nachvollziehen kann, wo sich viele Kunden aufhalten, welche Wege sie gehen, vor welchem Schaufenster sie lange verweilen und vor welchen nur kurz. Mit diesen Informationen lässt sich gezielt daran arbeiten, die Attraktivität des Centers weiter zu verbessern.

Digitaler Laden an der Wall Street

Auch das britische Modelabel Thomas Pink hat die Bedeutung digitaler Daten für das Ladengeschäft der Zukunft erkannt. In seiner Filiale an der Wall Street in New York erfasst der Anbieter exklusiver Herrenoberbekleidung unter anderem mit Video-Sensoren die Waren- und Besucherbewegungen im Laden. Big-Data-Analysen dienen der Prognose des Kaufverhaltens von Kunden sowie zur Optimierung von Ladengestaltung und Arbeitsabläufen. Auch RFID-Tags zur nahezu 100-prozentigen Erfassung des Inventars kommen bei Thomas Pink zum Einsatz. So können zeitintensive manuelle Inventuren vermieden und auch falsch einsortierte Kleidungsstücke schnell wiedergefunden werden.

Allerdings lassen sich solche Lösungen nicht ohne eine leistungsfähige Informations- und Kommunikationsinfrastruktur realisieren, denn es reicht nicht, dem Besucher einfach nur digitale "Touchpoints" im Laden anzubieten. Vielmehr kommt es darauf an, den Kunden vom virtuellen Schaufenster im Internet über Informationssysteme im Laden und die Interaktion mit Verkaufsmitarbeitern bis hin zur - möglicherweise kassenlosen - Bezahlung und zur Auslieferung der Waren ohne Unterbrechungen zu begleiten.

Hilfe zu diesen oder anderen Fragen bietet etwa die Acuitas Digital Alliance. In ihr haben sich Unternehmen wie Intel, BT, RetailNext, NexGen Packaging, SATO Global Solutions und die Valmarc Corporation zusammengeschlossen. Gemeinsam präsentieren die Mitglieder der Allianz in der New Yorker Demo-Filiale von Alexander Black bereits das nächste Digitalisierungs-Szenario: eine interaktive Umkleidekabine. Der Kunde in der Kabine bekommt über ein interaktives Display Vorschläge für passende Kleidungsstücke. Wenn er per Touchscreen auswählt, was er als nächstes probieren möchte, erhält der Verkäufer eine Nachricht auf sein Smartphone oder Tablet. Er kann in der Zwischenzeit im Verkaufsraum andere Kunden betreuen. Das erhöht die Effizienz des Personals und den Komfort für den Kunden. Genau wie im Online-Handel.

In fünf Schritten zum digitalen Ladengeschäft

Digitale Technologien bieten eine Fülle von Möglichkeiten für "reale" Ladengeschäfte. Um sie erfolgreich zu nutzen, brauchen Handelsunternehmen ein klares Konzept und die passenden Maßnahmen, um es zu realisieren:

1. Digitale Kunden einbinden

Beacons ermöglichen die Ortung und unmittelbare Ansprache von Besuchern vor dem Geschäft oder im Laden per Bluetooth und WLAN.

2. Verkaufsmitarbeiter mit mobilen Endgeräten unterstützen

Weil das Online-Angebot immer größer ist als das im Laden, kann ein Verkäufer nicht jede Alternative zu jedem Artikel kennen. Aber er muss im Kundengespräch direkten Zugriff darauf haben.

3. Ladenlogistik digitalisieren

Wenn Kunden in den Laden gehen, erwarten sie Unterstützung und Beratung durch das Personal. Damit dafür mehr Zeit bleibt, können RFID-Etiketten in Echtzeit darüber informieren, welche Waren sich gerade wo befinden. So lässt sich beispielsweise schnell ein Paar Schuhe finden, das ein Kunde in den falschen Karton zurückgelegt hat.

4. Systeme und Daten schützen

Schutz und Sicherheit aller Daten im Laden und im gesamten Unternehmensnetz sind die Grundlage für das Funktionieren der Systeme und das Vertrauen des Kunden.

5. Daten konsequent analysieren

Kunden, die ihre Daten mit Unternehmen teilen, erwarten dafür eine Gegenleistung: Sie wollen schneller, persönlicher und besser bedient werden. Durch die konsequente Auswertung aller relevanten Daten mit speziellen Analysesystemen und die Umsetzung der dabei gewonnenen Erkenntnisse sind Unternehmen in der Lage, diese Erwartung zu erfüllen.