"Nehmen Sie die einfachste Software"

09.11.2005 von Heinrich Vaske
Betriebswirtschaftliche Standardsoftware für mittelständische Betriebe sollte funktional nicht überladen sein, sondern sich auf das Notwendige beschränken. Zu diesem Konsens kam eine von der COMPUTERWOCHE einberufene Expertenrunde.
Die Diskussionsteilnehmer von links nach rechts: Norbert Peczynski, CIO des ADAC; Karsten Sontow, Vorstand Trovarit AG; HeinrichVaske, Computerwoche; Werner Schmid, Geschäftsführer GPS GmbH.

Werner Schmid ist in Rage. "ERP-Systeme sind eine Erfindung der 80er Jahre", schimpft er, "heute haben wir alle diese im Prinzip ähnlichen Systeme im Einsatz und stellen fest, sie schränken unsere Flexibilität ein." Schmid ist Geschäftsführer der Ulmer Gesellschaft zur Prüfung von Software GmbH (GPS) und hilft insbesondere mittelständischen Anwendern dabei, die richtige Software für ihr Unternehmen zu finden. Doch das ist gar nicht so einfach. "Soll man den Kunden jetzt noch ein klassisches ERP-System empfehlen? Diesen Moloch aus den 80er Jahren? Meine Empfehlung ist es, das einfachste System zu nehmen, das man bekommen kann. Es muss plausibel und verständlich strukturiert sein - das bedeutet nicht, dass es primitiv oder billig sein sollte."

Laut Schmid liegt allen ERP-Systemen ein simples Funktionsprinzip zugrunde, das aber in den marktgängigen Paketen kaum noch zu entdecken sei. "ERP-Systeme werden nur nach zwei Business Rules gesteuert. Die eine kommt aus der Finanzbuchhaltung und heißt Soll minus Haben ist gleich null. Die zweite gilt für die Logistik beziehungsweise Warenwirtschaft und heißt: Bedarf minus Bedarfsdecker ist gleich null." Viele Anbieter vergäßen angesichts der ganzen Zusatzfunktionalität, wozu ihre Software eigentlich da sei. Die meisten Systeme sind nach Ansicht der GPS-Mannes völlig überladen: "Wenn man Begriffe hört wie eCollaborator oder integrierter Workflow, dann sollte man vorsichtig sein."

Ein Drittel der Projekte läuft nicht

Mit seinen Zuspitzungen fand Schmid anlässlich einer Diskussionsrunde zum Thema Softwareauswahl im Mittelstand auf der Münchner IT-Messe Systems nicht nur beim Publikum offene Ohren. Mitdiskutant Karsten Sontow, Vorstand der auf Softwareauswahl spezialisierten Trovarit AG in Aachen, bestätigte: "Unsere Zufriedenheitsstudien zeigen, dass etwa ein Drittel der Projekte in allen wichtigen Parametern - also Durchlaufzeit, Investitionskosten, Personalaufwand - unterdurchschnittlich abschneidet. In diesen Fällen wird immer wieder angepasst, nachgelegt, verbogen, doch die Situation bleibt brenzlig."

Laut Sontow hängen die Probleme dabei keineswegs davon ab, ob Betriebe sich für eines der großen Mainstream-Produkte oder einen Exoten entscheiden. "Sicher, in einem SAP-System ist alles drin, aber man muss es erstmal beherrschen." Die Parametrisierung sei aufwändig, mittelständische Nutzer oft damit überfordert. Auch Microsofts Navision-Software habe ihre Tücken. Sie sei zwar schlank, einfach und flexibel, aber darin liege auch ihr Problem. Die Software lade dazu ein, sie individuell anzupassen, was schließlich zu Komplexität und hohen Kosten führe.

Woran ERP-Projekte kranken*...

  • Hoher Aufwand für Datenpflege;

  • mangelnde Bedienerfreundlichkeit;

  • schwierige Anbindung anderer Geschäftsapplikationen;

  • firmen- und standortübergreifende Vernetzung;

  • schlechter Support und fehlendes Engagement des Anbieters;

  • hoher Einführungsaufwand

*Quelle: "ERP-Zufriedenheitsstudie Deutschland 2005", herausgegeben von Trovarit AG und i2s GmbH in Zusammenarbeit mit der Computerwoche.

Doch wie finden Unternehmen das für ihre Bedürfnisse passende Produkt? Norbert Peczynski, Chief Information Officer (CIO) des in München ansässigen Automobilclubs ADAC, empfiehlt klassisches strukturiertes Vorgehen. Die zu unterstützenden Geschäftsprozesse seien grob aufzunehmen, dann gelte es - beim ADAC übrigens ohne Tool-Unterstützung - zu erheben, welche Softwareprodukte überhaupt in Frage kämen. "Einige Hersteller kommen dann auf eine Shortlist", so Peczynski, "gemeinsam mit ihnen werden kritische Prozesse versuchsweise in der Software abgebildet." Erst dann erfolge die Auswahl anhand weiterer Kriterien.

Zukunftssicherheit ist ein Thema

Dass beim ADAC - laut Peczynski versteht sich der Club als "mittelständische Organisation" - am Ende oft große Player wie SAP und Microsoft den Zuschlag bekommen, bestreitet der CIO nicht. "Bei der Auswahl spielt eine wichtige Rolle, wie zukunftssicher ein Hersteller wirkt. Die Preise, die er verlangt, und seine Fähigkeit, künftigen Anforderungen gerecht zu werden, hängen schlicht und einfach vom Marktanteil ab." Die Entscheidung für eine Standardsoftware sei schließlich ein einmaliger Akt von langfristiger Bedeutung, der sich nicht schon nach zwei Jahren widerrufen lasse. Die Software wachse und verändere sich mit dem Unternehmen.

Diese Philosophie stößt GPS-Chef Schmid sauer auf. Mit den Anforderungen typischer Mittelständler sei sie kaum vereinbar. "Es ist ein Unding, dass Planungs- und Einführungszeit für ERP-Systeme über Jahre gehen", klagte Schmid. In einem Zeitalter, in dem On-Demand das Gebot der Stunde sei, müsse das schneller gehen. "Es wird jahrelang customized, es wird alles in irgendwelche Tabellen geschrieben, von denen am Ende keiner mehr weiß, wo sie genau liegen und was die Parameter darin bedeuten - und die Anwender ersticken in der eigenen Komplexität."

Kleine Anbieter haben zufriedenere Kunden

ERP-Anwender sind mit kleineren Anbietern und Branchenspezialisten durch die Bank zufriedener als mit den großen Generalisten. Darauf weisen Trovarit AG und i2s GmbH in ihrer im September 2005 veröffentlichten Zufriedenheitsstudie hin, der Interviews mit 1700 Anwendern zugrunde liegen. An Großanbietern werden die hohen Preise kritisiert und die Schwierigkeiten, sich auch um kleinere Kunden angemessen zu kümmern. Im Vorteil sind SAP & Co. wenn es um Performance und Stabilität der Infrastruktur geht. Weitere Trümpfe: Internationale Präsenz, Projekterfahrung und große Beratungs- und Entwicklungsressourcen.

Auffällig positiv schnitten kleinere Branchenanbieter ab. Ein wichtiger Vorteil: Sie decken die Geschäftsprozesse ihrer Kunden oft mit dem Standard ab, ohne dass individuelle Anpassungen nötig sind. Die Berater verfügen außerdem meistens über ausgeprägte Branchenerfahrung und sprechen die Sprache des Kunden. (siehe auch: CW-Mittelstand: "Spezialisten kommen gut weg").

Überhaupt sei die heute eingesetzte Software viel zu langlebig. Der Preis sei zu hoch, der Abschreibungszeitraum zu lang. "Die Lebensdauer von Software sinkt nach meiner Erfahrung rapide", so Schmid. "Wir brauchen mehr Flexibilität, schnelle Veränderbarkeit - genauso, wie sich die Wirtschaft verändert." Dem Publikum riet der Berater: "Halten Sie den Abschreibungszeitraum kurz. Fünf Jahre reichen völlig aus. Und nehmen Sie die einfachste Software, die Sie finden. Dann sind Sie für den Wandel viel besser gerüstet, als wenn Sie ein komplexes, hochintegriertes und mit allerlei Umgebungssoftware ausgestattetes System wählen."

Individuelle Erweiterungen meiden

Trovarit-Vorstand Sontow hält sich mit solch konkreten Empfehlungen zurück. Es sei schon eine Menge erreicht, wenn Anwender die Funktionen ihrer einmal angeschafften Standardsoftware nutzten und individuelle Erweiterungen vermieden. "Das, was als Standard vorhanden ist, enthält die Erfahrungen von vielen Unternehmen. Das ist die Sicherheit, die man mit der Software erwirbt." Wer individualisiert, geht nach Meinung von Sontow ins Risiko und muss um seine Release-Fähigkeit fürchten. Standardsoftware decke, sofern sie sorgfältig ausgewählt sei, 80 bis 90 Prozent der gewünschten Anforderungen ab. Wolle man den Rest hinzustricken, solle man sich im Dialog mit dem Anbieter über die Konsequenzen klar werden. Oft gebe es Sinn, bewusst auf fünf bis sechs Prozent zu verzichten.

Sontow, der mit seinem "IT-Matchmaker" ein Werkzeug anbietet, das Kundenanforderungen und -prozesse mit denen der gängigen ERP-Pakete abgleicht, hält Tools - wenig überraschend - für ein probates Hilfsmittel. Natürlich dürfe man sich dem Werkzeug als Entscheidungshilfe nicht sklavisch unterwerfen, doch könne es sehr wohl dazu beitragen, in "unübersichtlichen Situationen eine Struktur zu schaffen". Tools könnten einen Einblick in die bestehenden Prozesse geben und dabei helfen zu entscheiden, welche davon mit Software unterstützt werden sollten.

Tools sind nur ein Hilfsmittel

GPS-Mann Schmid hält dagegen: "Das Werkzeug ist der Tod jedes Gedanken!" Gerade mittelständische Anwender neigten dazu, sich ganz darauf zu verlassen und am Ende nur noch das zu tun, was das Tool ihnen gebiete. "Die eigentlichen Anforderungen eines Unternehmens kommen nicht aus der Technik, sondern aus dem Umfeld - von Geschäftspartnern, Kunden etc." Darauf werde zu wenig geachtet. "Gehen Sie in die Produktionsabteilungen", forderte Schmid die Zuhörer auf, "und sehen Sie sich an, mit welch einfachen Anweisungen dort die kompliziertesten Maschinen und sonstigen Produkte hergestellt werden." Aber wenn es um Software gehe, werde ein "überkandideltes" Werkzeug genommen, und damit "spezifiziert bis zum Gehtnichtmehr". Das Ergebnis könne dann kein Mensch mehr verstehen, damit lasse sich nicht kommunizieren.

Sontow bestätigte, dass Werkzeuge im Prozess der Softwareauswahl nur einen von vielen Aspekten abdecken. "In ERP-Projekten menschelt es sehr viel, das muss man berücksichtigen", räumte er ein. Wichtig ist aus seiner Sicht vor allem die Vertragsgestaltung, die im Mittelstand nicht selten zu oberflächlich erfolge. Was bekommt man zu welchem Zeitpunkt und zu welchen Kosten? Und dann sei das Einführungsprojekt selbst von Bedeutung. "Man muss mit denjenigen, mit denen man den Vertrag unterzeichnen möchte, das Projekt im Detail durchsprechen. Wer sitzt drin in den Teams? Von der Anbieter- und der Anwenderseite? Das muss stabil sein!" Softwareauswahl sei ein "soziales Thema", wenn die Zusammenarbeit und Kommunikation nicht funktioniert, gingen solche Projekte oft daneben.