Smartball kann ein zweites Wembley-Drama verhindern

08.06.2006
Nicht nur auf dem Platz, sondern auch darum herum wird Technik immer wichtiger. Schieds- und Linienrichter sind schon vernetzt, jetzt diskutieren die Hüter der ehrwürdigen Fußballregeln über Funktechnik in der Lederkugel. Von CW-Redakteur Martin Bayer

30. Juli 1966. In einem dramatischen Weltmeisterschaftsfinale zwischen England und Deutschland läuft die Verlängerung. 101. Minute - der britische Mittelstürmer Geoffrey Hurst von West Ham United zieht beim Stand von 2:2 aus halbrechter Position auf das von Hans Tilkowski gehütete deutsche Tor ab. Der Ball knallt an die Unterkante der Latte und von dort fast senkrecht auf den Rasen. Vor oder hinter die Linie? Auf dem heiligen Grün des Wembley-Stadions herrscht Verwirrung. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst eilt zu seinem russischen Linienrichter Tofik Bachramov. Nach kurzer Diskussion entscheidet der Spielleiter auf Tor für England. Die Briten gewinnen am Ende mit 4:2. Das Wembley-Tor ging in die in Annalen der Fußballgeschichte ein. Bis heute wird leidenschaftlich darüber diskutiert, ob der Treffer zum 3:2 nun regelgerecht war oder nicht. Einen abschließenden Beweis, ob das Leder vor, hinter oder auf der Linie den Boden berührte, hat bis heute niemand erbracht.

Solche Diskussionen könnten in Zukunft überflüssig werden. Das Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen arbeitet im Auftrag der Cairos Technologies AG seit geraumer Zeit an einem "Smartball". Über ein ausgefeiltes Ortungssystem sollen die Schiedsrichter künftig sofort eindeutig klären können, ob der Ball im Tor war.

"Die Technik beruht auf einem Laufzeit-Messsystem", erklärt der für das Projekt zuständige Wissenschaftler René Dünkler. Dabei wird am zu lokalisierenden Objekt - in diesem Fall also im Ball - ein Sender angebracht. Um das Areal, auf dem die exakte Position des Objekts ermittelt werden soll, sind mehrere Empfänger positioniert. Je nachdem, wo sich das Spielgerät gerade befindet, benötigen die Funksignale unterschiedlich lang bis zu den Empfängerstationen. Aus diesen Zeitdifferenzen lässt sich zu jedem Zeitpunkt die genaue Position des Senders/Balls errechnen. Via Funk erhält der Schiedsrichter von diesem Time-Difference-of-Arrival-System (TDOA) ein Signal, sollte der Ball die Torlinie in vollem Umfang überschreiten.

"Den Sender im Fußball einzubauen ist relativ einfach", berichtet Dünkler von seinen Projekterfahrungen. Die einzelnen Stadien mit der notwendigen Technik auszustatten sei dagegen wesentlich aufwändiger. Die verschiedenen Empfängerstationen rund um das Spielfeld müssten exakt synchronisiert sein, da mit dem TDOA-System winzigste Zeitunterschiede gemessen würden. Kleinste Ungenauigkeiten könnten die Ergebnisse bereits verfälschen. Zudem müssten die Fußballarenen mit Hochleistungsrechnern ausgestattet werden. "Wenn ein Sender 2000-mal pro Sekunde ein Signal an zwölf Empfänger schickt und dieses in Echtzeit ausgewertet werden soll, dann braucht man Highend-Systeme", urteilt der Fraunhofer-Wissenschaftler.

Die Entwicklung des Smartball hat viel Zeit gekostet. Bereits Ende April 2003 wurde ein Prototyp im Nürnberger Frankenstadion Vertretern der Fußballverbände vorgeführt. Im vergangenen Jahr folgten weitere Praxistests in Südamerika. Mittlerweile sei das Projekt allerdings so gut wie abgeschlossen und könne in Kürze an den Auftraggeber Cairos übergeben werden, versichert Dünkler.

Noch tun sich die Verantwortlichen der Fußballverbände schwer mit der neuen Technik. Entgegen allen Hoffnungen der Befürworter wird der intelligente Ball anlässlich der diesjährigen Weltmeisterschaft in Deutschland noch nicht eingesetzt. Auf seiner Frühjahrstagung Anfang März in Luzern beschloss das International F. A. Board (IFAB) als Gralshüter der Fußballregeln, zunächst weitere Tests anzuberaumen. Solche technischen Hilfsmittel dürften einzig und allein zur Klärung der Frage herangezogen werden, ob ein Tor gefallen ist oder nicht, hieß es in einer offiziellen Mitteilung des offenbar sehr auf Tradition bedachten Regelkomitees. "Zudem muss eine sofortige Entscheidung möglich sein." In diesem Zusammenhang sollen die Chip-im-Ball-Technik der Cairos Technologies AG sowie ein Digitalkamera-gestütztes Experiment des italienischen Fußballverbands weiter geprüft werden.

"Es wäre schön gewesen, wenn der Funkball bereits bei der WM eingesetzt würde", bedauert Dünkler. Andererseits seien die Beteiligten froh, dass die Entwicklung überhaupt vorankomme. "Auch wenn es langsam geht, es tut sich zumindest etwas." Mit der Beschränkung, nur den Schiedsrichter in kritischen Torsituationen zu unterstützen, vergebe man jedoch die Chance, alle Möglichkeiten der neuen Technik auszuschöpfen. Mit dem Funkchip im Ball ließen sich beispielsweise auch Informationen über Geschwindigkeit und Flugbahn des Leders sammeln.

Zudem sei das System auch darauf ausgelegt, die Spieler zu erfassen, berichtet der Fraunhofer-Wissenschaftler. Die Möglichkeit, den Schiedsrichter bei seinen Abseitsentscheidungen mit der exakten Lokalisierung der Spieler über einen Sender in den Schienbeinschonern zu unterstützen, sei dabei nur ein Aspekt. Darüber hinaus ließen sich unter anderem Informationen über Bewegungsmuster, Sprintgeschwindigkeiten, Ballbesitz und Torschüsse gewinnen.

Die Daten seien für eine ganze Reihe von Adressaten interessant, ist sich Dünkler sicher. Trainer könnten mit den Informationen beispielsweise ihre Trainingsmethoden optimieren sowie die Spieltaktik besser auf die charakteristischen Bewegungsmuster ihrer Elf beziehungsweise des Gegners abstimmen. Außerdem seien die Medien auf Basis der per Funk gesammelten Informationen in der Lage, ihre Statistiken weiter zu verfeinern.

Neben dem Smartball genehmigte die Fifa-Regelbehörde auf Antrag des europäischen Fußballverbands Uefa auch weitere Tests mit einem funkbasierenden Kommunikationssystem zwischen Schieds- und Linienrichtern. Die abhörsichere Verbindung soll es den Referees erlauben, ihre Assistenten zu konsultieren, um schneller Entscheidungen zu treffen. Umgekehrt können die Linienrichter den Spielleiter auf besondere Vorkommnisse aufmerksam machen, die diesem ansonsten entgehen würden. Die entsprechende Technik wurde bereits im Rahmen der diesjährigen Champions-League-Spiele ausprobiert. Zu einem Einsatz zur WM konnten sich die Verbandsfunktionäre indes noch nicht durchringen.

So wünschenswert gerade in umstrittenen Situationen eindeutige Entscheidungen des Schiris auch sein mögen, letztlich bleibt bei all den Funk- und IT-Systemen ein bitterer Beigeschmack. Wird das Sporterlebnis durch die unbestechliche Technik zu steril?, lautet die bange Frage vieler Fußball-Enthusiasten. Was ist, wenn man nicht mehr lauthals auf den Schiedsrichter schimpfen kann, nur weil dieser mit einem Mal seine Entscheidungen hieb- und stichfest mit Hilfe der Technik zu belegen vermag? Wer gibt den Sündenbock ab, wenn Deutschland das Endspiel am 9. Juli in Berlin verliert?

Das Hightech-Leder

Auch ohne Funktechnik stellt der diesjährige WM-Ball "Teamgeist" der Firma Adidas ein Hightech-Produkt dar. Laut den Technikern aus Herzogenaurach weist das Leder eine "revolutionäre Konstruktion aus 14 Panels" auf. Berührungspunkte und Schnittlinien der einzelnen Teile würden damit deutlich reduziert. Das Ergebnis sei eine wesentlich glattere und rundere Außenhaut, heißt es in einer Mitteilung des Sportartikelherstellers. Darüber hinaus habe man die Thermo-Klebetechnik weiter verbessert. Für die Spieler bedeute dies, dass sich der Ball präziser kontrollieren lässt und beim Schuss konstantere Flugeigenschaften aufweist. Adidas hat Teamgeist eigenen Angaben zufolge zusammen mit der Universität Loughborough und in den eigenen Testlabors ausgiebig getestet.