Potenzialanalyse

Mobile Prozesse: eine Chance für die Wirtschaft

02.03.2014 von Jörg Dörr, Marcus Trapp und Steffen Hess
Viele Unternehmen könnten ihre Geschäftsprozesse durch den Einsatz mobiler Techniken deutlich verbessern. Doch sie wissen nicht wie. Lesen Sie, wie es gelingt, die geeigneten Geschäftsfelder und Rollen zu identifizieren.

Mobile Applikationen spielen in vielen Unternehmen heute schon eine wichtige Rolle. Ob als Erweiterung beziehungsweise Ergänzung des Produktportfolios oder als Unterstützung der eigenen Belegschaft - für innovative Firmen ist Mobilität essenziell. Dabei ist die Mobilität kein Selbstzweck, sondern dient dazu, die Unternehmensprozesse zu optimieren.

Mobil ausführbare Geschäftsprozesse können beispielsweise Durchlaufzeiten von Prozessen verkürzen, ein breites Spektrum von Mitarbeitern in Abläufe einbinden, manuell bediente Aufgaben digitalisieren und die Qualität von Prozessen dadurch erhöhen, dass Daten vor Ort erfasst oder Entscheidungen direkt getroffen werden.

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In diversen privatwirtschaftlichen Projekten hat sich gezeigt, dass viele Ideen für mobile Anwendungen in Unternehmen entstehen, die Verantwortlichen aber oft "aus dem Bauch heraus" entscheiden, welche Initiativen sie weiterverfolgen. Leider zeigt sich immer häufiger, dass die Vorhaben nicht gezielt vorangetrieben werden beziehungsweise das Potenzial für mobile Anwendungen nicht systematisch analysiert wird.

Das birgt das Risiko, dass gegebenenfalls Bereiche mit mobilen Applikationen unterstützt werden, die kein großes Potenzial aufweisen, während andere Abläufe, die von einer App-gestützten Bearbeitung stark profitieren können, vernachlässigt werden.

Auf Basis seiner Projekterfahrungen hat das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE einen standardisierten Ablauf zur systematischen Analyse des Mobilitätspotenzials entwickelt und bereits in der Praxis erprobt.

Was kann die Methode leisten?

Die Methode zur Mobilitätspotenzialanalyse besteht aus fünf Abschnitten, die idealerweise, aber nicht notwendigerweise, nacheinander abgearbeitet werden. Die Reihenfolge lässt sich umkehren und verändern, wenn etwa in Fachbereichen Ideen zur App-Entwicklung vorliegen, deren Potenzial im Nachhinein analysiert werden soll. Üblicherweise steht die Ideenfindung erst später auf der Agenda der Methode.

Die Methode sieht fünf Bausteine vor. Ziel ist es, am Ende prozessunterstützende Apps entwickelt werden. Die Analyse von Rollen und Prozessen ist dabei besonders aufwendig.
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In jedem Abschnitt werden mehrere Aktivitäten von genau definierten Verantwortlichen durchgeführt, die alle nach dem gleichen Prinzip ablaufen:

Insbesondere der zweite Punkt ist von besonderer Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass enorm viele Daten erhoben werden, so viele sogar, dass nicht alle vertieft ausgewertet werden können. Zwar sind im Allgemeinen alle gesammelten Informationen irgendwie und immer relevant, doch tragen nicht alle gleichermaßen zum späteren Erfolg bei. Daher ist es wichtig, solche Informationen besonders zu beachten, die sowohl zum Erreichen von Geschäftszielen beitragen als auch ein hohes Mobilitätspotenzial aufweisen.

Um die Bewertung zu vereinfachen, werden ganz konkrete Metriken vorgegeben. Die Mobilität einer Rolle (etwa Chemielaborant) ist etwa dann hoch, wenn der Mitarbeiter mindestens 20 Prozent seiner Arbeitszeit nicht an seinem Büroarbeitsplatz verbringt. Sie ist mittel, wenn er weniger als 20 Prozent der Zeit unterwegs ist, und niedrig bei ständiger Anwesenheit.

Diese Einteilung wird anfänglich vorgegeben und sollte über Projekte hinweg unternehmensspezifisch angepasst werden.

Die fünf Abschnitte der Potenzialanalyse

1. Ziele und Hindernisse identifizieren: Zunächst werden die Ziele eines Unternehmens festgehalten, die es mit einer Mobilitätsstrategie erreichen möchte. Das könnte etwa sein, den Mitarbeitern auch außerhalb ihres Labors Zugang zu Auswertungsdaten einzuräumen. Diese Ziele werden dann in Bezug zur übergeordneten Unternehmensstrategie gesetzt, zum Beispiel eine Effizienzsteigerung um fünf Prozent. Um die Ziele zu kontrollieren, werden konkrete Metriken definiert, wie zum Beispiel: Bis Ende 2014 können alle Labormitarbeiter mit ihren privaten Android-Smartphones auf Laborberichte zugreifen. Zudem werden auch Hindernisse und Randbedingungen explizit dokumentiert. Das können etwa Sicherheits- oder Betriebsratsrichtlinien sein.

2. Identifikation relevanter Geschäftsfelder: Oft ist es von Vorteil, mobile Apps nicht sofort in allen Geschäftsfeldern gleichzeitig einzuführen. Daher sollten im Rahmen des zweiten Analyseschritts die Geschäftsfelder eines Unternehmens identifiziert werden, die sowohl signifikant zum Unternehmenserfolg beitragen als auch über das Potenzial verfügen, die Mobilitätsstrategie des Unternehmens zu unterstützen. Die Auswahl der Geschäftsfelder kann dabei beispielsweise geografisch oder thematisch getroffen werden.

3. Ausgewählte Geschäftsfelder untersuchen: Für jeden identifizierten Unternehmensbereich, wie etwa die Produktion, werden nun die Geschäftsprozesse (etwa Stichprobenprüfung) und die beteiligten Rollen (Produktionsleiter, Labormitarbeiter) erhoben und grob bezüglich ihres Mobilitätspotenzials bewertet.

4. Rollen und Prozessen analysieren: Die höchstbewerteten Geschäftsprozesse und die daran beteiligten Rollen werden nun sehr detailliert untersucht. Hierbei werden zunächst Rollen und Prozesse unabhängig voneinander durchleuchtet, um sicherzugehen, dass einerseits die Potenziale für die Unterstützung von spezifischen Personengruppen im Unternehmen erkannt werden, andererseits aber auch prozessbedingte Innovationen geschaffen werden können.

Im Geschäftsprozess involvierte Rollen werden in Form standardisierter Templates zur Rollenbeschreibung analysiert. Zusätzlich wird für jede Rolle mindestens ein typisches Bewegungsprofil erstellt.

Im Rahmen eines Beratungsprojekts ließ etwa das Rollenprofil eines Chemielaboranten auf den ersten Blick kein hohes Potenzial vermuten. Die Analyse des Bewegungsprofils zeigte jedoch, dass der Mitarbeiter an sehr vielen Orten innerhalb und außerhalb des Unternehmens aktiv ist. Der blaue Kasten zeigt schematisch, welche Informationen auf seinem Fußweg innerhalb des Unternehmens analysiert werden (Siehe Grafik).

Abschließend werden Rollen und Prozesse ganzheitlich betrachtet, um auch querschnittliche Bereiche zu identifizieren, die sich häufig durch hohes Potenzial auszeichnen. Es wird dabei in einem mehrstufigen, eigens entwickelten Verfahren auf Basis der individuellen Ziele und Hindernisse endgültig entschieden, mit welchen Rollen und Prozessen in Schritt Fünf gearbeitet wird.

Das Beispiel eines Bewegungsprofils eines Chemielaboranten zeigt, dass auch Umgebungsparameter wie Lichterverhältnisse erhoben werden, um den Nutzen einer mobilen App abschätzen zu können.
Foto: Fraunhofer IESE

5. App-Ideen entwickeln: Im letzten Abschnitt der Potenzialmethode werden erste App-Ideen entworfen. Dabei ist besonders wichtig, dass Vertreter aus dem Management, Marketing und IT-Betrieb sowie Mobile-Usability-Experten und Vertreter der späteren Benutzergruppe (zum Beispiel Labormitarbeiter) beteiligt sind. In einem gemeinsamen Workshop werden zunächst grobe Ideen gesammelt. Als hilfreich hat sich dabei der Einsatz von Kreativitätstechniken wie etwa 6-3-5 Brainwriting, Morphologische Box oder Lotusblüten-Technik erwiesen.

Die Teilnehmer skizzieren ihre Ideen selbst mit Papier und Bleistift. Der so entstandene Papierprototyp wird dann um ein Storyboard ergänzt, das die Abfolge der skizzierten App-Screens festlegt. Selbst diese Papierprotypen können nun schon verwendet werden, um das grundsätzliche Konzept zu evaluieren (zum Beispiel mit der Wizard-of-Oz Methode), lange bevor auch nur eine Minute Arbeitszeit in die Programmierung investiert wurde.

App-Ideen gibt es. Und dann?

Neben der systematischen Mobilitätspotenzialanalyse und der systematischen Konzeption der Apps ist es wichtig, dass Unternehmen Entscheidungen zur systematischen Entwicklung der Applikationen treffen.

Wesentliche Fragen dazu lauten:

Zurzeit zeigt sich, dass immer mehr Organisationen dazu übergehen, eigene Kompetenz zur App-Entwicklung aufzubauen. Auf Basis der Erkenntnisse aus Forschung und Praxis, die das Fraunhofer IESE in den vergangenen fünf Jahren sammeln konnte, lässt sich sagen, dass die enge Zusammenarbeit zwischen Unternehmens-IT, App-Entwicklung und Fachbereichen besonders wichtig ist, um Unternehmensprozesse zu mobilisieren.

Von einer engen Kooperation und zentralen Koordination profitieren Unternehmen häufig auch dann, wenn wesentliche Technologieentscheidungen anstehen, beispielsweise ob die Arbeiten native Apps, Web Apps oder hybride Apps zum Ziel haben sollen.

Die Abstimmung ist schließlich auch deshalb erforderlich, weil die mobilen Applikationen, die die Arbeitsprozesse unterstützen werden, fast immer auf zentrale Infrastrukturkomponenten der Unternehmen zugreifen müssen und somit auch sensible und schützenswerte Bereiche angebunden werden. Das Einbinden mobiler Geräte in die vorhandene IT-Landschaft verändert vorhandene Systemarchitekturen, indem etwa eine Mobility Middleware hinzugefügt wird. Die Aufgaben sind mit der App-Entwicklung also nicht abgeschlossen, sondern ziehen in der Regel Anpassungen an Backend-Systemen nach sich.

mPOTENTIAL – eine Methode zur Potenzialanalyse

Das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern hat die Analyse des Mobilitätspotenzials zur Methode „mPOTENTIAL“ zusammengefasst. Sie beschreibt detailliert Vorgehensweise, Handlungsanweisungen, Werkzeuge und Techniken, wie sich eine solche Analyse auch ohne fremde Hilfe betreiben lässt. Dazu bietet mPOTENTIAL etwa Best Pratices mit beispielhaften Metriken und Parametern.

Die Methode ist flexibel und kann an den jeweiligen Bedarf angepasst werden. Je nach Problem, Branche und Unternehmensgröße werden einzelne Teile der Methode herausgegriffen und abgestimmt auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen angewendet. Die Methode ist sowohl für die Analyse kompletter Unternehmen beliebiger Größe als auch für die Bewertung einer einzelnen App-Idee geeignet. Zudem lassen sich App-Ideen in die Konzeptions- und Entwicklungs-phase überführen. Die erarbeiteten Innovationsansätze können so zielgerichtet und systematisch als Produkte umgesetzt werden.

Die Methode steht bislang noch nicht als freier Download bereit, bislang gibt es nur wissenschaftliche Veröffentlichungen. Nähere Informationen sind auf der Homepage des Fraunhofe IESE zu finden. Interessenten können sich auch direkt an die Autoren des Beitrags wenden. Die Kontaktdaten sind unter den Autorenprofilen am Beginn des Beitrags zu finden.

Unterstützend stellt das Fraunhofer IESE die „Engineering Software App“ im iTunes-Store zur Verfügung (hier geht es zur App). Die App stellt die ebenfalls vom Fraunhofer IESE entworfenen Methode „mConcAppt“ dar. Sie leitet Nutzer durch den Prozess, wie aus einer App-Idee fertige Produkte mit hoher User Experience entstehen. In der App soll künftig auch die Mobilitätspotenzial-Analyse mPOTENTIAL hinterlegt werden.