Anwenderschlung/Wieviel Aus- und Weiterbildung verlangen immer komplexere Anwendungen?

Modulare Schulungskonzepte und "wie im richtigen Leben"

14.06.1996

Die Software-Anbieter möchten mit ihren Produkten eine möglichst große Zielgruppe von potentiellen Käufern ansprechen. Daher realisieren sie in ihren Anwendungen meist den größten gemeinsamen Nenner von unterschiedlichsten Anforderungen. Die Programme werden unübersichtlich und/oder nur noch zu einem kleinen Teil ihrer Features tatsächlich genutzt.

Ein Beispiel hierfür ist SAP-Software. Diese kaufmännischen Standardanwendungen werden quer über alle Branchen hinweg eingesetzt. Entsprechend kommen sie mit einer umfassenden Funktionalität daher, die für jedes Unternehmen vom Krankenhaus über Versicherungen bis hin zum Chemieproduzenten passende Basis- Features bereithält. Zugleich aber wird sie durch das kundenspezifische Custo- mizing derart individuell, daß es unmöglich sein dürfte, zwei identische R/3-Installationen zu finden.

Doch auch in kleineren DV-Umgebungen gibt es das Problem eines überbordenden Funktionsumfangs. Auf jedem PC läuft eine Textverarbeitung, die alle Features vom einfachen Geschäftsbrief über Serienbriefe bis hin zum Erstellen umfangreicher Dokumentationen etc. bietet. Dazu gibt es Funktionen zur grafischen Verbesserung der Dokumente.

Der einzelne Anwender wird von lauter Funktionalität beinahe erschlagen: Einerseits ist er allein kaum mehr in der Lage, seine Anwendung zu überblicken. Andererseits benötigt er in der Regel nicht sämtliche vorhandenen Features. Hier könnten ihm Schulungen Hilfestellung geben, die zunächst einen Überblick vermitteln, welche Funktionen die Anwendung bietet.

Der Anwender soll erstens in die Lage versetzt werden, selbst beurteilen zu können, welche Teile er braucht und welche nicht. Und er soll wissen, wo und wie er die für ihn relevanten Teile findet. Im zweiten Schritt wird er nur in genau den Features geschult, die er individuell benötigt. Das heißt, er braucht eine maßgeschneiderte Schulung.

Mit modularisierten Schulungen erhält der Anwender am ehesten bedarfsgerechte Häppchen. Mit Schulungen von der Stange, die versuchen, den gesamten Funktionsumfang einer komplexen Anwendung zu trainieren, wird er quantitativ und qualitativ überfordert. Allein die riesige Stoffmenge wird es ihm schwermachen, gerade am Anfang den Überblick zu bewahren. Selbst einfache Dinge werden dann komplex.

Daher sollte ein Anwender darauf achten, daß ihm der Funktionsumfang der Software in verschiedenen kleineren Trainingsmodulen angeboten wird. Denn ein Modul ist eine überschaubare, in sich geschlossene Trainingseinheit, die sowohl vom inhaltlichen als auch vom zeitlichen Umfang her gut zu verkraften ist. Er kann erkennen, wie einzelne Teile aufeinander aufbauen beziehungsweise welche Vorkenntnisse für ein Modul Voraussetzung sind.

Ein wichtiger Vorteil modularer Schulungskonzepte besteht in der Möglichkeit, nur solche Abschnitte zu besuchen, in denen Features geschult werden, die der Anwender jeweils benötigt. Außerdem kann er sich die Module im Idealfall zeitlich so legen, wie es für ihn paßt: Er kann kürzere oder längere Pausen dazwischen lassen, je nachdem, in welcher Zeit er die Inhalte des vorhergehenden Moduls verarbeitet hat.

Für die Organisation von firmeninternen Schulungen bedeutet dies, daß im Zuge der Konzipierung der Schulungen eine gründliche Bildungsbedarfsanalyse der Zielgruppen durchzuführen ist.

Dabei gilt es vier Fragen zu beantworten: Wieviele verschiedene Zielgruppen mit unterschiedlichem Bildungsbedarf bezogen auf das Softwareprodukt gibt es? Wie groß sind die Vorkenntnisse über das zu schulende System im einzelnen? Wie groß sind die einzelnen Zielgruppen? Wo gibt es Überschneidungen im Bil- dungsbedarf der einzelnen Zielgruppen?

Die Schulungen sollten sich an den Arbeitsabläufen des Anwenders orientieren. Der Anwender sieht seine Software lediglich als Werkzeug, das ihn bei seinen Arbeitsabläufen möglichst effektiv unterstützen soll. Er interessiert sich normalerweise nicht dafür, was seine Software alles kann (schon gar nicht, wie das realisiert ist), sondern möchte wissen, wie er in der Anwendung vorgehen muß, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen.

Da er in seinen beruflichen Aufgaben und Abläufen zu Hause ist, kann er hier in der Regel auch leicht die Abläufe im System nachvollziehen und erfassen, welche Hilfen ihm die Anwendung bietet. Eine Schulung, die das berücksichtigt, orientiert sich also nicht an den Systemfunktionen (was kann das System, und wie funktioniert es im einzelnen), die für den Anwender unbekannt, abstrakt und zunächst undurchsichtig beziehungsweise unüberschaubar sind.

Anhand Aufgaben aus dem Berufsalltag lernen

Statt dessen sollte eine Schulungsmaßnahme von den spezifischen Geschäftsprozessen des Anwenders ausgehen. Sie sollte ihm anhand bekannter Abläufe und gewohnter Arbeitsschritte aus dem Berufsalltag zeigen, wie er seine Anwendung am effektivsten für seine Aufgaben nutzen kann. Mit diesem Ansatz wird jedes noch so komplexe System für ihn durchsichtig.

Die Veranstaltung von herkömmlichen Seminaren als Trainingseinheiten lohnt sich erst ab einer bestimmten Teilnehmerzahl. In jedem Programm gibt es jedoch Features, die nur wenige Anwender benötigen. Diese Gruppe ist dann möglicherweise zu klein, um dafür ein Seminar abzuhalten, oder terminlich nicht zu koordinieren. Aber auch bei größeren Anwendergruppen kann eine starke Modularisierung der Schulungsinhalte dazu führen, daß für bestimmte Module nur wenig Interessenten, womöglich auch nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten, zusammenkommen.

Selbststudium per CBT bei zu kleinen Gruppen

In einem solchen Fall ist es sinnvoll, auf andere Lehrmethoden zurückzugreifen: DV-gestützte Ausbildungsmethoden (CBT) zum Selbststudium haben in den letzten Jahren starke Verbreitung gefunden. Schulungen per Internet sind möglich. Und schließlich bietet sich bei sehr kleinen Zielgruppen individuelles Coaching an.

Mit diesen Anforderungen an die Schulung von komplexen Anwendungen tun sich die Software-Anbieter größtenteils schwer. Einige bieten gar keine Schulung im eigentlichen Sinn, sondern lassen lediglich einen Entwickler "mal eben" eine Einweisung halten. In aller Regel aber richtet sich diese eher an das Einführungs-Projektteam oder an den Systemadministrator, als daß sie für Endanwender geeignet wäre. Hier müssen die Kunden selbst sehen, wie sie für eine anwendergerechte Schulung sorgen.

Andere DV-Anbieter engagieren sich sehr stark im Schulungsbereich: Sie halten eine ganze Reihe von Seminaren über ihre Software ab, teilweise in hervorragend ausgestatteten Schulungszentren. Ein bekanntes Beispiel ist die SAP, die mit einem riesigen Kursangebot einen beachtlichen Teil ihres Firmenumsatzes macht.

Diese Schulungen sind aber häufig nicht für Endanwender geeignet, da viele Systeme so variabel konzipiert sind, daß sie erst beim Kunden durch das Customizing die tatsächlichen Funktionalitäten ihrer späteren Anwendung erhalten. Außerdem orientieren sich diese Kurse meist zwangsläufig an den Systemfunktionen und nicht an den Arbeitsabläufen des Anwenders, die den Software-Anbietern zunächst nicht bekannt sind.

In solchen Fällen macht es wenig Sinn, den Endanwender in die Schulung des Anbieters zu schicken, wo die kundenspezifischen Systemanpassungen natürlich nicht behandelt werden. Um gute Schulungen für die Endanwender anbieten zu können, müßten diese deshalb entweder selbst oder in Kooperation mit Dienstleistungspartnern ihre Schulungen speziell jeweils an die spezifischen Kundenbedürfnisse anpassen.

Aus all dem läßt sich schlußfolgern, daß komplexere Anwendungen nicht unbedingt mehr, sondern gezieltere Schulung verlangen. Der Anwender lernt komplexe Systeme dann schnell zu beherrschen, wenn

-er überschaubare Trainingseinheiten bekommt, die er sich inhaltlich und zeitlich selbst bedarfsgerecht einteilen kann

-er nur diejenigen Teile geschult bekommt, die er tatsächlich einsetzt

-sich die Schulung speziell an seinen Aufgaben und Arbeitsabläufen orientiert.

Eine derartige anwendergerechte Schulung kann es nicht von der Stange geben. Sie muß in enger Zusammenarbeit mit den Anwendern vor Ort entstehen.

Kurz & bündig

Inzwischen sind Computer für die Anwender keine Dinger mehr, von denen man am besten die Finger läßt. Ihre Anwendung ist in mancherlei Hinsicht einfacher: Die Bedienung durch komfortable grafische Oberflächen ist weitgehend selbsterklärend, immer bessere und umfangreiche Online-Hilfen stehen zur Verfügung. Auf der anderen Seite werden die Programme immer umfangreicher, ihr Funktionsumfang wächst. Schulungen müssen dem Anwender helfen, einen Überblick über sein System zu gewinnen und die für ihn relevanten Funktionen herauszufiltern.

*Birgit Sturm ist Seminarentwicklerin bei der HMT Information- Systeme GmbH in Grasbrunn.