Neues Selbstverstaendnis als Anbieter fertiger Loesungen Alcatel: Erfolgssuche mit neuen Plaenen und altem Pioniergeist CW-Bericht, Gerhard Holzwart

05.05.1995

BERLIN - Der angeschlagene Boxer kehrt in den Ring zurueck. Diesen Eindruck vermittelten jedenfalls die Verantwortlichen des durch eine schwelende Fuehrungskrise sowie gravierende Einbrueche im Telecom-Sektor arg in Bedraengnis geratenen Alcatel-Konzerns am Rande der ISS95 in Berlin. Der franzoesische Multi will kuenftig durch (wiederzugewinnende) Technologiefuehrerschaft sowie eine staerkere Ausrichtung auf das Dienstleistungsgeschaeft mehr denn je Flagge zeigen.

Im Pariser Headquarter von Alcatel Alsthom ist Grossreinemachen angesagt, und deshalb musste er kurzfristig absagen. Die Rede ist von Alcatel-Vorstandsmitglied Josef Cornu, dem schon seit laengerem starken Mann in der Fuehrungsriege des franzoesischen Industriegiganten. Cornu hatte einen dringenden Termin bei Interimspraesident Marc Vienot, der den Scherbenhaufen, den der wegen umfangreicher Korruptionsvorwuerfe von einem Pariser Gericht aus dem Verkehr gezogene Alcatel-Chef Pierre Suard hinterliess, zusammenkehren und binnen kurzer Zeit vor allem eine neue, handlungsfaehige Fuehrungsmannschaft praesentieren muss (siehe CW Nr. 17 vom 28. April 1995, Seite 23: "Bankier Marc Vienot soll den Augiasstall Alcatel ausmisten").

Statt des angekuendigten Cornu kam also Alcatels oberster Entwicklungschef Peter Radley nach Berlin, um den aus aller Welt angereisten Fach- und Wirtschaftsjournalisten am Rande des "Weltkongresses der Telekommunikation" Rede und Antwort zu stehen. Und der eloquente Brite blieb auf dem Funkturm hoch ueber den Daechern Berlins auch nichts schuldig. 48 Stunden nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 habe, wie Bradley mit Blick auf das in Sichtweite liegende Brandenburger Tor fast schon vergessene gute alte Zeiten seiner Company beschwor, Alcatel "die erste digitale Vermittlungsstelle in Ost-Berlin installiert".

Den Pioniergeist, der Alcatel damals auszeichnete (neben Siemens war Alcatel der zweite grosse an den sogenannten "Turn-key"- Projekten in Ostdeutschland beteiligte Hersteller), wird man auch noetig haben, denn das Unternehmen hat in juengster Zeit fuer eine Fuelle negativer Schlagzeilen gesorgt. Neben dem Korruptionsskandal in der Fuehrungsetage war es vor allem die wirtschaftliche Talfahrt, mit der der in den Jahren ergiebiger und geschuetzter Monopolmaerkte traege gewordene Konzernverbund von sich reden machte. Davon hauptsaechlich betroffen sind die Alcatel-Toechter in Spanien, Italien und Deutschland, die, wie es in einer zum Ergebnis 1994 veroeffentlichten Erklaerung des Unternehmens (siehe Lexikothek) heisst, strukturell bedingte "hohe Rueckstellungen" verursachten und nicht im erwuenschten Mass zum Erfolg des Gesamtkonzerns beitrugen.

Die Konsequenzen fuer die Stuttgarter Alcatel SEL AG waren bekanntlich einschneidend: Nach Verlusten allein im Geschaeftsjahr 1994 von rund 500 Millionen Mark wurde Anfang des Jahres Alcatel- Statthalter Gerhard Zeidler in die Wueste geschickt und der "Techniker" Peter Landsberg als Sprecher einer weitgehend neu besetzten Vorstandsmannschaft berufen. Seitdem werden die Geschaefte in Stuttgart, wie Insider mutmassen, im Prinzip von Paris aus gefuehrt - ob mit Erfolg, bleibt abzuwarten. Bis Ende 1995 sollen jedenfalls noch 5000 Alcatel-Arbeitsplaetze in Deutschland dem Rotstift zum Opfer fallen.

Alles andere als eine Abmagerungskur kuendigte Technikdirektor Radley hingegen in puncto neue Produkte an. Hier wolle man das bei Alcatel "vorhandene Know-how unterstreichen". So hat beispielsweise die seit gut einem Jahr existierende Kooperation mit Hewlett-Packard (HP) weitere Fruechte in Form einer neuen Management-Plattform fuer Vermittlungsstellen in Telecom-Netzen getragen. Das Ganze heisst "Almap Release 3", laeuft auf den Alcatel-Knotenrechnern "A1332" und "A1320" und basiert auf HPs Verwaltungsarchitektur "Openview" sowie der von dem Normierungsgremium X/Open standardisierten Connectivity-Loesung "XMP-API", die die Schnittstelle zwischen der Netz-Management- Software und dem jeweiligen Telecom-Equipment bildet.

Darueber hinaus hat schon Ende Maerz Alcatel Data Networks, ein Gemeinschaftsunternehmen von Alcatel und dem US-Carrier Sprint, die neue Vermittlungsarchitektur "Avanza" vorgestellt. Avanza ist eine sogenannte Multiservice-Plattform, die sowohl in privaten als auch in oeffentlichen Netzen die herkoemmlichen Grenzen zwischen LAN-, ATM-, Frame-Relay-, ISDN-, X.25- und TDM- Uebertragungstechniken aufheben soll. Grundstein hierfuer ist der ebenfalls neue Switch "Alcatel 1100 HSS", der in den zwei verfuegbaren Versionen "Serie 700" und "Serie 400" die jeweiligen Uebertragungsmodi sowohl in lokalen Campusnetzen als auch im ueberregionalen Backbone eines oeffentlichen Netzbetreibers bei Geschwindigkeiten von 1,2 Kbit/s bis 622 Mbit/s unterstuetzt.

Grundsaetzlich will man sich bei Alcatel, wie Bradley betonte, in Zukunft mehr denn je als Systemintegrator einen Namen machen. Das seinerzeit mehr oder weniger eigenverantwortliche Arbeiten bei der schluesselfertigen Uebergabe von Vermittlungsstellen in Ostdeutschland an die Telekom sei heute gang und gebe. Die grossen Carrier wollen Bradley zufolge "leistungsfaehige und im Wettbewerb bestehende Netze"; Diskussionen um Schlagworte wie Breitband-ISDN oder ATM seien zweitrangig. Weg von der Technik, hin zu mehr loesungsorientiertem Arbeiten, soll kuenftig die Devise lauten.

Engagement als Carrier ist durchaus vorstellbar

Alcatels Staerke war und ist, wie der Technikchef auf das von Experten kritisierte interne Gerangel der einzelnen Alcatel- Toechter um lukrative Maerkte abhob, in jedem Land "die dortigen Gepflogenheiten zu kennnen und die jeweilige Sprache zu sprechen". Grosse Hoffnungen setzt man hier vor allem auf die Wachstumsmaerkte Asiens oder auf die weitgehend deregulierten Telecom-Maerkte in Grossbritannien und den USA, wo die Alcatel-Gruppe bis dato nicht praesent war.

Auch ein Auftreten als zumindest regional taetiger Netzbetreiber wollte Bradley fuer sein Unternehmen in Zukunft nicht voellig ausschliessen. Alcatel ist unter anderem am zweiten franzoesischen Mobilfunkbetreiber SFR beteiligt und verfolgt dieses Engagement nach den Worten Bradleys mit "dem vollen Einverstaendnis von France Telecom". Dies sei, so Alcatels Chefentwickler, auch wichtig, denn das Unternehmen werde niemals "als Konkurrent zu seinen wichtigsten Kunden" in Erscheinung treten. Aber was heisst dies schon, wie selbst Bradley angesichts einer immer schneller pulsierenden Entwicklung im Telecom-Business einraeumen musste. Der Weg vom Hardware-Supplier zum Service-Provider sei, so der Manager, "unumkehrbar".