Auswahlkriterien für ERP-Software

So finden Sie das ideale ERP-System

11.01.2012 von Karsten Sontow
Die Auswahl einer ERP-Software ist komplex. Oft ist es eine Entscheidung zwischen Flexibilität und Funktionalität. Tipps finden Sie hier.
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Der Einsatz von ERP-Software zur Unterstützung der Geschäftsprozesse ist heute in der Regel Standard. Allerdings tun sich mittelständische Unternehmen mit der Auswahl einer geeigneten Lösung schwer, weil dieser Prozess nicht zum Tagesgeschäft zählt und Nachfolgesysteme inzwischen im Mittel erst nach knapp 15 Jahren angeschafft werden. Daher verwundert es nicht, dass viele Betriebe mit dem ERP-Auswahlverfahren und den damit verbundenen Entscheidungen Schwierigkeiten haben.

ERP-Anbieter wecken falsche Hoffnungen

Neben der Komplexität, der Tragweite der Aufgabenstellung sowie dem sehr unübersichtlichen ERP-Marktangebot sowie den ERP-Trends, macht vor allem ein Umstand den Suchenden das Leben schwer: Alles auf einmal gibt es nicht, auch wenn die Hersteller in die Marketing-Trickkiste greifen, um anderes zu suggerieren. Die berühmte "eierlegende Wollmilchsau", die alle Anforderungen erfüllt, ist nicht in Sicht.

Tatsächlich sind bei ERP-Software Eigenschaften und Ausprägungen, die sich gegenseitig zum Teil ausschließen, nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Daher kommt es vor, dass Anwenderunternehmen ihre Erwartungen mitten im ERP-Auswahlprozess nach unten korrigieren oder das Anforderungsprofil komplett neu definiert werden müssen. Abgesehen von den Verzögerungen, die in einem solchen Fall entstehen, kann auch die Ernüchterung im Team den weiteren Projektverlauf nachhaltig beeinträchtigen.

Schwere Entscheidungen für das Projektteam

In welchem Ausmaß muss ein Unternehmen auf der Suche nach einer geeigneten Business-Software also mit weitreichenden Trade-Off-Entscheidungen rechnen? Neben den Bereichen Technik, Architektur und Betreibermodell sind es insbesondere die Themen Software- und Anbietereigenschaften, die weitreichende Abwägungsentscheidungen vom Projektteam verlangen. Hier lassen sich unter anderem die folgenden Zusammenhänge aufzeigen:

In den genannten Dimensionen lassen sich die Ausprägungen nicht immer beliebig kombinieren. Betrachtet man beispielsweise die wichtigen Anforderungen nach funktionaler Eignung (im Standard) und Flexibilität der Software. Beide gehören laut aktuellen Studien zu den bedeutendsten Gründen für die Auswahl einer neuen ERP-Lösung.

Je älter die Technik, desto reifer die Funktionen

Ein umfangreiches und ausgefeiltes Funktionsangebot basiert auf langjähriger Erfahrung. Die Ausgestaltung und Optimierung der Funktionen, auf welcher technologischen Grundlage auch immer, kosten jedoch Aufwand. Die Anbieter benötigen also Zeit, um entsprechende funktionale Unterstützung in den zahlreichen ERP-Produkten am Markt umzusetzen. Es überrascht also nicht, dass viele ERP-Systeme, die ein besonders umfangreiches und ausgereiftes Funktionsangebot im Standard aufweisen, im Kern auf einer älteren Softwaretechnologie basieren.

Die wenigsten Hersteller versuchen und schaffen es, ein reifes ERP-System auf einen Schlag neu zu erschaffen und vom Kern bis zur Oberfläche auf eine moderne, technologische Grundlage zu stellen. In vielen Fällen wäre ein solcher Versuch vor dem Hintergrund des zu erwartenden Aufwands sowie der Risiken weder verantwortlich noch wirtschaftlich. Ausgereifte Funktionen finden sich also bei "reiferen" Systemen. Ein Testvergleich von ERP-Systemen kann daher auch sehr hilfreich sein.

Sieben ERP-Produkte im Vergleich
Der Contest, in dem alle Produkte einen Parcour mit acht Testszenarien durchlaufen musste, hat die Stärken und Schwächen der jeweiligen Produkte offenbart. Hier finden Sie eine kurze Zusammenfassung.
APplus von der Asseco Germany AG
Der ERP-Anbieter Asseco hat seine Software-Suite APplus ins Rennen geschickt. Sie richtet sich an Anwender aus den Branchen Produktion, Dienstleistung, Service und Großhandel.
APplus
Stärken <br> + praxisnah<br> + gute Benutzerführung<br><br> Schwächen<br> - Definition des Kalkulationsschemas mit Skripten ist umständlich<br> - Rechnungswesen nur funktional integriert
Canias ERP von der Industrial Application Software GmbH
Das betriebswirtschaftliche Standardpaket Canias ERP von Industrial Application Software ist für mittelständische Anwender vorgesehen.
Canias ERP
Stärken<br> + moderne Architektur<br> + kompakt konstruiert<br><br> Schwächen<br> - Web Shop fehlt<br> - in manchen Abläufen eher etwas konventionell
Epicor 9 von der Epicor Software Deutschland GmbH
Epicor wirbt für seine gleichnamige Softwarelösung mit einer flexiblen und kollaborativen Architektur.
Epicor 9
Stärken<br> + SOA-basierend<br> + Multi-Site-System<br><br> Schwächen<br> - manche Abläufe müssen erst individuell eingerichtet werden
M3 von der Lawson Software Deutschland GmbH
Lawson Software war mit dem ERP-Produkt M3 vertreten. Die Lösung lässt sich um viele Branchenlösungen ergänzen.
M3
Stärken<br> + „echtes“ Multi Site-System<br> + Navigation und Benutzerführung<br><br> Schwächen <br> - in manchen Abläufen eher konventionell<br> - PLM wurde nicht vorgestellt
Microsoft Dynamics AX von der Inway Systems GmbH
Microsoft mischt seit geraumer Zeit mit Dynamics AX den ERP-Markt auf. Im Contest wurde die Lösung vom IT-Partner Inway Systems vorgestellt.
Microsoft Dynamics AX
Stärken<br> + Flexibilität bei der Individualisierung<br> + international einsetzbar<br><br> Schwächen<br> - manche Funktionen sind nur im Prinzip vorhanden
SAP ERP von der T.CON GmbH & Co. KG
SAP stellt den Klassiker im ERP-Geschäft. Beim Contest trat der SAP-Partner T.CON an und präsentierte die ERP-Lösung.
SAP ERP
Stärken<br> + vollständige, umfassende, integrierte Lösung<br> + übersichtliche Benutzeroberfläche<br><br> Schwächen<br> - wirkt in manchen Abläufen etwas aufwändig<br> - Projekt-Management operiert etwas isoliert
Semiramis Comarch ERP Enterprise von der SteinhilberSchwehr AG
Semiramis ist eine etablierte ERP-Lösung von Comarch. Präsentiert und installiert wurde sie vom IT-Dienstleister SteinhilberSchwehr.
Semiramis Comarch ERP Enterprise
Stärken<br> + gute Navigation über Vorgangsketten<br> + unmittelbare Einbindung der Geschäftspartner<br><br> Schwächen<br> - Rechnungswesen wurde nicht vollständig präsentiert<br> - teilweise sehr konventionelle Prozessabläufe

Flexibilität geht zulasten der Funktionalität

Aber welchen Einfluss hat dieser Umstand auf die Flexibilität? Die Flexibilität der jeweiligen Systeme hängt im Wesentlichen von den ERP-Konzepten, also den zugrunde liegenden Techniken sowie Systemarchitekturen ab. Darüber hinaus spielen Betreibermodelle und die Verfügbarkeit geeigneter Anpassungswerkzeuge für Administratoren und Anwender eine Rolle.

Die technologischen und architektonischen Grundlagen für eine hohe Flexibilität der ERP-Software basieren auf jüngeren Gestaltungskonzepten (u.a. Plattformunabhängigkeit, Collaboration, Prozess- und Serviceorientierung). Welche Freiheiten bei der Anpassung an individuelle Anforderungen und Prozesse bestehen, ergibt sich also in besonderem Maße aus der zugrunde liegenden Technologie und damit Alter eines Systems. Dies gilt insbesondere, wenn auch der Folgeaufwand von Anpassungen bei Updates und Release-Wechseln berücksichtigt wird.

Heutzutage müssen Anwenderunternehmen also noch mit der Tatsache leben, dass sehr flexible Systeme in der Regel kein so umfassendes Funktionsspektrum anbieten und Systeme mit sehr ausgereiftem Funktionskatalog zu einer geringeren Flexibilität neigen.

Grundlegende Entscheidungen in der ERP-Auswahl

Ähnliche Zusammenhänge wie bei den Themen Flexibilität und Funktionsumfang finden sich in den anderen aufgezählten Entscheidungsdimensionen.

Wie aber sollen die Entscheider in mittelständischen Unternehmen mit der Erkenntnis umgehen, dass sie mit dem Risiko von Trade-Offs leben müssen, die abzuwägenden Anforderungskriterien nicht immer gut zu operationalisieren sind, und sich der Markt ausgesprochen unübersichtlich darstellt?

Die schmutzigen Tricks der Hersteller
Täuschung und Betrug der Kunden
Falsche Präsentationen und versteckte Kosten: Clevere Hersteller tun alles, um den Anwendern das Geld aus der Tasche zu ziehen.
1. Viel versprechen, wenig halten:
Man glaubt es kaum, aber oft reicht eine imposante Sammlung von nichtssagenden Power-Point-Folien aus, um einem Unternehmen ein neues Software-Paket aufzuschwatzen.
2. Erst unterbieten, dann übertreiben:
Hersteller von Unternehmens-Software bieten den Kunden extrem verlockende Preise an - aber nur, um ihre Verluste später durch überhöhte Gebühren wieder reinzuholen, sobald der Vertrag in trockenen Tüchern ist.
3. Den Kunden im Schwitzkasten:
Sobald die Hersteller ihre Kunden in der Mangel haben, lassen sie sie so schnell nicht wieder los - selbst wenn das einen Tabubruch bedeutet.
4. Die fehlerhafte Rechnung:
Manchmal kostet nicht das, was Sie gekauft haben, sondern das, was Sie nicht gekauft haben und trotzdem in Rechnung gestellt bekommen.
5. Zum Update gezwungen:
Aus geschätzten Kunden eierlegende Wollmichsäue zu machen, ist eine Kunst für sich, die häufig durch Updatezwang in die Tat umgesetzt wird.
6. Der ahnungslose Kunde:
Zugegeben, für ahnungslose Kunden können die Hersteller oft nichts. Wenn Anwender zu viel Vertrauen in die Unternehmen stecken und zu wenig ihren eigenen Verstand bemühen, kommen viele IT-Projekte zu Fall.

Im Wesentlichen müssen sie den bewährten Ansatz einer systematischen, stufenweisen Vorgehensweise zur Auswahl eines geeigneten ERP-Systems mit flankierenden Maßnahmen begleiten. Dazu zählen:

In Summe fordern die Maßnahmen der Projektleitung einiges ab, da viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist und zusätzliche Planungs- und Abstimmungsumfänge einbezogen und abgearbeitet werden müssen. Vor dem Hintergrund des beträchtlichen Investitionsrisikos und der Tragweite der Auswahlentscheidung lohnen sich aber eine gezielte Vorgehensweise sowie der Aufwand. (pg)