Zurück zum ERP-Standard

Selbstgestrickt ist out

01.06.2010 von Kirsten  Bruns
Modifikationen und Eigenentwicklungen machen SAP-Landschaften komplex und verteuern Wartung, Betrieb und Upgrades.
Foto: Robynmac/Fotolia
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IT-Leiter müssen ihre zentralen Anwendungen schnell und flexibel an Marktveränderungen beziehungsweise an neue Geschäftsmodelle anpassen können und dabei die Kosten im Griff behalten. Darauf sind die vorhandenen Landschaften in vielen Unternehmen nicht vorbereitet. Betrieb und Wartung sowie Anpassung und Weiterentwicklung sind zeitaufwendig und teuer.

Gewachsene Komplexität

Besonders komplex sind oft solche SAP-Installationen, die seit vielen Jahren im Einsatz sind. Weil dem SAP-Standard zum Zeitpunkt der Einführung bestimmte Anforderungen und Prozesse fehlten, hat die interne IT-Organisation die benötigten Funktionen selbst entwickelt. Damit wird jeder Release-Wechsel kostspielig, denn alle Erweiterungen, Eigenentwicklungen, Modifikationen oder individuellen Reports müssen angepasst sowie mit den neuen Funktionen verknüpft und getestet werden.

Unübersichtliche und überdimensionierte SAP-Landschaften entstehen aber auch im Rahmen von betrieblichen Ausgliederungen (Carve-out). Das neue Unternehmen nutzt für die betriebswirtschaftlichen Kernprozesse eine Kopie des Konzernsystems samt überflüssigen Funktionen. Die Auswüchse dieser Praxis zeigten sich exemplarisch in einem ausgegliederten mittelständischen Unternehmen. Es betrieb eine Installation mit mehr als 10.000 geerbten Eigenentwicklungen und Tabellen, die es nur zu einem Bruchteil benötigte.

Überflüssige Reports

Ersetzen Unternehmen, wo es möglich und sinnvoll ist, ihre individuellen Systemanpassungen durch SAP-Standardfunktionen, macht das die ERP-Landschaft im Betrieb nicht nur schlanker und überschaubarer, sondern auch kosteneffizienter. Benchmark-Tests aus über 1200 Systemanalysen in Update-Projekten zeigen, dass die Anpassung einer selbst entwickelten SAP-Transaktion rund einen Tag, die eines individuellen Reports etwa eine Stunde dauert. Ein durchschnittlicher Mittelständler betreibt rund 50 bis 200 individuell gestaltete Transaktionen und hat 400 bis 1300 individuelle Reports im Einsatz. Um Kosten zu senken und gleichzeitig die Transparenz zu verbessern, empfiehlt es sich zudem, nicht mehr genutzte Eigenentwicklungen und individuelle SAP-Berichte abzuschalten, zumal Analysen zeigen, dass zwischen 50 und 80 Prozent dieser selbst erstellten Tools und Reports ohnehin überflüssig sind.

Standards tun Prozessen

Mit dem Aufbau einer optimierten und zentralen SAP-Architektur sowie mit unternehmensweit verbindlichen IT-, Daten- und Prozessstandards lassen sich sowohl Anwendungen als auch Geschäftsprozesse dynamisch und flexibel an Veränderungen anpassen. Standardisierte Geschäftsabläufe sind zudem eine wichtige Voraussetzung, um das Application-Management für IT-Prozesse etwa im Personalwesen und in der Finanzbuchhaltung preiseffizient an ein internes Shared Service Center (SCC) oder an einen externen Dienstleister auszulagern.

Nutzung automatisch analysieren

Der erste Schritt in jedem Standardisierungsprojekt ist eine technische Analyse des SAP-Systems, um die tatsächliche Systemnutzung zu ermitteln. Mit Hilfe spezieller Prüfwerkzeuge wie etwa dem "HRW Analyzer" von der HRW Consulting Factory AG lassen sich entsprechende Erhebungen weitgehend automatisieren. Sie liefern zugleich aussagekräftige und verlässliche Kennzahlen, welche Modifikationen, Eigenentwicklungen und individuellen Reports die Endanwender im Unternehmen nicht mehr, wenig oder noch sehr häufig nutzen.

Die Ergebnisse aus der Systemanalyse ermöglichen es, Reduzierungspotenziale und einen schnellen Kosten-Nutzen-Vergleich zwischen individuellen Systemanpassungen und dem SAP-Standard zu erarbeiten. Damit haben Anwender eine tragfähige Bewertungsgrundlage für die Entscheidung, welche Eigenentwicklungen und Modifikationen durch SAP-Standardfunktionen ersetzt und welche weitergenutzt werden sollen.

Sechs statt 90 Auftragsarten

Im konkreten Fall eines mittelständischen Unternehmens ergab die automatisierte Systemanalyse, dass von 90 unterschiedlichen Auftragsarten in der Vertriebsorganisation tatsächlich nur 18 genutzt wurden. Durch den nachfolgenden Prozessvergleich konnte die Zahl der Auftragsarten schließlich sogar auf nur noch sechs verringert werden.

In der Regel empfiehlt sich die Ablösung individueller Programmierungen immer dann, wenn sich Prozesse durch Standardfunktionen abdecken lassen. Aber auch wenn Eigenentwicklungen sehr umfangreich sind oder nur noch von wenigen Programmierern betreut werden können, sollten IT-Verantwortliche darüber nachdenken, sie zu ersetzen.

Prozesse modellieren

Ein Standardisierungsprojekt benötigt auch eine Strategie. Sie sollte im Idealfall die vier Bereiche Technologie, Organisation, Daten sowie Prozesse beschreiben. Eine der Kernaufgaben bei der Rückführung individueller Programmierungen in den SAP-Standard ist die Modellierung und Anpassung der Prozesse. Das beinhaltet zum einen, neue Rollen zu definieren und organisatorische Änderungen zu etablieren (Change-Management). Zum anderen müssen nicht mehr benötigte Organisationsstrukturen, Programme, Objekte, Tabellen, Reports und Customizing-Einstellungen identifiziert und gelöscht werden. Ein kritischer Aspekt ist auch die Datenübernahme von der Eigenentwicklung in den SAP-Standard. Deshalb sind Datenanpassungen und -migrationen sorgfältig zu planen, zu prüfen und zu koordinieren.

SAP-Standard richtig erweitern

Als SAP-Standard wird der Gesamtumfang der Funktionen bezeichnet, den ein von der SAP ausgeliefertes System wie etwa SAP ERP enthält. Standardfunktionen lassen sich modifikationsfrei und ohne zusätzliche Programmierung durch Parametrisierung vorbereiteter Tabelleneinträge kundenindividuell anpassen.

Zudem lassen sich die Kernfunktionen durch Programmierungen um neue oder branchenspezifische Funktionen erweitern. SAP stellt hierzu mit User Exits, Customer Exits, Business Transaction Events (BTE), Modifikationsassistenten oder Business Add-Ins (BAdIs) verschiedene Modifikations- und Erweiterungskonzepte bereit. Die Erweiterungen können nicht an jeder beliebigen Stelle eines Quelltextes oder einer Methode eingefügt werden, sondern nur an fest definierten Stellen (Enhancement Points). Das sind Ankerpunkte, an denen neuer Quelltext oder neue Attribute eingeklinkt werden.

Change-Management beachten

Zu den besonders sensiblen Aufgaben gehört es, die Vorbehalte der Endanwender abzubauen. Arbeiten beispielsweise Mitarbeiter im Vertrieb und Service seit Jahren zuverlässig mit einer individuellen SAP-Programmierung, betrachten sie diese als ihren "Standard". Der tatsächliche Standard der Applikation muss dann erst den Beweis antreten, dass er "besser" ist, damit er akzeptiert wird.

Das Ablösen der Eigenentwicklung verändert gewohnte Prozessabläufe und damit das Arbeitsverhalten wie auch das Rollenverständnis der Mitarbeiter. Häufig scheitern Standardisierungsprojekte jedoch am fehlenden Change-Management. Deshalb müssen Fachabteilungen und Endanwender frühzeitig und aktiv in den Veränderungsprozess einbezogen werden. Wichtig ist, dass vor allem Themen wie effiziente Oberflächen, Arbeitsvorräte, Workflows und Automatisierungen beachtet werden. Das fördert die Akzeptanz und erhöht die Bereitschaft, mit den SAP-Standardfunktionen zu arbeiten.

Nutzer mit Mehrwert locken

Die Anwender erwarten, dass die für sie neuen Standardfunktionen optimal auf ihre Aufgabenbereiche zugeschnitten sind und sie einzelne Arbeitsschritte weitgehend automatisiert und damit einfacher und schneller abwickeln können. Technisch lässt sich dies durch modifikationsfreie Erweiterungen der SAP-Standardprozesse sowie mit Hilfe von Arbeitsvorräten und Workflow-Szenarien umsetzen.

Ebenso wichtig sind für die Nutzer übersichtliche und intuitive Bedienoberflächen, die als "Single Point of Entry" den raschen Zugriff auf alle relevanten Daten, Informationen und Prozesse ermöglichen. Von Vorteil ist außerdem, wenn sich die Einstiegsseiten individuellen Wünschen gemäß anpassen lassen. Möglich ist das zum Beispiel durch den zusätzlichen Einsatz einer Rich-Client-Anwendung wie dem SAP Netweaver Business Client oder durch Web Dynpros.

Support sicherstellen

Häufig wird nach dem Live-Schalten des Systems der Support vernachlässigt, weil ja alle Anwender die SAP-Software schon kennen. Die Folge: Anwender fühlen sich allein gelassen, zudem werden konstruktive Verbesserungsvorschläge und Ideen nicht aufgegriffen. Schlimmstenfalls verweigern sich die User, und das Projekt scheitert. In der ersten Phase nach dem Produktivstart der Standardfunktionen ist der Anwender-Support besonders wichtig. Fest vereinbarte Service- und Support-Levels sind deshalb ein Muss. Sie können entweder von der internen IT oder einem externen Dienstleister als Remote Services erbracht werden. (jha)

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