Multimedia: Die Zeit der Autodidakten ist vorbei

02.07.2001 von Helga Ballauf
Katerstimmung in der New Economy: Highflyer wie Pixelpark, Framfab oder Razorfish machen unsanfte Landungen. Entlassungen, Einsparungen und Einbrüche am Aktienmarkt beuteln vom Erfolg verwöhnte Multimedia-Unternehmen. Die Branche wird dennoch weiter boomen, sagen Beobachter voraus. Für Interessierte gilt: Nüchtern bleiben und sich beim Berufseinstieg nicht blenden lassen.

"Wenn Sie ein spannendes, abwechslungsreiches Arbeitsfeld mit individuellen Entfaltungsmöglichkeiten suchen, wenn Sie nur an die Grenzen stoßen wollen, die Sie sich selbst setzen, dann kommen Sie zu uns!" So euphorisch lasen sich bis vor kurzem die Stellenanzeigen von Multimedia-Firmen. Inzwischen ist selbst bei denjenigen Web-Agenturen, die festen Boden unter den Füßen haben, Ernüchterung eingekehrt. "Eine Branche in Sippenhaft" lautet das Urteil der Fachpresse, weil auch die Aktienkurse von Internet-Dienstleistern mit florierendem Geschäft fallen.

Für den jungen Wirtschaftszweig Multimedia ist das Jahr der Entscheidung angebrochen: "Jetzt zeigt sich, welche Geschäftsmodelle, Anwendungen und Technologien wirklich funktionieren", warb der Deutsche Multimedia Kongress für seine diesjährige Fachmesse im Mai. Die Weichen sind gestellt: Einige gute Firmen werden sich durchsetzen. Boomen werden vor allem New-Media-Dienstleister, die mit dem Beratungsbedarf ihrer Kunden mitwachsen. Gute Chancen also für fundiert qualifizierte Fachleute.

"Multimedia ist eine Wachstumsbranche", betont Medienforscher Lutz Michel, fügt jedoch gleich hinzu: "Wer allerdings gedacht hatte, dass das enorme Wachstum der letzten Zeit immer so weitergeht, spürt jetzt eine kalte Dusche." Mitte der 90er-Jahre gab es ein paar Hundert Multimedia-Firmen, berichtet der Chef der Michel Medienforschung und Beratung (MBB) aus Essen, "inzwischen sind es mehr als 3000 Unternehmen.

Ein Prozess der Marktbereinigung ist daher nichts Ungewöhnliches." Harte Fakten zum Wirtschaftssegment Multimedia sind Mangelware. Zu unscharf ist noch das Profil der jungen Branche mit einer Produkt- und Dienstleistungspalette, die in vielfältiger Form traditionelle Medien, das Internet und IT-Architektur miteinander kombiniert. Das Statistische Bundesamt beispielsweise ordnet einschlägige Firmen mal in das Fach Werbung, mal bei Film- und Videoherstellung, mal beim Verlagsgewerbe ein.

Schätzungsweise 100 000 Mitarbeiter verdienen ihren Lebensunterhalt in der Internet- und Multimedia-Branche. Gut die Hälfte von ihnen arbeitet in speziellen Agenturen, rund 20 000 als Freelancer auf eigene Rechnung. Alle anderen sind bei großen Industrie- und Dienstleistungsfirmen beschäftigt, um Web-Auftritte und den E-Commerce zu betreuen oder Wissens-Management und Online-Learning im Unternehmen voranzubringen.

Um die Datenlage zu verbessern, hat der Deutsche Multimedia-Verband (dmmv) zum zweiten Mal nacheinander eine Branchenumfrage gestartet. Die im Mai präsentierten Ergebnisse des "New-Media-Service-Ranking 2001" fasst dmmv-Fachreferent Lutz Goertz so zusammen: "Die Branche ist dabei, sich zu konsolidieren." Die jüngsten Verwerfungen am Multimedia-Markt lassen sich bei den Selbstauskünften der Unternehmen, die sich aufs Jahr 2000 beziehen, noch nicht ablesen.

Branchenprimus 2001 ist den Ergebnissen zufolge die Kabel New Media AG mit einem Honorarumsatz von 136,5 Millionen Mark. Damit hat der 1993 gegründete Hamburger E-Business-Spezialist den Umsatz im Vergleich zum Vorjahr verfünffacht und den Umfragesieger des vergangenen Jahres, die GFT Technologies AG mit Hauptsitz in St. Georgen, vom ersten Platz verdrängt. Den dritten Rang behauptet - unabhängig von Kurseinbrüchen und Auftragsproblemen - die Berliner Pixelpark AG.

Für den dmmv steht fest: Multimedia-Dienstleistungen, also die Konzeption, Gestaltung und Programmierung von Internet- oder CD-ROM-Angeboten, sind weiter gefragt. Ein Ende des Wachstums dieser Wirtschaftssparte ist noch nicht abzusehen. Dies trifft auf den Auftragsumfang ebenso zu wie auf die Beschäftigungsentwicklung: "Im Schnitt legte die Branche bei der Zahl der festen Mitarbeiter um mehr als 40 Prozent zu", so Verbandsreferent Goertz.

Die Umfrageergebnisse zeigen noch ein weiteres Ergebnis: Die Unternehmenspolitik der Firmen ändert sich. Seit Mitte des vergangenen Jahres steht die Konzentration auf das Kerngeschäft im Mittelpunkt des Interesses. Laut dmmv lässt sich dieser Trend selbst an der Namensgebung ablesen: So bezeichneten sich im Ranking-Fragebogen nur noch 53 Prozent der Firmen als "Multimedia-Agentur". Hoch im Kurs dagegen stehen nun die Bezeichnungen "E-Business-Enabler" oder "Full-Service-Dienstleister". Im Übrigen gilt: Fantasievolle Namen sind Trumpf (mehr zum Ranking unter www.dmmv.de).

Die Entwicklung des E-Business verändert die Struktur der Multimedia-Wirtschaft nachhaltig. Zwar bleiben die vorteilhafte Präsentation eines Unternehmens im Inter- und Intranet sowie die Wirkung von Design und Bedienungsfreundlichkeit bedeutsam. Immer wichtiger aber werden die Prozesse im Hintergrund: Firmen brauchen, wenn sie in der Internet-Ökonomie mithalten wollen, eine leistungsfähige Web-Architektur, mit deren Hilfe sich komplexe Geschäftsabläufe steuern lassen: Beschaffung, Service, Zulieferer- und Kundenbeziehungen.

Medienforscher Michel erwartet, dass sich angesichts der neuen Anforderungen der Markt normalisiert: "Die Garagenzeit ist vorbei. Überleben werden die Firmen, die ein klares Profil haben und den Kunden eine umfassende inhaltlich-konzeptionelle sowie technische Beratungsdienstleistung anbieten: von der Gestaltung interner und externer E-Business-Prozesse bis zum konkreten Web-Auftritt."

Lutz Michel

Auf diesem Feld des "E-Consulting" konkurrieren Multimedia-Agenturen wie Kabel New Media, GFT Technologies oder Framfab mit Unternehmensberatern wie Accenture und McKinsey oder Dienstleistern wie Siemens Business Services. "Die Projekte im Internet-Umfeld werden zunehmend komplexer. Man darf den Anschluss zum Geschehen nicht verlieren", gibt deshalb Alexander Kandzior, CEO bei der Framfab Deutschland AG in Frechen, als Losung aus.

Zugleich ist zu beobachten, dass große Anwenderfirmen angesichts der Bedeutung der Online-Präsenz fürs Kerngeschäft die Multimedia-Aktivitäten verstärkt in eigenen Abteilungen konzentrieren. In seiner Studie zur "Ausbildung in der Internet-Ökonomie" beschreibt Michel, dass dies nicht nur Aufgaben der strategischen Planung und der IT-Architektur im Zusammenhang mit dem E-Commerce betrifft. Selbst die Hälfte der Multimedia-Design-Aufträge wird nicht mehr nach außen vergeben. New-Media-Dienstleister ohne Spezialprofil werden das immer deutlicher spüren. Dennoch: "Kein Problem für gut ausgebildete Fachkräfte", weiß Michel. "Die Anwenderunternehmen stellen gerne Leute ein, die bereits in Agenturen Berufserfahrung gesammelt haben."

Die Jahresgehälter der Beschäftigten in der Multimedia-Wirtschaft liegen tendenziell unter den Vergleichswerten der Old Economy. Zu diesem Schluss kam im Frühjahr dieses Jahres eine Studie der Universität Witten Herdecke. Das liegt nicht nur daran, dass laut Umfrage rund 20 Prozent der Gehälter in der Multimedia-Branche aus Aktienoptionen und Leistungsprämien bestehen. Bereits das Ausgangsniveau ist niedriger als etwa bei IT-Fachkräften. Für sie sind Einstiegsgehälter von 100 000 Mark pro Jahr unterstes Level. Dagegen liegen junge Marketing-Führungskräfte laut Gehaltsspiegel des dmmv mit durchschnittlich 104 000 Mark pro Jahr bereits an der Spitze ihrer Zunft. Viele selbständige junge E-Lancer können indes vom großen Geld nur träumen (mehr dazu: www.e-lancer-nrw.de).

Die Multimedia-Wirtschaft entdeckt die duale Ausbildung. Bereits 45 Prozent der Unternehmen stellen Azubis ein, die Fachinformatiker oder Mediengestalter/in für Digital- und Printmedien, AV-Medienkaufleute, Mediengestalter Bild und Ton oder Informatikkaufmann/-frau werden wollen, ergab jüngst eine Studie. Es sind vor allem betriebswirtschaftliche Gründe, so Medienforscher Michel, die in einer typischen Akademikerbranche das Interesse an der betrieblichen Ausbildung wecken: "Wer sie zwei bis drei Jahre durchlaufen hat, kennt das Unternehmen und ist billiger als ein Fachhochschulabsolvent.

Mancher Hochschulabgänger wird sich anstrengen müssen, um von gut ausgebildeten Fachkräften nicht in den Schatten gestellt zu werden." Einige Multimedia-Dienstleister bieten jungen AV-Medienkaufleuten nach der Abschlussprüfung sogar ähnliche Job- und Aufstiegschancen im Projekt-Management wie den FH-Diplomanden. Wenn es um die Konzeption und Gestaltung eines Kundenauftrags geht, ziehen Agenturen dagegen Hochschulabsolventen "mit fundiertem Fachwissen über Wirkungsmechanismen und die Werbepsychologie" vor.

Diese Differenzierung geht weiter. Denn die Tätigkeitsprofile in den Firmen werden vielfältiger, und es entstehen ausgeprägte Hierarchieebenen. Auch die Hochschulen tragen dem Rechnung und bieten Multimedia-Studiengänge mit unterschiedlichsten Schwerpunkten an. Unter den 15 "grundständigen" Angeboten, die der Kompass der Hochschulrektorenkonferenz ausweist, halten sich mediengestalterische, informationstechnische und betriebswirtschaftliche Ausrichtungen die Waage.

Dazu kommen zwölf weiterführende Studienmöglichkeiten, die mal im Fachbereich Elektrotechnik, mal im Marketing und mal bei den Didaktikern angesiedelt sind. Neue Wege gehen beispielsweise die Fachhochschulen in Karlsruhe und Mittweida, die in Kooperation mit dem privaten Bildungsinstitut Macromedia Kontaktstudien anbieten.

Jerome Niemeyer

Solche Aufbau- und Ergänzungsstudien sind eine Möglichkeit für die vielen Quereinsteiger in der Multimedia-Wirtschaft, nach Jahren der Berufstätigkeit ihre Erfahrungen zu systematisieren, zu erweitern und formale Abschlüsse zu erreichen. Die Zeit der Autodidakten ist vorbei - wer heute nicht sicher sein kann, ob es seinen Arbeitgeber übermorgen noch gibt, muss dafür sorgen, dass sich die eigenen Kenntnisse auf dem Stellenmarkt nachweisen lassen.

Jerome Niemeyer, Personalentwickler bei Pixelpark, kennt die Verunsicherung von Bewerbern angesichts negativer Firmenschlagzeilen. Sein Rat: "Mir wäre der Berufseinstieg bei einer Firma zu riskant, die keine gezielten, die Laufbahn begleitenden Trainingsmaßnahmen anbietet. Unternehmen, die selbst qualifizieren, bleiben dagegen interessant als Arbeitgeber. Denn mit dem gewonnenen Wissen kann man sich im Fall des Falls auch anderswo durchsetzen."