Warum Deutschland bei Industrie 4.0 hinterherhinkt

Offenheit ist alles: So wird Fabrik-IT smart

Kommentar  von Franz Gruber
Bis heute werden in Fabriken hierzulande fortwährend Datensilos geschaffen, und zwar durch die Betriebsdatenerfassung durch ein herkömmliches Manufacturing Execution System (MES). Das hat in der Industrie 4.0 keine Zukunft. Die smarte Produktion gelingt nur mit offenen Schnittstellen (Open API) in einem MOS - einem Manufacturing Operation System

Wir schreiben das Jahr 2017. Seit über zwanzig Jahren rollt die Revolution digitaler Vernetzung um den Globus und führt zu tektonischen Verschiebungen unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens. Auf dem weiten Feld des Internet of Things (IoT) kommen fast täglich Innovationen auf den Markt. Konzepte wie Industrie 4.0, Industrial Internet und Smart Manufacturing adaptieren diese neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in der Produktion.

Erfüllen Manufacturing Execution Systeme (MES) alle Anforderungen von Industrie 4.0?
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

Nur: In manchen deutschen Fabriken hält sich noch immer eine IT-Infrastruktur aus dem vergangenen Jahrhundert. Die Rede ist von der Maschinen- und Betriebsdatenerfassung in einem Manufacturing Execution System (MES). Oberflächlich betrachtet ist ein MES nichts anderes als eine Sammlung von Anwendungsprogrammen, die mit der Maschinen- und Betriebsdatenerfassung zu einem monolithischen System verschmolzen sind.

Schaut man sich den Markt der MES-Anbieter in Deutschland genauer an, stellt man schnell fest, dass sich deren Produkte hinsichtlich ihres Leistungs- und Funktionsumfangs drastisch unterscheiden. Allen gemeinsam aber ist die monolithische Architektur, durch die nur der MES-Anbieter selbst vollen Zugriff auf die erfassten Produktionsdaten seiner Kunden hat. Die in einem MES erfassten Daten landen in einer Datenbank, die aufgrund der Abgeschlossenheit des Systems für keine weitere Anwendung zur Verfügung steht. Eine solche Datenbank wird als Datensilo bezeichnet.

In der MES-Falle

Betroffen sind zunächst die von den MES-Protagonisten als MES-Aufgaben definierten Anwendungsgebiete (siehe dazu auch VDI 5600 Blatt 1): Auftragsfeinplanung und Feinsteuerung, Betriebsmittel-, Material- und Personalmanagement, Leistungsanalyse, Qualitätsmanagement.

Weitaus tragischer ist, dass darüber hinaus sämtliche Produktinnovationen im Bereich des Smart Manufacturing durch die Zugriffsbarrieren eines MES nicht zum Einsatz gelangen können. Hierzu zählen Funktionen auf Basis von Big-Data-Analysen, zum Beispiel eine "vorhersagende" Wartung (Predictive Maintenance), welche anhand von historischen Daten und Resonanzanalysen Ausfälle prognostiziert, bevor die Fehler tatsächlich auftreten.

Nicht zuletzt werden auch neue Technologien und Konzepte smart vernetzter Wertschöpfungsketten blockiert, weil verschiedene MES innerhalb von Lieferketten selbst untereinander keine Daten austauschen können. Verhindert wird dadurch die Rückverfolgbarkeit aller Prozesse innerhalb von Wertschöpfungsketten (Supply Chain Traceability) und eine die Lieferkette übergreifende Fertigungsplanung und -steuerung.

MES schafft "Datensilos"

Fakt ist: Sobald die Maschinen- und Betriebsdatenerfassung einmal in einem MES erfolgt, ist der Kunde in allen Bereichen des Shop Floor Managements auf das Portfolio des jeweiligen MES Anbieters beschränkt. Betriebsdaten stehen nur in der jeweiligen MES-Welt zur Verfügung. Die Produktion ist IT-seitig vom Rest des Unternehmens isoliert, mit Ausnahme einer ERP-Schnittstelle zur Rückmeldungen von Fertigungsaufträgen.

Solche isolierten Datenbanken, auf die andere Anwendungen keinen Zugriff haben, werden zu Recht als Datensilo bezeichnet. In der Fertigung gängige Anwendungen können - wenn überhaupt - nur mit extrem hohen Kosten und technischen Aufwänden eingesetzt werden, weil sie keinen Zugriff auf die im MES erfassten Daten erhalten.

Gerne wird der Einwand vorgetragen, dass ein MES keine offenen Schnittstellen benötigt, da es ja alle erforderlichen Funktionen in sich vereint. Wie leistungsstark aber sind diese selbstgestrickten Funktionen der MES Anbieter? Beispiel Auftragsfeinplanung: In einem MES kann der Fertigungsplaner Stunden vor einer Plantafel verbringen, das Planungsszenario mit diversen Planungsvarianten simulieren und das Ergebnis nochmal nach diesem oder jenem Parameter optimieren. Am Ende hat sein Planungsszenario mit der Realität wenig zu tun, weil ein MES mit einfachen Durchschnittswerten plant.

Monolithische Lösungen nicht zukunftsfähig

Da eine solche Planung schon nach kurzen Zeitintervallen hinfällig ist, sind Wortschöpfungen wie, 'Short Interval Technology' im Umlauf, die dem Planer das Überarbeiten der Feinplanung in Echtzeit abverlangen. Eine Feinplanung, die noch nicht einmal für die nächste Schicht Stabilität und Planungssicherheit gewährleistet, ist ihren Aufwand nicht wert.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich MES-Anbieter mit ihren monolithischen Lösungen letztlich die Möglichkeit verschaffen, ihre eigenen Produkte mittels Querverkauf (Cross Selling) immer weiter zu vermarkten, obwohl sie auf den internationalen Märkten vernetzter und nach allen Seiten offener Lösungen womöglich gar nicht wettbewerbsfähig wären.

Das Programm MES geht in Deutschland schon viele Jahre auf. Doch geschlossene, nur auf eine Produktion bezogene IT-Architekturen sind nicht kompatibel mit den Anforderungen der digitalen Revolution 4.0. Datensilos erweisen sich mehr und mehr als nachteilig für Anwender. Über kurz oder lang dürften daher Anbieter, die an der MES-Strategie festhalten, ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wer die seit mehr als zehn Jahren gängigen Internettechnologien hartnäckig ignoriert, wird keine eigene Expertise in diesem Bereich aufbauen und für talentierte Nachwuchskräfte nicht mehr interessant sein.

Gegenkonzept: MOS mit offenen Schnittstellen

Die in der Produktion erfassten Daten werden auf der Basis von sogenannten Ressourcen (RESTful Web-Services) zur Verfügung gestellt. Die Ressourcen eines MOS stellen offene Programmierschnittstellen dar, man spricht von Open API (Application Programming Interface - Schnittstellen zur Anwendungsprogrammierung).

Auf der Homepage der Open API Initiative finden sich alle namenhaften amerikanischen Softwareunternehmen. Die Unternehmen haben schon vor Jahren erkannt, dass ihre eigenen Anwendungen für die Kunden einen viel größeren Nutzen bringen, wenn sie mit anderen Anwendungen - auch denen der Wettbewerber - kommunizieren und uneingeschränkt Daten austauschen können.

Open API ist das Grundprinzip eines MOS. Alle Anwendungen greifen auf dieselbe Programmierschnittstelle zu. Damit hat im Gegensatz zum MES kein einzelner Anbieter einen privilegierten Zugang zu den erfassten Daten. Für die produzierenden Betriebe bedeutet dies, dass alle Anwendungen innerhalb des bestehenden IT-Umfeldes mit den erforderlichen Betriebs- und Prozessdaten versorgt werden.

Uneingeschränkter Zugang zu Spitzentechnologie

Mit dem Konzept der Universal Shop Floor Connectivity gehen MOS noch einen Schritt weiter. Dabei handelt es sich um generische Ressourcen auf Basis von einfach zu konfigurierenden Datenquellen. Auf diese Weise erhalten produzierende Betriebe die Möglichkeit, unabhängig von der standardisierten API alle im MOS erfassten Daten den vorhandenen Drittsystemen auf nahezu beliebige Weise zur Verfügung zu stellen.

Die Betriebsdaten stehen im MOS im gesamten Unternehmen zur Verfügung - in der Produktion ebenso wie in der Planung. Die Integration aller Betriebsdaten sowohl für mehrere Fabrikstandorte als auch für die übergeordnete Unternehmensplanung (SAP / ERP) ist die Grundvoraussetzung dafür, die Produktivität kurzfristig zu erhöhen und mittelfristig positive Effekte bei Kosten, Sicherheit und Umwelt zu erzielen.

Vor allem aber eröffnet ein MOS seinen Anwendern uneingeschränkten Zugang zu heutiger und zukünftiger Spitzentechnologie im Bereich des Smart Manufacturing, der ihnen durch ein MES verweigert wurde. Bei der Auswahl dieser Anwendungen kann sich jeder Betrieb für die für ihn am besten geeignete Lösung entscheiden - die mit dem MES erzwungene Herstellerbindung ist nicht mehr gegeben.

Feinplanung statt Fehlplanung

Diese Offenheit bringt für die Anwender enorme Vorteile. Beispiel: Mit einem MOS können Anwender die Betriebsdaten über offene Schnittstellen mit jeder auf dem Markt verfügbaren proprietären oder freien Anwendung analysieren. Gründe für Stillstände in der Vergangenheit werden auf Trends untersucht, entweder für einzelne Arbeitsplätze oder für Materialien. Das ermöglicht zuverlässige Prognosen über die zu erwartende Bearbeitungsdauer einzelner Aufträge und Vorgänge für die Zukunft.

Modernste Techniken der Big-Data-Analyse liefern so die Basis für eine realistische und über einen größeren Zeitraum stabile Auftragsfeinplanung. Der Planer verbringt seine Zeit nicht vor der Plantafel, sondern wird alarmiert, wenn unerwartete Verzögerungen seinen Eingriff erfordern. Terminüberschreitungen können mit einer Vorlaufzeit von Wochen zuverlässig prognostiziert werden. Dem Planer bleibt somit genügend Zeit, drohenden Verspätungen zuvorzukommen. Dazu muss die in der Plantafel vorgeschlagene Planungsoptimierung lediglich bestätigt werden.

Web-Apps statt Fabrik-Terminals

Für die Echtzeit-Steuerung von Fabriken eignen sich Web-Apps deutlich besser als MES-Anwendungsprogramme auf einem Personal Computer. Web-Apps ermöglichen die flexible Darstellung aller benötigten Informationen zu jeder Zeit auf jedem Endgerät und an jedem Ort innerhalb eines Unternehmens.

Die ortsgebundenen Fabrik-Terminals des MES verursachen zusätzliche Wege, weil das Instandhaltungspersonal nach jeder geplanten und ungeplanten Maßnahme eines der dafür auf dem Betriebsgelände bereitgestellten Industrieterminals aufsuchen muss, um Meldung zu erstatten. Solche unnötigen Wege widersprechen dem Lean Prinzip, überflüssige Tätigkeiten zu vermeiden. Und sie fördern auch nicht die für modernes Shop Floor Management so erfolgskritische Akzeptanz der Mitarbeiter.

Mobile Shop-Floor-Assistenten eines MOS erlauben hingegen jederzeit Rückmeldungen und Eingriffe am Ort des Geschehens. Sie werden in Form von Web-Apps bereitgestellt. Installations- und Konfigurationsaufwände sowie Lizenzkosten, die bei den ortsgebundenen Shop-Floor-Terminals eines MES mit der Anzahl der Endgeräte förmlich eskalieren, entfallen vollständig.

IT-seitig nicht abhängen lassen

Die deutschen Industrieverbände haben zu lange Zeit an dem MES-Konzept festgehalten und Normen und Empfehlungen für MES definiert, statt sich den Möglichkeiten moderner Internettechnologien zu öffnen. Dies aber wäre gerade im Interesse ihrer Mitglieder, den mittelständischen deutschen Industriebetrieben. Heute finden sich darunter viele der sogenannten Hidden Champions. Von der modernen Entwicklung vernetzter Produktion abgehängt, laufen diese Gefahr, mittelfristig ins Hintertreffen zu geraten.

Wer das aus den 1990er Jahren stammende und technologisch überholte MES heute noch als "moderne Informationstechnologie" verkaufen möchte oder mit dem Label 4.0 versieht, wird bald in Rechtfertigungszwang geraten und einen Vertrauensverlust erleiden.

Die Wettbewerbsvorteile durch ein MOS, welches erst modernes Shop Floor Management und Smart Manufacturing ermöglicht, werden früher oder später auch in den mittelständischen deutschen Produktionsbetrieben wahrgenommen werden. Betriebsdatenerfassung mit einem MOS auf Basis von Open API bietet die benötigte Flexibilität, um die eigene Produktion tatsächlich in eine Smart Factory zu verwandeln und so hocheffiziente dynamische Wertschöpfungsnetze entstehen zu lassen - zum Nutzen von Produktivität, Umwelt, Standorten und Arbeitsplätzen.

MOS vs. MES - die TECHNOLOGIE

PRÜFSTAND: MOS vs. MES - DIE TECHNOLOGIE

MANUFACTURING EXECUTION SYSTEM

MANUFACTURING EXECUTION SYSTEM

Ressourcen-orientierte Architektur: Trennung von Anwendungen (Web-Apps oder Drittsysteme) und dem Manufacturing Operating System. Lose Kopplung durch offene Schnittstellen.

Monolithische Architektur: Als MES-Module konzipierte Anwendungen verschmelzen mit der Maschinen- und Betriebsdatenerfassung zu einem monolithischen System.

Grundsätzliche Offenheit:Open API, d.h. uneingeschränkter Zugriff auf offene Ressourcen auf Basis von "RESTful Web-Services"

a) "Application Services", die nur den MES-internen Anwendungen zur Verfügung stehen b) wenige, gegen Lizenzgebühr freigeschaltete "Integration Services", deren Funktionalität sich im Wesentlichen auf die Anbindung des MES an ein System der Unternehmensplanung (SAP / ERP) beschränkt

Slim-Client-Architektur:Die als Web-Apps konzipierten Smart Manufacturing Applications können von jedem Browser und jedem Endgerät aufgerufen werden. Unbeschränkte Anzahl von Clients.

Fat-Client-Architektur:Die MES Module können nur auf Rechnern gestartet werden, auf denen die lizenzierungspflichtige Ausführungsumgebung des jeweiligen MES Anbieters installiert wurde. Beschränkte Anzahl von Clients.

MOS vs. MES - die FUNKTIONALITÄT

PRÜFSTAND: MOS vs. MES - DIE FUNKTIONALITÄT

MANUFACTURING OPERATION SYSTEM

MANUFACTURING EXECUTION SYSTEM

Zugriff: Kunden besitzen den vollen Zugriff auf ihre Betriebsdaten und steuern den Zugriff selbst

Zugriff: Kunden greifen über lizensierte Herstellerprogramme auf ihre Betriebsdaten zu

Verfügbarkeit: Betriebsdaten stehen im ganzen Unternehmen zur Verfügung, in der Produktion (Shop Floor) ebenso wie in der Planung (Top Floor - SAP / ERP)

Verfügbarkeit: Betriebsdaten stehen nur in der MES-Welt zur Verfügung. Die Produktion ist IT-seitig weitgehend vom Rest des Unternehmens isoliert

Integration der Betriebsdaten in alle Systeme des Unternehmens - der Schlüssel für höhere Produktivität, Ressourceneffizienz und niedrigere Kosten

Integration:Datensilos widersprechen dem Konzept der Industrie 4.0 und Smart Factory - einer smarten, digital vernetzten Produktion über Werke hinweg

Zugang zu allen verfügbaren Smart-Factory-Anwendungen

Nutzungvon Smart-Factory- Applikationen nicht möglich

Auftragsfeinplanung stabil und valide durch Big-Data-Analyse aus Echtzeit- und Vergangenheitsdaten

Auftragsfeinplanungmit Durchschnittswerten, welche meist schon nach Stunden hinfällig sind

Proaktive Qualitätssicherung möglich (Predictive Maintenance): Fehlerursachen werden analysiert, bevor der Fehler auftreten kann

Proaktive Qualitätssicherungist nur mit hauseigenen Mitteln des MES-Anbieters möglich, falls diese vorhanden sind

Werkzeugdatenmanagement, das die Fertigung und Entwicklung auch für CNC Maschinen integriert; keine redundante Datenpflege in verschiedenen Systemen

Werkzeugdatenmanagement nur mit Hausmittel des MES-Anbieters möglich. Daten werden nicht an das CAM-System oder PLM übergeben (doppelte Datenpflege)

Flexibilität ist gegeben, da ein MOS nicht in die Herstellerabhängigkeit führt

Flexibilität gering, weil MES als Anbieterstrategie in technologische Sackgasse führen kann