IT im Handel/SAP-Retail-Einführung bei der Raiffeisen-Warenzentrale

Prozeßbearbeitung und Warenfluß gehören zusammen

19.09.1997

Sämtliche Geschäftsprozesse der Raiffeisen-Warenzentrale sowie die spartenübergreifende IT-Struktur sollen bis zum Jahr 2000 reorganisiert und standardisiert sein. Dies betrifft sowohl Anwendungen als auch Datenbanken, Rechner, Betriebssysteme und Netzwerke.

Weitere Ziele sind eine Geschäftsprozeßoptimierung durch elektronischen Datenaustausch mit Kunden und Lieferanten, Warenannahme- und -ausgabe mittels MDE-Geräten, Workflow-Management sowie Image-Verarbeitung. SAP Retail soll in den Sparten Baustoffe, Brennstoffe, Landtechnik, Recycling und Agrar online in der Zentrale und den Niederlassungen das Geschäft unterstützen. Warenwirtschaftssysteme der Werkstätten und Getreideerfassungen sowie die Produktionssteuerung des Kraftfutterwerks sind über Schnittstellen an Retail anzu- binden. Des weiteren wird für den Bereich "Märkte" ein Point of Sale-(POS-)System spartenübergreifend gekoppelt. Für die spezifische zentrale Abwicklung im Getreidebereich entstehen neue Funktionsbausteine in der Workbench.

Ferner sind in allen Unternehmensbereichen sämtliche betriebswirtschaftlichen Anwendungen integriert und Daten zeitgerecht bereitzustellen - als Voraussetzung für eine Qualitätssteigerung der kaufmännischen Abwicklung. Die Insellösungen sollen aufgebrochen und zu einer Einheit mit dem Rechnungswesen integriert werden sowie die Anbindung von Fremdsystemen auf höherem Schnittstellen-Niveau erfolgen.

Weitere Anforderungen betreffen das Qualitäts-Management für Hard- und Software sowie interne Abläufe und die Transparenz der "unsichtbaren" DV-Kosten. Insgesamt will man in Kassel schlanker und flexibler werden, sich stärker in Richtung belegloses Büro bewegen.

R/3 setzt die Warenzentrale bereits seit Anfang 1995 für das Rechnungswesen ein. Für den "logischen Folgestep" des Retail-Projekts gab die Geschäftsführung im Oktober 1996 grünes Licht.

Ausschlaggebend war, daß bisher fehlende Funktionen - zum Beispiel Artikel und Massendatenpflege - bereitgestellt werden und standardisierte Schnittstellen existieren, mit denen sich dezentrale Warenwirtschaftssysteme und POS-Systeme anbinden lassen. Auch handelsspezifische Artikelformen wie Sammelartikel und Leergut sind berücksichtigt.

Instrumente zur Sortimentspolitik - Bausteine für das Warenangebot, Betriebe, Listungsverfahren etc. - existieren bereits. Insgesamt soll der Pflegeaufwand für alle Stammdatenobjekte verringert werden. Im Bereich Warenlogistik ist angestrebt, Geschäftsvorfälle, die logisch zusammengehören wie zum Beispiel Angebot, Kundenauftrag, Lieferung, Frachtabwicklung, Fakturierung künftig auch zusammen zu bearbeiten. Das reduziert Durchlaufzeit, Fehlerquote und Kosten. Der Prozeß und seine Bearbeitung gehören dahin, wo der Warenfluß stattfindet.

Das "Customizing" professionell abgewickelt

Mit dem neuen System lassen sich gegenübergestellte Ist- und Plandaten von strategischen Kennzahlen, etwa Bestandswerten oder Umsätzen, sowie von Roherträgen einfach nachvollziehen und in interaktiven Grafiken auswerten. Zusätzliche Erweiterungen ermöglichen es, unternehmensspezifische Kennzahlen, wie Roherträge, darzustellen.

Um die Umstellung der Software und das "Customizing" schnellstmöglich und professionell abzuwickeln, engagierte die RWZ einen externen IT-Dienstleister. Betriebswirtschaftliches und technisches Know-how waren bei dessen Auswahl ebenso ausschlaggebend wie Branchenkenntnis und prozeßorientierte Vorgehensweise.

Bereits im Januar 1996 fand ein "Assessment" mit der Hamburger Origin Deutschland GmbH statt: Die IT-Experten gaben nach dem Abgleich der RWZ-Prozesse mit SAP Retail erste Empfehlungen für die Einführungsstrategie. Nach umfassender Prozeßanalyse präsentierte das Projektteam Anfang November den Rohling für das Angebot mit Projektzielen, betriebswirtschaftlichem Konzept inklusive Grobkonzept, Zeitplan und Einführungsszenario.

Innerhalb von zwei Monaten fand die detaillierte "Geschäftsmodellierung" statt. Bei der Feinabstimmung von

- Unternehmensmodell

(= detaillierte Prozeßbeschreibung mit Optimierungspotential),

- R/3-Geschäftsmodell

(= zukünftige Prozeßabbildung in SAP Retail) und zukünftigem

- Systemmodell

(= Beschreibung der technischen Infrastruktur) zeigte sich, daß ein hohes Reorganisationspotential in den RWZ-Handelssparten besteht.

Das Projekt verfolgt zunächst folgende Ziele:

- Vereinfachung und Tranzparenz der internen Wertschöpfung

- Zentralisierung und Nutzung von Synergien im Ein- und Verkauf

- Erhöhung der Transparenz zur strategischen Steuerung in den Handelssparten

- zeitnahe, prozeßorientierte Verbuchung und Informationserfassung

- Beschleunigung der gesamten Logistikkette vom Kundenbedarf bis zur Faktura

- bessere Ausnutzung von Lieferanteninformationen.

Da Unternehmen und Aufgabenstellung zu komplex sind, um schlagartig die Software der Warenwirtschaftssysteme aller Sparten und Standorte umzustellen, sieht die methodische Projektdurchführung stufenweise Veränderungen mit unterschiedlichen "Roll-out-Szenarien" je Sparte und Standort vor. Die RWZ-Einführungsstrategie lautet: in der ersten Phase Konzentration auf die Kerngeschäftsprozesse und schlanke Einführung. Dann: weitere Verfeinerung, Qualitätssteigerung und Erweiterung der Funktionalitäten.

Ohne die Bereitschaft, sich auf neuen Gleisen zu bewegen und ohne Rückendeckung durch die Geschäftsführung ist ein solches Projekt nicht zu schaffen. Positive Effekte können sich erst dann einstellen, wenn die Organisation die neue standardisierte Arbeitsweise angenommen und auf einem gewissen Qualitätsniveau umgesetzt hat. Dies bringt eine permanente Verbesserung und Weiterentwicklung des Systems mit sich.

Für die Organisation bedeutet die Retail-Einführung Wandel in drei Bereichen:

- in betriebswirtschaftlichen Abläufen,

- in der neuen technischen Plattform und Infrastruktur,

- im Aufbau eines eigenen Rechenzentrumsbetriebs. Hier lagen dann auch die Risiken.

Den Anfang machte als verhältnismäßig kleiner Bereich die Sparte Brennstoffe mit 23 Außenstellen zwischen Nordhessen und Hanau beziehungsweise Korbach und Gera. Nach dem Prototyping sowie dem Aufbau der Infrastruktur läuft zur Zeit der Integrationstest, in dem sämtliche Geschäftsprozesse durchgängig bis hin zur Finanzbuchhaltung und Profitcenter-Rechnung mit Echtdaten über allen Schnittstellen verifiziert werden.

Im fünfköpfigen Projektteam mit seinen drei externen Beratern wurde zum Beispiel durchgespielt, was passiert, wenn eine bestellte Menge Heizöl nicht komplett abgenommen wird oder es im umgekehrten Fall zu "Überlieferungen" kommt.

Für wöchentlich zwei Workshops müssen die internen Anwendungsberater und Key-User aus dem Fachbereich neben ihrem Tagesgeschäft eine Menge Hausaufgaben erledigen. Diese Mitwirkungspflicht erwächst aus dem Coaching-Ansatz, der als "Hilfe zur Selbsthilfe" zu verstehen ist: Selbständiges und eigenverantwortliches Handeln der Key-User bildet die Basis dafür, daß diese später im "Roll-out" die Schulungen und Produktionsvorbereitungen für über 450 Kollegen und Kolleginnen übernehmen können. Das Werkzeug ist nur so gut, wie es genutzt wird. Das Projektteam aus internen sowie externen Beratern und verantwortlichen Key-Usern erarbeitet einen Prototypen, der alle Geschäftsprozesse abbildet.

Die Gruppe führt die Integra- tion der RWZ-Geschäftsprozesse vom derzeitigen FI/CO-System zu einem durchgängigen Retail-System durch. Weiterhin definiert das Team das Berichtswesen für das Tagesgeschäft und kristallisiert spartenübergreifende Prozesse heraus. Den Standard ergänzende Add-ons werden aus den RWZ-spezifischen Geschäftsanforderungen unter anderem im CO-Retail-Informationssystem für die Bereiche Getreide, Werkstätten/Reifen, Pflanzenschutz, Düngemittel, Saatgut und Kraftfutter definiert, geprüft, erstellt und nach Freigabe realisiert.

Parallel zur Infrastruktur in der Zentrale sowie in den Außenstellen bauen die IT-Experten ein Berechtigungskonzept auf und erarbeiten eine Konzeption für die Bestandsaufnahme der Informationen aus den Altsystemen. Der Dienstleister sorgt für Ladeschnittstellen, welche die Migration von Daten bezüglich Kunden, Artikel, Fakturen oder Warenbewegungen von dezentralen Warenwirtschaftssystemen zum POS unterstützen. Ferner werden Formulare (Standardnachrichten) festgelegt, umgewandelt und realisiert.

Die technische Plattform bildet eine Unix-basierende Oracle-Datenbank in einem MS NT- und AS/X-Netzwerk-Betriebssystem. 70 RWZ-Standorte werden via ISDN-Stand- oder Wählleitungen verbunden. Anfang Oktober dieses Jahres ist Produktionsstart für 30 Anwender im Bereich Brennstoffe. Das Gesamtprojekt soll kurz nach der Jahrtausendwende abgeschlossen sein.

ANGEKLICKT

Unterschiedliche "Roll-out-Szenarien" je Sparte und Standort waren für die stufenweise Veränderung der Organisation der Raiffeisen-Warenzentrale Kurhessen-Thüringen notwendig. Die erste Phase der Projektdurchführung mit dem Dienstleister konzentrierte sich auf das Kerngeschäft. Es folgten als nächste Stufen Verfeinerung, Qualitätssteigerung und Erweiterung der Funktionalitäten.

Der Anwender

1895 als Genossenschaft gegründet, beschäftigt die RWZ heute 1300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Kasseler Zentrale sowie in 70 Niederlassungen im Geschäftsgebiet Hessen und Thüringen. Das Einzel- und Großhandelshaus gliedert sich in die Sparten Baustoffe, Brennstoffe/Energie, Landtechnik, Werkstätten, Recycling und Agrar (Getreide, Saatgut, Düngemittel, Pflanzenschutz, Futtermittel). 1996 nahm die RWZ ein Pflanzenschutz-Zentrallager in Weimar in Betrieb - mit einer Kapazität von zirka 800 Tonnen das größte Lager in Thüringen und Hessen. Positiv entwickelt sich neben der gesamten Technik vor allem der jüngste Geschäftsbereich Recycling. Kälteperioden, Baurezession, BSE-Diskussion, Schweinepest etc. stellen andere Sparten allerdings immer wieder vor Probleme. Für die Bereiche Futtermittel und Baustoffe bereits vorliegend, strebt die RWZ auch für alle übrigen Geschäftsbereiche die ISO-9001-Zertifizierung an.

*Lars Prüssing ist Fachbereichsleiter DV-Organisation und -Entwickung sowie Projektleiter SAP R/3 bei der Raiffeisen-Warenzentrale Kurhessen-Thüringen in Kassel.