Digitalisierung in der Versicherungsbranche

Planspiele für die digitale Schadensbegrenzung

28.09.2016 von Manfred Bremmer
Die Frage, wie Versicherer die Chancen der Digitalen Transformation nutzen können, war der Dreh- und Angelpunkt des diesjährigen Branchen-Events Inscom (Insurance Conference Munich), auf dem sich laut Veranstalter MSG Systems mehr als 200 Vertreter von gut 50 Versicherungen aus 16 Ländern tummelten.
Die Digitalisierung bietet Versicherern die Chance, Partner und Lösungsanbieter ihrer Kunden zu werden - etwa über eine unkomplizierte Schadensabwicklung.
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Die Versicherungswirtschaft steht angesichts der allgegenwärtigen Digitalen Transformation vor deutlichen Veränderungen. So prognostiziert die Unternehmensberatung McKinsey & Co. in einer aktuellen Studie, dass im Zuge der Automatisierung in den nächsten Dekade bis zu 25 Prozent der Vollzeitstellen wegfallen. Das Hauptproblem der Branche: Wegen der allgemeinen Marktsättigung stagnieren bereits seit Jahren die Umsätze bei den Versicherern, so dass ein Wachstum einzelner Anbieter praktisch nur durch Kannibalisierung möglich ist.

Hinzu kommt, dass den Versicherern zunehmend Newcomer und Vertreter aus anderen Branchen das Geschäft streitig zu machen drohen. Andere Industrien verändern das Geschäft, erklärte MSG-Chef Hans Zehetmaier in seiner Keynote auf der Inscom und dokumentierte dies am Beispiel der Automobilhersteller: Diese würden mit Themen wie Autonomes Fahren, Connected Drive, Elektromobilität und Share Economy mehr und mehr in die Rolle von Mobilitätsdienstleistern wechseln, was entsprechende Konsequenzen für die Versicherungsbranche habe. So werde künftig der Hersteller selbst zum Versicherungsvermittler oder gar -nehmer, erläuterte Zehetmaier, und Assistance-Leistungen sowie das Schadens-Management nähmen einen größeren Stellenwert ein.

Den Kunden in den Mittelpunkt rücken

Der MSG-Chef geht als Konsequenz davon aus, dass in Zukunft für die Versicherer Kunden-Fokussierung und Kundenzentrierung immer wichtiger werden. Erforderlich sei eine Integration in die digitale Welt, die den Kunden in den Mittelpunkt stellt und ihm Produkte anbietet, die sich an seinen Bedürfnissen orientieren. Dazu müsse er aber den Kunden kennen und verstehen, was auf technischer Seite digitale Analysen und Predictive Analytics erfordere.

Außerdem müssten die Anbieter Rechnung dafür tragen, dass der Kunde digital kommunizieren möchte und die Kundeninteraktion zu einem positiven Erlebnis für ihn machen. Schließlich werde der Versicherer zum Lösungsanbieter, der neben einem Primärprodukt über Kollaborationen und Partner auch Sekundärprodukte offeriere.

Zusammenfassend sei also eine Digital Excellence gefordert, so Zehetmaier im mittlerweile üblichen Branchen-Denglish, also die Integration von Kunde und Digitalwirtschaft einschließlich IoT in das Versicherungsgeschäftsmodell. Dabei stehen nicht alle Anbieter unter dem gleichen Zugzwang. Der MSG-Chef unterscheidet vielmehr zwischen drei Typen von Versicherern:

"Axa goes Digital"

Als Beispiel für einen Versicherer, der sicherlich der Gruppe der Anticipators zuzurechnen ist, gab Dr. Andrea van Aubel, CIO und CDO beim Axa-Konzern, auf der Veranstaltung ein paar Beispiele, wie ihr Unternehmen das Thema Digitale Transformation adressiert und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen bemühe sich die Axa mit Lösungen wie einem verbesserten Output-Management, dem Kundenportal MyAXA sowie der Einführung einer Digitalen Beratermappe (Kundenberatung digital via App und Portal) und der (von MSG stammenden) Lösung Life Factory (Verwaltungsplattform Leben) intern um die Digitalisierung der Geschäftsprozesse.

Zum anderen hat die Axa mit WayGuard, der App Tinitracks, AXA Smarthome, smartPARKING, Catema Sehschulung und der App AXA Babbels neue Services für ihre Kunden entwickelt. Diese kämen allesamt dem Kunden zu Gute, wie van Aubel ausführt, gingen jedoch weit über das klassische Versicherungsgeschäft hinaus.

Die Wayguard-App von Axa hat nur wenig mit dem klassischen Versicherungsgeschäft zu tun.
Foto: Axa

Dabei ist der mögliche Nutzwert der Tinitus App oder auch der Catema Sehschulung für die Axa relativ klar ersichtlich: Die internetbasierte Therapie etwa kann nach Angaben des Entwicklers Caterna Vision bei schielenden Kindern das schwache Auge intensiv stimulieren und so die Sehleistung verbessern.

Bei anderen Lösungen muss man dagegen schon um etwas die Ecke denken, um die Intention der Axa zu verstehen: So können sich Frauen mit der App WayGuard durch eine professionelle Leitstelle und private Freunde virtuell nach Hause begleiten lassen, smartPARKING soll Kunden beim alltäglichen Parkproblem in Innenstädten helfen. Axa Babbels wiederum stellt jungen Eltern in einer App gebündelt die wichtigsten Informationen rund um das Thema Baby zur Verfügung.

Bereit für Schadensabwicklung 2.0?

Ein Beispiel dafür, wie sich die Kfz-Versicherer für die neuen Anforderungen durch die Digitalisierung rüsten können, gab Markus Rehle, Mitglied des Vorstandes der HDI Versicherung AG. In einem unterhaltsamen Video zeigte er auf, wie ein Kunde in nicht allzu ferner Zukunft von seiner Kfz-Versicherung im Schadensfall unterstützt werden könnte: Nachdem ein im Auto untergebrachtes Dongle den Auffahrunfall selbstständig erkannt hat, meldet sich der Versicherer automatisch bei seinem Kunden und erkundigt sich nach seinem Zustand. Nach kurzer Zeit kommt dann eine Kameradrohne vorbei und filmt das Ausmaß des Schadens.

Besonders nett ist dabei der Kontrast zum Ist-Zustand, dargestellt am Beispiel des Unfallgegners. Während dieser versucht, seinen Versicherer telefonisch zu erreichen, wird der Fahrer bereits von einem Uber-Taxi abgeholt und das Fahrzeug vom Abschleppwagen aufgeladen.

Wie HDI-Mann Rehle ausführt, sind die Versicherer bei Tarifrecherche und -abschluss - anders als bei der Schadensabwicklung - bereits in der digitalen Realität angekommen. So erwarteten die Kunden bei der Berechnung umfangreiche Online-Funktionalitäten, die meisten sogar fortgeschrittene wie Smartphone- oder iPad-Zugriff.

Insgesamt erfolgten laut Rehle bei Talanx bereits 35 Prozent der Tarifberechnungen auf Smart-Devices. Und während 50 Prozent strikt offline vorgehen, wickelt bereits ein Viertel alles online ab. Dazwischen gebe es als maßgeblichen Trend die RoPo-Kunden ("Research online - Purchase offline"), auf die dem Manager zufolge besonders geachtet werden sollte: Wer in diesem Segment nicht tätig sei, also diese Online-Strecken nicht anbietet, werde diese Kunden nicht weiter entwickeln können.

Das empfiehlt Gartner CIOs in Versicherungen

Die beiden Beispiele Axa und HDI dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der digitale Reifegrad in der Versicherungsbranche insgesamt noch relativ niedrig ist. Wie Jürgen Weiss, Managing Vice President Industry Advisory Services bei Gartner, in seinem Vortrag auf der Inscom ausführte, erprobt der Großteil der Versicherer mit 69 Prozent gerade einmal digitale Geschäftsmodelle und Technologien und hat einen Vertreter für das Thema in der Unternehmensführung etabliert. Die Fähigkeit, in Echtzeit oder Nahezu-Echtzeit auf Ereignisse zu reagieren, ist jedoch noch eingeschränkt. Nur zwölf Prozent besitzen eine ausgereifte bimodale IT, digitales Nutzenversprechen sowie ein ausgereiftes digitales KPI-Framework.

Ein Großteil der Versicherungen steht noch ziemlich am Anfang was digitale Geschäftsmodelle und Technologien angeht.
Foto: Gartner

Dieses Defizit ist umso gravierender, weil die Konkurrenz nicht schläft: Laut Gartner-Umfrage glauben 62 Prozent der Versicherer, dass in fünf Jahren ihre größten Wettbewerber vorwiegend aus der Versicherungswirtschaft kommen. 15 Prozent sehen sie in andere Industrien, 13 Prozent in Technologieanbietern und 10 Prozent in bislang noch unbekannten Startups.

Um in dem komplexen, sich verändernden Markt den entscheidenden Schritt voraus zu sein, empfiehlt Weiss den Versicherungs-CIOs daher, in aufkommende Technologien zu investieren und eine Balanced Scorecard für das digitale Geschäft zu schaffen. Zentrale Elemente in dem Konzept zur Umsetzung der Unternehmensstrategie sollten dabei die digitale Innovation, der digitale Umsatz, die Nutzererfahrung der Kunden und die betriebliche Effizienz sein.