Rainer Janßen, Münchener Rück

Mit Glanz und "Gloria"

29.11.2006 von Heinrich Vaske
Die Münchener Rück hat in den letzten Jahren sämtliche Kernverwaltungs-Anwendungen weltweit vereinheitlicht. Mit CIO Rainer Janßen sprach CW-Redakteur Heinrich Vaske

CW: Sie sehen Ihre Kernaufgabe als CIO darin, eine weltweite IT-Strategie aufzusetzen.

JANSSEN: Es geht nicht nur um das Aufsetzen, sondern auch um das Umsetzen.

CW: Was kennzeichnet die IT-Strategie der Münchener Rück?

JANSSEN: Am wichtigsten ist es zu verstehen, wo das Business heute ist und wo es hin will. Als ich vor neun Jahren zur Münchener Rück kam, hatte das Unternehmen gerade die Entscheidung gefällt, die weltweiten Niederlassungen enger zusammenzuführen. Also ging es darum, die Infrastruktur einschließlich Systeme, Netze und E-Mail konzernweit zu vereinheitlichen. Das war noch relativ einfach. Das Business davon zu überzeugen, dass auch in den Schichten darüber Einheitlichkeit nötig und möglich ist, war schon schwieriger.

CW: Welche Schichten meinen Sie?

JANSSEN: Alles was geschäftsrelevant ist: Verwaltungssysteme, Module zur Risikoeinschätzung, Methoden zum Risiko-Management und Ähnliches. Ich bin mit der These angetreten: Es gibt kein lokales Risiko. Alle Risiken in unserem Geschäft hängen zusammen. Auch unsere Kunden bewegen sich im Finanzdienstleistungsgeschäft zunehmend global. Ein Kunde in Johannesburg kann sein Risiko bei unserer Tochtergesellschaft vor Ort, aber ebenso bei einem Broker in London oder über die Asien-Connection in Singapur versichern. Das sollten unsere Systeme abbilden. Wir waren nach Branchen aufgestellt und es hat viel fachliche Kommunikationsarbeit gekostet, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass ihre Abläufe gar nicht so unterschiedlich sind, wie sie meinten. Es ist uns gelungen.

Erfolgsbausteine

  • Projekt Global Reinsurance Application (Gloria), dessen Roll-out im Mai 2006 stattfand. Die Kernverwaltung der Versicherungsgruppe wurde nach mehrjähriger Anpassungsarbeit und komplexer Datenübernahme weltweit auf der Basis von SAP FS-RI vereinheitlicht;

  • durchgängige Prozessorientierung, Itil-Implementierung bereits im Jahr 2000;

  • "Alignment 3.0": Nach verschiedenen Iterationsstufen ist nun eine konsequente Orientierung der Services und Projekte an den Geschäftsanforderungen;

  • einheitliche weltweit standardisierte EAI-Infrastruktur (EAI = Enterprise Application Integration);

  • ganzheitliches Management der heterogenen Client-Server-Welt bei nachweislich hoher Qualität;

  • Position als konzerninterner, transparenter und messbarer Dienstleister.

CW: Wir groß sind die regionalen Unterschiede in Ihrem Geschäft?

"Große Klappe, dicker Bauch - wie ich." Rainer Janßen findet, dass die Holzskulptur eines bulgarischen Künstlers gut zu ihm passt.

JANSSEN: Sehr gering. Es gibt in manchen Märkten ein paar unterschiedliche Produkte. Aber in den Kernbestandteilen der Verwaltung sind die Vorgehensweisen aus IT-Perspektive zu weit über 90 Prozent identisch. Für die restlichen zehn Prozent muss man hier und da Features anbauen und Extraprodukte verwalten - aber das ist ein Aufwand, mit dem wir fertig werden. Wichtig ist für uns, alle Daten im Risiko-Management weltweit zusammen zu haben und zentral verwalten zu können. Nur dann können wir die Risiken, die wir an verschiedenen Stellen haben, geschickt ausbalancieren und gewichten. Das ist es, womit wir unser Geld verdienen.

CW: Sie haben Ihre Anwendungssysteme auf Basis eines SAP-Branchenmoduls weltweit erneuert. Ist dieses Projekt der Kern Ihres weltweiten Standardisierungskurses?

JANSSEN: Dies war der größte Brocken, weil hier unsere hochkomplexe Kernverwaltung in ein System integriert wurde. Aber es ist nur ein Teil des Programms. In unserem Kerngeschäft, dem so genannten Underwriting, haben wir auch eine weltweit nahezu einheitliche Lösung entwickelt. Damit können wir alle Risiken, die wir unterzeichnen, zentral kontrollieren und Dinge feststellen wie: Liegen diese Fabriken, die wir versichern sollen, in der Nähe von anderen, die wir schon versichert haben? Gleichzeitig haben wir die Konzernkonsolidierung, den Bereich also, wo die Daten aus allen Konzernteilen der Bilanz zusammenkommen, schon vor drei Jahren gruppenübergreifend als einheitliches System für alle realisiert. Auch beim Hauptbuch haben wir eine harmonisierte Lösung, die wir gerade ausrollen.

CW: Welche Folgen hatten Standardisierung und Zentralisierung für ihre Infrastruktur?

JANSSEN: Was globales Infrastruktur-Service-Management angeht, sind wir weit vorne dran. Wir haben schon 1998 begonnen, Itil einzuführen. Viele haben das erst vor zwei, drei Jahren angefangen. Wir haben wirklich eine weltweit homogene und einheitlich gemanagte Infrastruktur. Unsere 6700 Mitarbeiter nutzen überall den gleichen Corporate Client mit der gleichen Corporate Software Base in einer einheitlichen Softwareverteilungs-Infrastrukur. Wir haben unsere globale Konfigurations-/Change-Datenbank für die wichtigsten Services bald vollständig aufgebaut, und können zum Beispiel die Frage beantworten, ist der Service für das Underwriting in Johannesburg da und wie ist die Service-Level-Verfügbarkeit? Auf der Infrastrukturseite sind wir im Wesentlichen mit der Globalisierung durch, auch wenn es Sicher noch einiges zu tun gibt. Aber nach acht Jahren ITIL Erfahrung haben meine Kollegen das im Griff und ich kann der endgültigen Vervollständigung gelassen zuschauen.

Zur Person

  • seit Mai 2004: Mitglied des Aufsichtsrats der Münchener Rück;

  • 1997: Leiter des Zentralbereichs Informatik der Münchener Rück;

  • 1996: Manager of Service Offerings, IBM Global Services, Central Region;

  • 1992: Direktor des IBM European Networking Center;

  • 1986: Aufbau und Leitung des Instituts für Supercomputing und Angewandte Mathematik bei IBM Heidelberg;

  • 1984; Wissenschaftlicher Mitarbeiter IBM Wissenschaftliches Zentrum in Heidelberg;

  • 1980: Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Kaiserslautern.

CW: Binden Sie weltweit auch Ihre Partner und Lieferanten nach einem standardisierten Muster ein?

JANSSEN: Unsere Niederlassungen sind von ihrer Größe her sehr unterschiedlich. Hier in München haben wir 3500 Mitarbeiter, in Princeton etwa 1200, die restlichen befinden sich in größeren und kleineren weltweit verstreuten Lokationen. Wir mussten feststellen: Es gibt keinen globalen Partner, mit dem Sie eine Servicebetreuung bei solchen Anforderungen hinbekommen. Außerdem hat jeder große Dienstleister Regionen, in denen er schwach ist. Wir haben deshalb eine rigide Vorgabe, welche Hardware und Software zugelassen ist. Innerhalb dieser Richtlinien können sich die Niederlassungen regional beim Händler oder Dienstleister ihres Vertrauens versorgen. Man braucht einfach lokale Anbieter vor Ort, die einem weiterhelfen. Für die sind unsere Aufträge dann auch so groß, dass sie sie gerne haben wollen und sich dafür anstrengen.

CW: Welche Rolle spielt bei der Münchener Rück Outsourcing?

JANSSEN: Im Infrastrukturbereich und Systembetrieb sind wir mit dem Thema Outasking/Sourcing durch. Da haben wir direkt nach der Itil-Einführung damit begonnen, alles was wir nicht selbst machen müssen - den Sieben-mal-24-Stunden-Betrieb, Desktop-Services, Netz und Hotline - herauszugeben. Wir schreiben diese Bausteine alle drei Jahre neu aus, um sicher zu sein, dass wir marktkonforme Preise bekommen. In der Anwendungsentwicklung beschäftigen wir uns erst seit diesem Jahr intensiver damit. Vor der Einführung von "Gloria" war unsere Anwendungslandschaft zu kleinteilig, um ein größeres Sourcing- oder Offshoring-Konzept zu verfolgen. Wir haben jetzt eine Sourcing-Strategie entwickelt und mit dem Vorstand abgestimmt. Genauer gesagt ist es eine Multisourcing-Strategie. Wir unterscheiden nach zwei Kategorien: Ist die Anwendung Teil unseres Kerngeschäfts, etwa Underwriting, Pricing, Risikoeinschätzung, Naturkatastrophen-Simulation, oder geht es einfach nur um Verwaltung. Letzteres wollen wir so billig wie möglich machen.

CW: Spielen Offshoring und Nearshoring in Ihrem Konzept eine Rolle?

JANSSEN: Wir haben bei der Gloria-Entwicklung damit begonnen, ganze Subpakete komplett nach außen zu geben. Wir arbeiten mit einem deutschen Unternehmen zusammen, das indische Subunternehmer einbindet. So ist für uns als internationale Organisation gesichert, dass wir im Helpdesk sieben mal 24 Stunden erreichbar sind. Im Rahmen der Sourcing-Strategie habe ich mich im letzten Jahr in Indien umgesehen. Eine Arbeitsgruppe von uns fährt im November zu den drei großen indischen Firmen. Wir werden dann entscheiden, mit wem wir mal ein größeres Entwicklungsprojekt machen, um das auszuprobieren. Im Moment sehen wir nicht die gigantischen finanziellen Gewinne in diesem Konzept, weil wir bei unserer Größenordnung nicht die Skaleneffekte haben wie beispielsweise eine Bank. Bei uns sind es in der Regel kleinere Anwendungen, wo spezifisches Business-know-how transferiert werden müsste. Indien ist trotzdem interessant, denn wir sehen bei den Firmen dort eine beeindruckende Ingenieursqualität und große Leistungsbereitschaft.

CW: Noch mal zum Gloria-Projekt: Konnten Sie bei der Entwicklung auf SAP einwirken?

JANSSEN: Das Entwicklungshaus für die Software ist die MSG hier in Ismaning. Gewisse Basiskonzepte sind von uns schon vor der Fertigung des Produkts beeinflusst worden, weil wir schon vor Jahren eine intensive Diskussion mit der MSG darüber geführt haben, wie man Rückversicherungs-Verwaltung macht. Wir hatten zeitweise noch selbst ein Konkurrenzprodukt zu dem der MSG entwickelt, da ist also einiges an Basiswissen eingeflossen. Wenn wir sagen Einführung eines Standardprodukts, ist das nicht ganz richtig. Ein Standardprodukt ist es erst jetzt, wo wir fertig sind. Das System war zwar schon an anderer Stelle irgendwo eingeführt, aber nicht annäherungsweise bei einem Unternehmen unserer Größenordnung. Wir haben also den Standard erheblich weiterentwickelt. Viele der Add-ons, die wir entwickelt haben, werden sukzessive in das Standardprodukt überführt werden. Wir haben also ein Standardprodukt eingeführt, das zuvor noch keines war. Wir glauben aber, jetzt wird es eines.

CW: Und nun wandert Ihr Know-how zur Konkurrenz.

JANSSEN: Also erstens: hier handelt es sich um ein Verwaltungssystem. Wir können im Wettbewerb nicht groß gewinnen, wenn wir die Verwaltung eines Haftpflicht-Rückversicherungsvertrages besser machen als die anderen. Das interessiert den Kunden relativ wenig, der will nur, dass wir bezahlen, wenn er einen Schaden hat. Wir haben keine Massenprozesse, über deren Optimierung oder intelligenten Betrieb wir uns differenzieren könnten. Die Verwaltung ist kein Differentiator. Wir können höchstens sagen, wenn andere - und die Hannover Rück ist ja auch dabei, das System einzuführen - auf das System einsteigen, ob Erstversicherer, passive Rückversicherer oder Rückversicherer, dann denken wir, dass wir profitieren würden, wenn wir diese Verwaltung industrieübergreifend standardisieren und Daten besser austauschen können. Wir haben keine Angst davor, dass die Konkurrenz hier profitiert. Und wir sind davon überzeugt, dass wir hier vorne auf der Lernkurve sind. Wir müssen uns nur anstrengen, dass wir vorne bleiben.

CW: Wie viel Raum haben Sie für ihre Kernanwendungen und für Innovationen, nachdem Sie den Betrieb ja auf Vordermann gebracht haben?

JANSSEN: Die Freiräume kommen jetzt erst so langsam. Dieses Projekt hat auf der IT- und auf der Business-Organisation in den letzten Jahren sehr gelastet und Ressourcen gefressen, die jetzt sukzessive frei werden. Natürlich nicht von 100 auf null. Bis Sie eine Anwendung dieses Ausmaßes so eingestellt haben, dass sie im Wartungszustand wirklich stabil ist, das dauert noch das eine oder andere Jahr. Wir müssen auch den Rollout noch international bewerkstelligen. Aber es geht jetzt langsam in der Management-Attention und den Business-Ressourcen runter. Man kriegt wieder Freiraum, neue Themen anzupacken. Wir sind auch intensiv dabei.

CW: Sie binden sich mit Ihrer Kern-Verwaltungsanwendung an SAP. Riskant?

JANSSEN: Abhängig sind wir von SAP sowieso, weil wir auch andere Anwendungen von ihnen haben. Wir sind auch von Microsoft abhängig. Wenn wir selbst entwickelt hätten, wären wir von anderen Leuten abhängig, nämlich von eigenen Mitarbeitern. Abhängigkeiten gibt es immer. Das ist normales Geschäft und kein Grund zur Beunruhigung. Übrigens ist nicht absehbar, dass SAP demnächst Pleite geht.

CW: Vielleicht lastet aber ein Veränderungsdruck, den die Hersteller etwa durch häufige Releasewechsel oder neue Software-Architekturen erzeugen, auf Anwendern wie der Münchener Rück?

JANSSEN: Dieser Druck entsteht sonst an anderer Stelle - etwa wenn man eine selbstentwickelte Software nutzt und dafür Werkzeuge einsetzt, deren Zukunft ebenso unsicher sein kann. Wenn ich heute bestimmte externe Schnittstellen brauche oder mich mit irgendwelchen Themen befassen, dann weiß ich, dass ich das mit einer gewissen Verlässlichkeit von SAP bekomme. Manchmal nicht so schnell, wie wir es gerne hätten, aber im Prinzip brauche ich mich um Technologie- und Plattformwechsel nicht kümmern. Aber wenn ich jetzt eine eigenentwickelte Software hätte und versuchen würde, eine Service-orientierte Architektur einzuführen, was meinen Sie wie viel Kraft mich das kosten würde und wie riskant es wäre? Wie viel Risiken haben jetzt manche Banken und Versicherungen, die auf riesigen Systemen sitzen, weil der letzte Entwickler, der sich auskannte, in Pension geht? Das Risiko ist viel größer.

CW: Sie haben in den letzten Jahren großen Wert auf eine verbesserte Effizienz des laufenden IT-Betriebs gelegt. Inwieweit sehen Sie sich auch in der Verantwortung für verbesserte Effizienz des Unternehmens zu sorgen?

JANSSEN: Die IT merkt am besten im Unternehmen, wo es knirscht und wo Unnötiges, Kompliziertes, Diffiziles gemacht wird. Von ihr wird schließlich erwartet, diese Dinge in den Systemen abzubilden. Damit ist der CIO in der Verantwortung, seinen Kunden aufzuzeigen, warum er Dinge anders und besser machen sollte. Ich habe begonnen, meine Abteilung IT-Strategie anders aufzustellen, weil wir verstärkt in die Systeme hineinschauen und aufzeigen müssen, wo Unsinn gemacht wird. Da geht es um die Identifikation von Komplexitätstreibern, von Dingen, die überflüssig und teuer sind. Insofern ist der CIO sicher nicht nur der Effizienz der IT, sondern auch des Unternehmens verpflichtet.

CW: Ist das nicht schwierig, weil Sie sich in Kompetenzen der Fachabteilungen einmischen?

JANSSEN: Die Kollegen sind immer ansprechbar, wenn man ihnen das Leben vereinfacht. Schwierig wird es, wenn ein Kunde ganz genaue Vorstellungen hat: Ich will das jetzt so und so haben. Wenn man dann ringen muss, es anders zu machen, weil es billiger ist. Wenn der Kunde sagt: Ich habe da doch gerade dies oder jenes schöne Tool gesehen. Warum kann ich das nicht haben und muss dieses nehmen - das kostet Kraft. Und dann ist es natürlich eine große Herausforderung für uns alle, nicht Effizienz, sondern Effektivität zu bestimmen. Entscheiden, wo das IT-Invest am nötigsten, wichtigsten und besten ist. Das ist manchmal nicht so einfach, zumal sich eben doch nicht immer einfach ein RoI ausrechnen lässt. Aber das gehört zum normalen Leben eines CIO.

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