Schöne neue Steuerwelt

24.08.2007 von Simon Hülsbömer
Die deutschen Finanzbehörden wollen bis 2011 ihre IT-Infrastruktur ausbauen und vereinheitlichen. Für Bürger und Unternehmen beginnt eine neue Zeitrechnung.

Die papierene Lohnsteuerkarte und die föderale Struktur der staatlichen Finanzverwaltung gehören bald der Vergangenheit an. Alle lohnsteuerlich relevanten Personendaten und Abzugsmerkmale sollen ab 2011 zentral verwaltet und ausschließlich auf elektronischem Weg erfasst werden. Der Fiskus rechnet mit jährlichen Betriebskosteneinsparungen von 280 Millionen Euro und zusätzlich 110 Millionen Euro an Mehreinnahmen. Letztere sollen vor allem durch weniger Umsatzsteuerbetrug zustande kommen. Das bundesweit einheitliche Erfassungssystem macht die Unterschlagung von Abgaben nahezu unmöglich. Geregelt werden sämtliche Maßnahmen in dem kürzlich vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf des neuen Paragrafen 39f des Einkommenssteuergesetzes, der noch im Laufe des Herbstes ins Parlament eingebracht und verabschiedet werden soll.

Als wichtigste Grundlage für die digitale Revolution des Steuerstaates sieht der Entwurf eine lebenslang gleich bleibende elfstellige Identifikationsnummer (abgekürzt TIN für "Taxpayer Identification Number") für jeden der 82 Millionen Bundesbürger vor. Dabei ist es egal, ob es sich um eine ledige Arbeitnehmerin, einen berufstätigen Familienvater, einen Hartz IV-Empfänger, eine Rentnerin oder einen Säugling handelt. Die Kennziffer soll ab dem 1. Januar 2008 die bisherige Steuernummer ersetzen und aus erbschaftssteuerrechtlichen Gründen erst 20 Jahre nach dem Tod gelöscht werden. Freiberuflich Tätige und Gewerbetreibende erhalten wegen ihrer doppelten Steuerpflicht weiterhin zwei voneinander getrennte Identifikationsnummern. Das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) in Bonn administriert alle erfassten Informationen in einer neuen zentralen Datenbank, in der die bislang dezentral verwalteten Bestände aus etwa 5300 Meldestellen zusammengeführt werden. Die Datei soll bis Ende 2009 fertig gestellt sein. Einige Behörden und Unternehmen werden das System im Jahr 2010 in der Praxis testen. Sowohl große Konzerne als auch mittelständische Unternehmen können sich für die Teilnahme an diesem Vorlauf bewerben. Das Finanzministerium wählt die Tester so aus, dass sich ein repräsentatives Abbild des Marktes ergibt. Ab dem 1. Januar 2011 ist das Verfahren schließlich bundesweit verbindlich. Bis dahin erhält jeder Steuerzahler in 2009 und 2010 weiterhin eine papierene Lohnsteuerkarte – mit dem Unterschied, dass er zusätzlich auch seine neue Nummer auf der Karte vorfinden wird.

Von Fiscus zu Konsens: Ein langer Weg geht zu Ende

Der lange Weg zum digitalen Steuerstaat begann 1992, als sich die Bundesländer mit Beteiligung des Bundes auf die Entwicklung einer einheitlichen Software für die Steuerverwaltung einigten. Das Fiscus-Projekt scheiterte aber an dem fehlenden fachlichen Know-how der beteiligten Entwickler und an den föderalistischen Strukturen im Land. Vor zwei Jahren beschloss die Finanzministerkonferenz die Auflösung der eigens gegründeten Entwicklungsfirma Fiscus GmbH, die dann 2006 abgewickelt wurde. Seitdem setzen die Behörden ihre Hoffnung in das Nachfolgeprojekt "Konsens" (Koordinierte neue Softwareentwicklung der Steuerverwaltung), das von Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vorangetrieben wird. 46 Millionen Euro zuzüglich drei Millionen Euro erfolgsabhängigen Zuschuss lässt sich der Bund das Projekt jährlich kosten. Nach erfolgreicher Entwicklung der einzelnen Bestandteile (darunter das bundeseinheitliche Steuererhebungsverfahren "Biene" und der elektronische Einkommensnachweis "Elena") sollen die fünf involvierten Bundesländer die fertig gestellten Verfahren auch den restlichen elf zur Verfügung stellen.

Für die im Rahmen von Konsens ebenfalls weiterentwickelte elektronische Steuererklärung (Elster) ist die Arbeit nahezu abgeschlossen, da ihre entscheidenden Bestandteile bereits während des Fiscus-Projekts umgesetzt werden konnten. Elster wird seitdem in der öffentlichen Verwaltung, seit 2005 verpflichtend in der Industrie und immer häufiger auch von einzelnen Steuerzahlern eingesetzt. Einziges Manko: Die klassische Lohnsteuerkarte in Papierform muss dem Finanzamt weiterhin als Beleg eingereicht werden. Mit der Einführung der elektronischen Karte würde dieser Schritt wegfallen und vielen Steuerzahlern Arbeit erspart: Schon für das Jahr 2007 rechnet der Bund nach jüngsten Hochrechnungen mit fast sieben Millionen elektronisch versendeten Einkommenssteuer-Erklärungen. Das entspräche über zwei Millionen digitalen Übermittlungen mehr als noch in 2006. Die Finanzverwaltungen von Bayern und Nordrhein-Westfalen koordinieren das Elster-Projekt. Nordrhein-Westfalen ist es auch, das sich im Rahmen von Konsens um die Entwicklung der zentralen Steuerdatei kümmert.

Der Startschuss dafür fiel bereits lange vor dem Kabinettsbeschluss. Zunächst fand eine umfangreiche Marktanalyse zur Ermittlung der benötigten Programmbestandteile statt. Nachdem die gesetzliche Absicherung in erster Instanz erfolgt ist, können die Behörden ihre Planungen und Programmierarbeiten nun konkretisieren.

Nicht alle Steuerdaten sind für jeden zugänglich

Die zentrale Steuerdatei soll auf Basis von autorisierungspflichtigen Abfragen funktionieren. Lediglich das BZSt bekommt den Vollzugriff auf die gespeicherten Daten. Wollen das Finanzamt, die Kommune oder der Arbeitgeber Auskunft, müssen sie einen Antrag auf Datenerhalt bei der Finanzverwaltung des jeweiligen Bundeslandes stellen. Diese Behörde hält neben den persönlichen Informationen des Steuerzahlers (Steuernummer, Name, Anschrift, Geburtsdatum) nur die steuerabzugsrelevanten Sätze wie Freibeträge, Kinderzahl und Religionszugehörigkeit aus der Bonner Datenbank vorrätig, die vom Bürger zur Auskunftserteilung freigegeben wurden. Das System prüft daraufhin, ob der Anfragende das Recht besitzt, auf die Daten zuzugreifen und welche Auskünfte er genau bekommen darf. Für Unternehmen sind das außer den Basisdaten stets nur die freigegebenen Informationen. Benötigt der Arbeitgeber weitere Daten, hat er sich direkt an den Arbeitnehmer zu wenden. Obwohl dieser so eine gewisse Kontrollfunktion innehat, könnten die monatlichen Abgaben im ungünstigen Fall falsch berechnet werden, wenn dem Arbeitgeber nicht alle Lohnsteuerabzugsmerkmale bekannt sind.

Nur Sozialleistungsträger und Strafverfolgungsbehörden erhalten im Zuge von gesetzlich vorgeschriebenen Auskunftspflichten des BZSt Vollzugriff auf die in Bonn erfassten Daten. Aber auch diese Übermittlungen finden zunächst nur auf Antrag statt. Ein direkter Online-Zugriff auf die Datenbestände durch Einrichtungen von Bund und Ländern ist bislang nicht vorgesehen, kann nach COMPUTERWOCHE-Informationen aus dem Bundesfinanzministerium für die Zukunft aber nicht ausgeschlossen werden.

Unternehmen profitieren von zentralen Datenbeständen

Wenn ab 2011 die Lohnsteuerkarte in Papierform bundesweit durch die elektronische Variante abgelöst wird, haben die Personalabteilungen in deutschen Unternehmen einen Klotz weniger am Bein: das Einsammeln, handschriftliche Ausfüllen und Zurückgeben Rückgabe Hunderter bis Tausender Lohnsteuerkarten. Die Übermittlung der Brutto- und Nettoverdienste der Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber an die Finanzbehörden erfolgt schon seit längerem verpflichtend elektronisch. Deshalb ist die digitale Datenbeschaffung und -rückgabe an die Beschäftigten ein logischer Schritt: Einmal in die bundesweite Datenbank eingetippt, sind nur noch Änderungen vorzunehmen.

Entlastung in den HR-Abteilungen ist in besonderer Weise auch durch den geplanten elektronischen Einkommensnachweis (Elena) zu erwarten. Ihn will die große Koalition als Teil des Konsens-Projekts ebenfalls noch in diesem Jahr auf den Weg bringen. Elena war bereits 2002 durch die rot-grüne Regierung unter dem Arbeitstitel "Jobcard" angestoßen worden. Datenschutzrechtliche Bedenken und ungeklärte Zuständigkeiten verhinderten aber eine zeitnahe Realisierung. Ende Februar 2007 scheiterte ein Kabinettsbeschluss zu Elena erneut an Detailfragen. Der elektronische Einkommensnachweis beträfe nicht alle Steuerzahler - wohl aber die, die staatliche Sozialleistungen wie Kinder-, Arbeitslosen- oder Wohngeld empfangen. Weil sie aber einen beträchtlichen Anteil an Arbeitnehmern ausmachen, ist auch Elena für Unternehmen als Arbeitserleichterung interessant. 60 Millionen Einkommensnachweise stellen die Firmen pro Jahr aus, einen dreistelligen Millionenbetrag könnte die Industrie nach Schätzungen der Bundesregierung mit einer einheitlichen Datenbank, aus der heraus die Informationen zum Einkommen nur noch abgerufen werden müssten, jährlich einsparen.

Diese zentrale Speicherstelle würde nach einem ähnlichen Prinzip wie die Bonner Lohnsteuerdatei funktionieren und von den Personalverantwortlichen mit den nötigen Einkommensdaten gefüttert werden. Sozialbehörden und Gerichte könnten die Zahlen jederzeit abrufen, Unternehmen wären in den Prozess nicht involviert.

Freiheitlicher Rechtsstaat stark gefährdet

Die Regierungspläne bringen trotz aller Vorteile für Staat und Unternehmen beträchtliche Nachteile mit sich. Datenschützer bemängeln besonders, dass zentrale Datenbanken immer auch Begehrlichkeiten für staatliche Institutionen wecken können, für die sie zunächst gar nicht vorgesehen waren. Als Vergleichsbeispiel nennt der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar die Mautdaten, die zukünftig auch in der Strafverfolgung eingesetzt werden sollen, oder den zur Terrorismusbekämpfung eingerichtete Kontendatenabruf, der mittlerweile auch den Finanzämtern offensteht. Schaar fordert eine Grundsatzdiskussion über das neue Jahressteuergesetz und fordert die Abkoppelung der Regelung zur elektronischen Lohnsteuerkarte von den übrigen weniger datenschutzrelevanten Inhalten des Gesetzesentwurfs. Darunter befinden sich unter anderem Änderungen in der Lohnsteuerklasse V und Verfahrensvereinfachungen bei den Rentenbezugsmitteilungen.

Der Datenschutzrechtler Professor Dr. Alfred Büllesbach äußert sich im Gespräch mit der COMPUTERWOCHE ebenfalls sehr kritisch über die geplanten Gesetzesänderungen. Auch wenn die Modernisierung der behördlichen Finanzverwaltung begrüßenswert sei, sei der eingeschlagene Weg der Umsetzung grundsätzlich falsch. Eine zentrale Steuerdatei kehre den verfassungsrechtlich korrekten Weg der Übermittlung von steuerlich relevanten Daten vom Arbeitnehmer hin zu Arbeitgeber und Behörden um. Durch den automatisierten Prozess habe der Steuerpflichtige keine Kontrolle mehr darüber, was mit seinen Daten geschehe, bemängelt Büllesbach. "Bekämpfung von Steuerbetrug ist nicht alles, entscheidend ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit", so der Datenschutzrechtler. "Ich kann nicht wegen zwei Prozent Steuerbetrügern in Deutschland 100 Prozent der Bevölkerung überwachen."

Die weiteren Folgen solcher zentralen Datenbestände, die in den vergangenen Jahren eklatant zunähmen (beispielsweise durch die Vorratsspeicherung von Online- und Telefondaten ab 2008 oder die geplante Gesundheitskartendatenbank), seien noch nicht absehbar. Besonders die zukünftig stark vereinfachte Möglichkeit der Verknüpfung mehrerer Datenbanken auch über Landesgrenzen hinweg sieht Büllesbach sehr kritisch. Nicht alles sei mit der größtenteils fiktiven täglichen Terrorgefahr zu rechtfertigen. Die meisten Gesetzesentwürfe fänden ihren Weg in den Bundestag nur deshalb, weil der Großteil der Bevölkerung zu wenig über die Gefahren der staatlichen Sammelwut informiert sei und auch keinen entscheidenden Einfluss auf die Entscheidungsträger nehmen könne.

"Der Bürger muss wissen, was mit seinen Daten geschieht"

Der Datenschutzrechtler sieht die Zukunft in einer wesentlich differenzierten Modernisierung der Finanzverwaltungssysteme in Deutschland. Er plädiert für verteilte Datenbanken mit regional unterschiedlichen Inhalten, die weiterhin strengen Zugriffskontrollen unterliegen müssten und dem Steuerzahler wie bisher die bestmögliche Kontrolle über seine Daten garantiere. "Der Bürger muss immer und zu jeder Zeit wissen, was mit seinen Daten geschieht", fordert der Wissenschaftler. Es müsse datenschutzrechtlich sauber geklärt werden, wer welche Steuerdaten an wen meldet und wer auf welche Daten Zugriff erhalte. Büllesbachs Fazit: Den Missbrauch könne man zwar nie vollständig ausschließen, mit etwas mehr Sensibilität und Sachverstand sei eine Runderneuerung der bundesweiten Steuer- und Finanzverwaltung im Sinne des Datenschutzes und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aber durchaus machbar.