Offshore-Trend erreicht Europa

25.04.2006
Europäische Anwender lagern ihre IT zunehmend in Niedriglohnländer aus, doch nicht immer ist Indien das bevorzugte Ziel.

In den Jahren 2006 und 2007 erwarten die Marktforscher von Gartner einen Anstieg der europäischen Offshore-Ausgaben um 50 Prozent. Getragen werde das Wachstum vornehmlich von Unternehmen aus Großbritannien, doch auch in Deutschland und Skandinavien steige die Nachfrage, so die Gartner-Analysten in einer aktuellen Studie. Zugleich werde das Geschäft im wesentlich reiferen US-amerikanischen Markt um 30 Prozent zulegen. "Der Markt für Offshore-Outsourcing wächst und die Zahl der Unternehmen, die sich dieser Ressourcen bedient, legt weltweit in den kommenden zwei Jahren von 13 auf 20 Prozent zu", sagte Ian Marriott, Research Vice President bei Gartner. "Die europäischen Anwender bilden die Speerspitze dieser Entwicklung."

Die Aussagen beruhen auf Interviews mit 945 Experten und sie belegen, dass Indien nach wie vor die erste Adresse für Offshore-Dienstleistungen ist, während China und Brasilien um den zweiten Platz konkurrieren. Die Befragung zeigt aber auch, dass europäische Anwender gerne Lokationen in der Nähe, etwa in Ost- und Südosteuropa zur IT-Auslagerung wählen. "Indien läuft Gefahr, Opfer des eigenen Erfolgs zu werden", warnte Marriott. Der Pool an fähigen Fachkräften sei begrenzt und die Mitarbeiterfluktuation hoch, außerdem steige das Lohnniveau. "Dadurch sind europäische Unternehmen angehalten, nach Alternativen Ausschau zu halten, die ihren individuellen Bedürfnissen gerecht werden", riet Marriott.

China biete sich allerdings nur bedingt an, der Gartner-Analyst bemängelt vor allem die dürftigen Englisch-Kenntnisse, die mangelhafte Marktreife und die Konzentration der Anbieter auf US-amerikanische Kunden. Ähnliches gelte für die Länder Brasilien und Mexiko. Daher, so Marriott, seien Nearshore-Angebote die bessere Wahl, und zwar aus folgenden Ländern:

- Irland;

- Lettland;

- Nordirland;

- Polen;

- Rumänien;

- Russland;

- Slowakei;

- Spanien;

- Tschechien;

- Ungarn.

Diese Länder gliedert Gartner wiederum in drei Kategorien:

Langjährige Mitglieder der Europäischen Union:

Irland, Nordirland und Spanien verfügen über eine robuste Infrastruktur und bieten ein politisch und wirtschaftlich stabiles Umfeld. Für Bürger anderer EU-Mitgliedsländer besteht keine Visumspflicht. Die Regierungen in Irland und Nordirland fördern investitionswillige ausländische Firmen und der Datenschutz der drei Staaten orientiert sich an europäischer Gesetzgebung. Doch die Vorteile haben ihren Preis: Die Kosten für Arbeitskräfte und Immobilien sind verhältnismäßig hoch.

Neue Mitglieder der Europäischen Union:

Tschechien, Ungarn, Lettland, Polen und die Slowakei sehen die Gartner-Beobachter in einer attraktiven Position: Kurz und mittelfristig können sie günstige Preise bieten, politisch und wirtschaftlich haben die Ländern enorme Fortschritte gemacht. Kulturelle Unterschiede zu den anderen europäischen Ländern sind nicht der Rede wert und in der Regel bieten sie gute Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere für deutsche Kunden. Das Niveau an technischen Fähigkeiten ist hoch.

Als schwierig stuft der Gartner-Experte ein, das richtige Personal zu finden, denn der Pool an Experten ist begrenzt. Gute Möglichkeiten bieten die Länder zurzeit in den Bereichen Helpdesk-Services, Applikationsentwicklung und -betreuung sowie Geschäftsprozess-Dienste. Die Präsenz großer Service-Provider in diesen Ländern und die Investitionen indischer Anbieter schlagen sich in einer zunehmenden Reife des geschäftlich orientierten Fachwissens nieder.

Länder außerhalb der Europäischen Union:

Rumänien kann gegenüber Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion auf den Vorteil der nahenden EU-Mitgliedschaft verweisen. Das Land ist dadurch angehalten, die gesetzlichen und arbeitsrechtlichen Voraussetzungen für eine Aufnahme zu schaffen. "All diese Regionen spüren nicht den Preisdruck der anderen europäischen Länder. Unter Kostenaspekten finden sie sich in einer aussichtsreichen Position wieder", schilderte Marriott. Die Sprachkenntnisse sind gut, beliebte Fremdsprachen sind englisch, französisch, deutsch und zum Teil auch italienisch Rumäniens Hochschulen bilden gute Ingenieure aus, während russischen Elite-Universitäten für ihre extrem hohen mathematischen und wissenschaftlichen Standards bekannt sind. Solange technische und weniger betriebswirtschaftliche Fähigkeiten gefragt sind, hegt Gartner keine Zweifel an der Fähigkeit dieser Länder, ausreichend Arbeitskräfte bereitzustellen.

Zudem hat die russische Regierung Fortschritte in der Unterstützung ausländischer Firmen gemacht und auch Rumänien zeigt hier erhebliches Engagement. Allerdings weist Gartner auf Defizite im Umgang mit der Globalisierung des Geschäfts hin, zudem ist die Infrastruktur weniger solide als in anderen europäischen Ländern. "Die Visumspflicht gestaltet sich bisweilen kompliziert, und das politische und wirtschaftliche Umfeld kann Anlass zur Sorge bereiten", warnte Marriott. (jha)