Schneller produzieren und liefern allein reicht nicht

Neue Konzepte für Mobilität im Verkehr

03.11.2000 von VON Helga
Weltweit laufen mehr Autos von den Montagebändern, als verkauft werden können. Die deutschen Fahrzeugbauer sind zwar bisher erfolgreich im Export, dennoch suchen sie neue Marktchancen - als Mobilitätsdienstleister. Ein Feld für entwicklungsfreudige IT-Fachkräfte.

Deutschland im Jahr 2010:

Wer auf der Autobahn von Flensburg über Hannover nach München fährt, zahlt Maut. Das regt niemanden sonderlich auf. Schließlich behindert keine einzige Zahlstelle die freie Fahrt. Ein satellitengestütztes Navigationssystem ortet das Fahrzeug, erkennt den Code, errechnet die Wegegebühr und löst die automatische Bankabbuchung aus. Kein völlig unwahrscheinliches Szenario, wenn es nach einer Expertenkommission des Bundesverkehrsministeriums geht.

Mit Telematik Weltmarktstellung ausbauen

Ob es genau so kommt oder ein bisschen anders - die Zukunft der deutschen Automobilindustrie hängt eng mit dem systematischen Einsatz der Informatik im Verkehrswesen zusammen. Die Konzerne wandeln sich von reinen Autoproduzenten zu Mobilitätsdienstleistern. Mit der forcierten Entwicklung diverser Telematikanwendungen wollen die deutschen Unternehmen technologisch die Nase vorn behalten und ihre Weltmarktstellung ausbauen. Das beginnt beim Empfang verbesserter Verkehrsinformationen im Auto, geht weiter mit Geräten zur Fahrzeugnavigation und umfasst schließlich die Vernetzung verschiedener Verkehrsträger sowie die telematische Steuerung kompletter Verkehrsströme.

Ein weites Tätigkeitsfeld für Informatiker. Deren Kenntnisse sind in der Autoindustrie zunehmend auch bei der Entwicklung des E-Commerce-Angebots und beim Aufbau von Internet-Marktplätzen gefragt. Außerdem steht das Know-how von IT-Spezialisten hoch im Kurs, wenn es um die weitere Automatisierung der Fahrzeugproduktion oder um rechnergesteuerte Zuliefer-Hersteller-Beziehungen geht. Die deutsche Automobilindustrie umfasst nicht nur wohlbekannte Konzerne und Marken wie Audi, BMW, Ford, Mercedes, Opel, Porsche und VW. Vielmehr sind im Verband der Automobilindustrie (VDA) mehr als 500 Firmen Mitglied (http://www.vda.de). Knapp 400 davon stellen Kfz-Teile und Autozubehör her. Die Branche beschäftigt zurzeit bundesweit rund 736 000 Arbeitnehmer. Das sind etwa zehn Prozent mehr als noch Mitte der 90erJahre. Damals baute die Autoindustrie massiv Arbeitsplätze ab.

Im vergangenen Jahr rollten 5,7 Millionen Autos und Nutzfahrzeuge vom Band deutscher Hersteller; die Auslastung ihrer Produktionskapazität liegt bei 93 Prozent. Und das, obwohl der Inlandsmarkt für Neuwagen so gut wie gesättigt ist und weltweit mehr Kraftfahrzeuge hergestellt werden, als abzusetzen sind. Doch die Ausfuhr deutscher Automobile boomt: Ein Plus von drei Prozent meldete der VDA in seiner Halbjahresbilanz vom Juli 2000. Die Statistiker streiten sich, ob in der Bundesrepublik jeder siebte, jeder zehnte oder jeder 23. Arbeitsplatz direkt und indirekt von der Autoindustrie abhängt. Dass der Wirtschaftszweig ökonomisch und gesellschaftlich eine große Rolle spielt, bezweifelt allerdings niemand.

VDA-Präsident Bernd Gottschalk ist zuversichtlich, dass sich daran in Zukunft nicht viel ändert: "Die Automobilindustrie ist und bleibt eine Schlüsselindustrie auch im Zeitalter der New Economy." Allerdings erfülle sich diese Vorhersage nur, wenn die "alte" Fertigungsbranche neue Wege gehe, meint Gottschalk. Er setzt dabei auf die entschlossene Nutzung der Informationstechnologie. "Die IuK-Techniken ermöglichen neue Dienstleistungen rund um das Automobil - vom Leasing bis hin zu Telematikdiensten. E-Commerce wird sowohl im Beschaffungswesen wie im Vertrieb immer stärker als Zeit und Kosten sparende Technologie genutzt. Wichtige Impulse gehen von der Anwendung der elektronischen Marktplätze aus."

Mit dieser Einschätzung der Zukunft seiner Branche steht der oberste Lobbyist der Fahrzeugbauer nicht allein da. Auch der Tarifpartner der Autohersteller, die IG Metall, setzt auf Innovationen im Verkehrssektor. "Schon heute ist erkennbar, dass immer mehr Automobilanbieter versuchen, ihre Kundschaft an die Marke zu binden, indem sie komplette Mobilitätsangebote machen", schreibt Elke Eller-Braatz in einem Thesenpapier der Gewerkschaft. Das hat laut IG Metall zur Folge, dass die klassischen Arbeitsplätze in Produktion und Montage an Bedeutung verlieren, dafür aber neue Beschäftigungschancen in Forschung und Entwicklung, bei Finanzdienstleistungen, Service und Marketing rund ums Auto entstehen.

Verband wagt keine Jobprognose

Eine autokritische Studie mit dem Titel "Hauptgewinn Zukunft. Neue Arbeitsplätze durch umweltverträglichen Verkehr" hat das Öko-Institut gemeinsam mit dem Verkehrsclub Deutschland erstellt. Neue umweltfreundliche Beschäftigungsmöglichkeiten könnten den Forschern zufolge unter anderem in den Bereichen Mobilitätsdienstleistungen, Telematik für den öffentlichen Verkehr und Software zur Organisation von Carsharing entstehen.

Nun ist von "Autokanzler" Gerhard Schröder alles andere als ein Umsteuern der Verkehrspolitik im Sinn des Öko-Instituts zu erwarten. Schröder will der Industrie möglichst wenig ordnungspolitische Hemmnisse in den Weg legen. Dennoch lässt sich der VDA auf keine Prognosen ein, wie viele Jobs in der Branche erhalten bleiben und wie viele neu entstehen werden. Beispielsweise in den Bereichen digitale Übertragungstechnik für Verkehrsinformationen, Sensorik für die Verkehrsdatenerfassung oder Satellitenortung für die Navigation.

Wohin der Trend geht, machen die Konzerne und ihre Zulieferer vor: Die Firma Opel bietet ihren Autokunden das Servicesystem "OnStar" an. Per Knopfdruck am Radiotelefon erhält der Fahrer exklusiv aktuelle Verkehrsinformationen des Operators, kann sich bei der weiteren Routenplanung beraten lassen oder im Fall einer Panne schnelle Hilfe organisieren. Daimler-Chrysler offeriert den Käufern des Kleinwagens Smart das Zusatzangebot "smartmove". Das heißt: Wer gerade mal schnell vom Minifahrzeug auf eine Mercedes-Limousine, einen Kombi oder einen Kleinlaster umsteigen will, kann sich kostengünstig aus einem speziellen Carsharing-Angebot bedienen oder zu Sonderkonditionen einen Mietwagen buchen.

Der BMW-Konzern spielt eine wichtige Rolle im Münchner "Mobinet": Bei dem von Stadt, Land, Bund und EU geförderten Forschungsprojekt geht es um die Enwicklung eines kooperativen Verkehrs-Managements, um neuartige Mobilitätsdienste und um die entsprechenden innovativen Verkehrstechnologien. Erhofft sich die Kommune vor allem praktikable Lösungen, wie die Verkehrsdichte im Ballungsraum verringert wird, ohne die Mobilität der Menschen einzuschränken, rechnet der Autokonzern mit guten Marktchancen für die neu entwickelten Telematiksysteme.

Die weltweit agierenden Konzerne General Motors, Ford und Daimler-Chrysler bauen unter dem Namen "Covisint" einen Internet-Handelsplatz für Autoteile auf. Inzwischen haben nicht nur die Konkurrenten Nissan und Renault ihre Beteiligung zugesagt, sondern auch die ersten deutschen Zulieferer wie etwa Bosch. Die Firma Webasto produziert Schiebedächer, Standheizungen und Klimaanlagen für verschiedene große Automarken. Um den Datenfluss zwischen den Webasto-Niederlassungen in aller Welt zu vereinheitlichen und sicherzustellen, dass keine Verwechslung von Kundendaten vorkommt, hat der Zulieferer ein eigenes "virtual private network" entwickelt. Im BMW-Werk Regensburg schließlich wird Fuzzy-Technologie eingesetzt, um die Reihenfolge der Modelle auf den Montagebändern zu optimieren und so die Lieferzeiten zu verkürzen.

Wer in den Stellenanzeigen von Zeitungen und Zeitschriften nach Jobangeboten der Autoindustrie für IT-Spezialisten Aussschau hält, wird selten fündig. Solche Fachleute sucht die Branche medienbewusst übers Internet - auf den eigenen Homepages oder in virtuellen Jobbörsen. Gesucht werden berufserfahrene DV-Experten ebenso wie Young Professionals: Datenbank-Anwendungsentwickler, Wirtschaftsinformatiker, IT-Spezialisten für Montage, Entwickler hardwarenaher Software, Systemadministratoren, Internet-Entwickler, Fertigungsexperten, Anwendungsentwickler für Materialflusssysteme oder CAD-Administratoren. Ein viel versprechendes, aber auch ein unübersichtliches Feld. Anders als die Fachverbände von Elektronikindustrie und Maschinenbau hat der Verband der Automobilindustrie kein eigenes Qualifikationsprofil für die in der Branche gesuchten Ingenieure und Informatiker entwickelt. Jeder Autokonzern pflege eigene universitäre Kontakte und eine firmenspezifische

Rekrutierungsstrategie, ist beim VDA zu erfahren.

Wer sucht wen?

- Volkswagen sucht Fachleute der Studienrichtungen Wirtschaftsingenieurwesen, Informatik, Wirtschaftsinformatik, Mathematik oder Physik nicht nur im Kernbereich DV/Organisation, sondern auch für die Systemintegration der Geschäftsprozesse zwischen Handel und Hersteller oder für den Ausbau von E-Business und Data-Warehouse-Lösungen. Gute Englischkenntnisse sind neben den fachlichen Qualifikationen eine wichtige Voraussetzung.

Der Wolfsburger Konzern bietet für die Studiengänge Industrie-Automatisierung, Konstruktion und Entwicklung sowie Produktion und Logistik gemeinsam mit der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel kombinierte Ausbildungen an. Abgeschlossen wird jeweils mit Facharbeiterprüfung und Diplom. Für Informatiker gibt es einen derartigen Qualifizierungsweg noch nicht.

Im September dieses Jahres haben die ersten Fachinformatiker mit Schwerpunkt Systemintegration eine klassische duale Berufsausbildung bei VW begonnen. Falls der Mangel an studierten Informatikern anhält, so die Kalkulation der Wolfsburger, können die hoch qualifizierten Facharbeiter nach Abschluss der Lehre in drei Jahren die entsprechenden Aufgaben übernehmen.

- Siemens Automotive Systems in Regensburg sucht Berufseinsteiger, die Elektrotechnik, Informatik, Maschinenbau, Kfz-Elektronik beziehungsweise -Mechanik, Physik, Mikrosystemtechnik, Betriebswirtschaft oder Wirtschaftsingenieurwesen studiert haben. Die Einsatzgebiete reichen von der Softwareentwicklung über die Bereiche Organisation, Information und Applikation bis hin zur Herstellung spezieller Prüfsoftware. Der bayerische Autozulieferer kooperiert mit naturwissenschaftlich-technischen Fakultäten verschiedener Hochschulen - von Regensburg über Aachen bis Darmstadt und Dresden.

- Daimler-Chrysler sucht derzeit rund 3300 Hochschulabsolventen - etwa 70 Prozent sollen einen Ingenieur- oder IT-Abschluss haben. Das Beschäftigungsfeld reicht von Systemplanung und Netzwerkadministration bis zu E-Business, Prozessdesign und Logistik. Der Stuttgarter Konzern bietet interessier- ten Studenten Praktika und Stipendien und bestimmten Hochschulen Gastprofessuren und Sponsorengelder an. Besonders pflegt der Autokonzern die Verbindung zu privaten Hochschuleinrichtungen wie der School of International Management and Technology (SIMT) mit Sitz in Stuttgart und der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) in Koblenz. Dort hat Daimler-Chrysler einen Lehrstuhl für Electronic Business gestiftet.

- BMW in München wird vor allem für E-Commerce und verkehrstelematische Anwendungen neue IT-Fachkräfte einstellen. Monika Flor, die für das Recruiting der Young Professionals zuständig ist, bedauert, dass die Informatikstudiengänge "so wenig industrieorientiert sind". BMW brauche keine Programmierer, "sondern Leute, die sich mit Computersprachen auskennen und sie in Projekten anwenden können", formuliert Flor das gesuchte Profil. Das gelte für Maschinenbauer ebenso wie für Elektrotechniker oder Wirtschaftsingenieure. "Wichtig ist, dass die Leute mit Schnittstellen umgehen können. Wir brauchen bereichsübergreifende Produktentwickler, die auch wirtschaftlich denken." Die Recruiterin hat die Erfahrung gemacht, dass sich eine Firma nicht erst bei den Abschlusssemestern an der Uni bekannt machen darf, sondern den potenziellen Fachkräftenachwuchs viel früher durch Praktika oder Werkaufträge gewinnen muss.

Aus mindestens drei Gründen: Die Konkurrenz schläft nicht. Viele junge Informatiker wissen außerdem nicht, dass ihr Know-how auch in der Autoindustrie gefragt ist. Und drittens, sagt Flor, "haben Studenten in der Regel nicht den Blick des Anwenders, der sich zum Beispiel fragt: Wie löse ich ein logistisches Problem im Produktionsablauf mit Hilfe der IT?" Auf diese Sicht- und Herangehensweise kommt es aber immer stärker an. Nicht nur bei BMW, nicht nur in der Automobilindustrie.

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.