Wer hat Angst vorm bösen Bot?

Mit Augmented Reality in die Zukunft schauen

14.09.2017 von Daniel Dombach
Analysten erwarten, dass die Automatisierung und Roboter in naher Zukunft menschliche Arbeiter ersetzen. Ganz so einfach ist es allerdings nicht.

Seit Jahrzehnten steht die Prozessautomatisierung im Zentrum der Zukunftsprognosen für die Fertigungs- und Logistikbranche. Mittlerweile betrachten Analysten Roboter als die Arbeitskräfte der Zukunft - und somit als Bedrohung für den menschlichen Arbeitsmarkt. Mithilfe von bereits existierenden Technologien könnte fast die Hälfte aller Aufgaben automatisiert werden, für die Arbeitnehmer bezahlt werden, schätzt etwa McKinsey. Diese Prognosen berücksichtigen allerdings nicht, dass die Funktionen von Robotern in etlichen Bereichen noch immer eingeschränkt sind und dass bei einer Vielzahl von Aufgabenfeldern die effizienteste Lösung erst aus dem Zusammenspiel von Mensch und Maschine entsteht.

Menschen statt Roboter: Mit Augmented Reality können Unternehmen die Produktivität ihrer Lagerlogistik steigern.
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In Lagerhallen beispielsweise stapeln sich in endlosen Regalreihen Produkte unterschiedlichster Form und Größe. Bei großen Mengen identischer oder standardisierter Pakete liefern Kommissionier-Roboter ordentliche Ergebnisse ab, die durchaus die Leistung von menschlichen Mitarbeitern übertreffen kann. Müssen sie dagegen Artikel verarbeiten, die in Form, Größe und Gewicht variieren, fehlt Robotern noch die dafür nötige Flexibilität. Die heutige Erkennungstechnologie kann nicht mit menschlicher Präzision mithalten und führt zu einer höheren Fehlerrate. Sprich: Ist Flexibilität erforderlich, sind Menschen schneller und genauer als ihre elektronischen Pendants.

Unternehmen sollten daher ihren Fokus auf die Unterstützung ihrer Mitarbeiter legen, damit diese ihre Aufgaben noch produktiver und effizienter erledigen können. Augmented Reality (AR) ist eine relativ junge Technologie, die genau darauf abzielt: Sie projiziert in Echtzeit virtuelle Datenströme auf eine reale Umgebung. Momentan kommt diese Technologie in Mobilcomputern, Smartphones und Head Mounted Displays (HMDs) zum Einsatz. Zu HMDs zählen digitale Brillen und ähnliche Geräte mit semi-transparentem Display und Bilderfassung via Kamera oder Imager.

Blick in die Zukunft

Einer Bitkom-Umfrage zufolge werden die Umsätze mit Augmented-, Mixed- und Virtual-Reality-Hardware im Geschäftskunden-Bereich bis 2020 auf 88 Millionen Euro steigen. Mit den zugehörigen Lösungen inklusive Umsetzung, Updates und Neuerscheinungen könnten sogar über 840 Millionen Euro erzielt werden. Das mag überraschend erscheinen, da diese Technologien bislang weder in der Unterhaltungselektronik noch in der Industrie ihren Durchbruch geschafft haben. Die ersten Ergebnisse des Einsatzes von AR bei Mobilcomputern für Unternehmen waren allerdings vielversprechend.

Um auf das Beispiel der Lagerhalle zurückzugreifen, hier ein typisches Szenario: Ein Picker bahnt sich täglich seinen Weg durch ein Labyrinth aus Regalen, in dem die Artikel nach Algorithmen sortiert sind. Hat er den gewünschten Artikel gefunden, muss er ihn mit einer ausgedruckten Kommissionierliste abgleichen.

Für neue Mitarbeiter ist dies zunächst ein anspruchsvoller, langsamer Vorgang und ein mitunter längerer Lernprozess, da sie sich wiederholt auf dem Mobilcomputer den Lagerort der Produkte anzeigen lassen müssen, um stets den kürzesten Weg zu finden. Das kostet Zeit und verringert die Produktivität. Mithilfe eines optischen Navigationssystems - bzw. HMD - direkt vor den eigenen Augen, das sie von einer Station zur nächsten leitet, finden sich neue Picker wesentlich schneller zurecht. Da die Einblendungen auf dem HMD neuen Mitarbeitern in Echtzeit alle notwendigen Informationen über die nächsten Arbeitsschritte liefern, verkürzen sie die Anlernphase erheblich.

Tests mit erfahrenen Pickern haben indes gezeigt, dass diese ihre Aufträge schneller ausführen, wenn sie schriftliche statt visuelle Information auf ihre HMDs erhalten, da letztere oft als störend empfunden werden. Die Möglichkeit zwischen Text- und Bilddarstellung zu wechseln, erlaubt Lagermitarbeitern, selbst zu entscheiden, mit welcher Option sie besser zurechtkommen.

Dank HMDs können die Picker zudem freihändig arbeiten, sodass ihr Arbeitstempo - und damit die Produktivität - deutlich steigt. Ein Headset mit Mikrofon ermöglicht darüber hinaus die Kombination der optischen Informationen mit einer Sprachsteuerung.

Wie können Unternehmen AR effektiv einsetzen?

Es gibt vielfältige Möglichkeiten für die Nutzung von AR, wie die folgenden Beispiele aus Praxis und Entwicklung zeigen:

  1. Logistik: Logistikunternehmen können durch ein kombiniertes System aus Sensoren und Kameras ihre Anhängerbeladung optimieren. Auf HMDs könnten sich die Mitarbeiter u.a. anzeigen lassen, wo und wie sie die Pakete am besten platzieren, um einerseits eine höchstmögliche Auslastung und Beladungseffizienz sicherzustellen und andererseits die eigene Produktivität zu steigern.

  2. Kundenservice/Produktion: Techniker im Außendienst, in der Fertigung oder in einer Werkstatt können sich auf HMDs akkurate Baupläne und Erläuterungen für Maschinen anzeigen lassen, an denen sie gerade arbeiten. Das verkürzt die Einarbeitungszeit für neue Mitarbeiter, senkt die Fehlerrate und steigert das Arbeitstempo. Hat ein Servicemitarbeiter ein Problem mit einer Maschine, kann die HMD-Kameraaufnahme live an einen erfahrenen Kollegen übertragen werden, der anhand des visuellen Inputs aus der Ferne beraten oder digitale Anleitungen bereitstellen kann. Pioniere u.a. aus der Automobilindustrie nutzen diese Technik bereits in Produktion und Service.

  3. Events: Bei Konzerten, Festivals oder anderen großen Events könnten Sicherheitsdienste etwa HMDs nutzen, um Besucherströme zu überwachen und Brennpunkte zu ermitteln. Mithilfe einer ins Backend-System integrierten Lokalisierungslösung könnte jedes Mitglied der Security Crew auf seinem Display sehen, wo sich die Kollegen gerade befinden und schnell auf potenzielle Gefahren reagieren. So könnten Sicherheitsunternehmen ihre Mitarbeiter immer frühzeitig dorthin leiten, wo sie gerade gebraucht werden.

  4. Gesundheitswesen: Auch bei hochriskanten Operationen, die eine präzise Ausführung auf kleinstem Raum benötigen, können Chirurgen HMDs verwenden. So können sie - ohne sich zu einem Monitor drehen zu müssen - die Liveaufnahmen einer Endoskop-Kamera betrachten und gleichzeitig die Vitalwerte des Patienten auf dem Display im Auge behalten. 2014 haben Chirurgen im Indiana University Health Methodist Hospital zum ersten Mal Datenbrillen bei der Entfernung eines Tumors aus der Bauchhöhle genutzt. Durch das sprachgesteuerte Gerät hatten sie während der gesamten Operation beide Hände frei und konnten kritische Patientendaten wie MRT-Scans und Röntgenaufnahmen einsehen, ohne ihre Augen vom Patienten abzuwenden.

WIP - Wearables in Progress

Trotz all dieser Einsatzmöglichkeiten für Unternehmen befinden sich viele AR-Projekte noch immer in der Entwicklung. Die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen, daher gibt es naturgemäß noch einige Herausforderungen zu meistern. Digitale Brillen und andere HMDs sollten einfach und bequem zu nutzen sein - dafür ist ein ergonomisches Design und ein hohes Maß an Tragekomfort notwendig. Gleichzeitig müssen sie sehr leicht sein und trotzdem einen leistungsstarken Akku beinhalten, der mehrere Stunden hält. Teilen sich mehrere Personen ein HMD, insbesondere im Gesundheitswesen, spielt die Hygiene der Geräte eine große Rolle, weshalb HMDs aus hygienischen, leicht zu reinigenden Materialien hergestellt werden müssen. Zuletzt sollten HMDs auch die nahtlose Integration mit Backend-Systemen ermöglichen.

Sobald diese Technologie besser ausgereift ist, werden AR-Anwendungen auf tragbaren Geräten Unternehmen einen deutlichen Mehrwert bieten können - und das nicht nur in der Logistik. Denn ihr Potenzial, in zahlreichen Branchen Produktivität und Effizienz zu steigern, die Sicherheit sowie den Return on Investment zu verbessern und die Kundenzufriedenheit zu erhöhen, ist enorm.

Roboter sind Handlanger, keine Fachkräfte

Welche Rolle spielen Roboter in diesem Zusammenhang? Wie auch die AR-Technologie werden Roboter in vielen Fällen immer mehr zu einem wichtigen Teil von Produktionsbetrieben. Diese Roboter sind allerdings keine Alternative zu menschlichen Arbeitskräften, sondern werden ihren menschlichen Kollegen in der nahen Zukunft vielmehr als Assistenten zur Seite stehen.

In Lagerhallen etwa setzen Unternehmen in Pilotprojekten Roboterfahrzeuge als automatisierte Kommissionierhilfen ein. Diese fahren selbstständig neben dem Picker her, bis sie voll beladen sind. Dann transportieren sie ihre Ladung zur nächsten Station, während der Picker mit einem anderen Assistenzroboter weiterarbeitet.

Roboter sind auch in der Bestandsaufnahme effektiv: Sie sind schnell, die Fehlerrate ist gering und sie arbeiten Nachtschichten ohne einen Zuschlag zu verlangen. Auch einige Paket- und Lieferdienste haben schon die ersten Schritte auf dem Robotermarkt gemacht, um neue effiziente und kostensparende Lieferoptionen zu erkunden. Allerdings müssen sich Lieferroboter gegenwärtig stets mit einer Sondergenehmigung und von einem Menschen begleitet in der Öffentlichkeit bewegen - bis eine wirklich autonome Lieferung möglich ist, sind noch etliche Hürden zu nehmen, insbesondere juristische.

In Operationssälen spielen Roboter bereits eine wichtige Rolle: In der roboterassistierten Chirurgie, auch minimalinvasive Chirurgie genannt, werden die Bewegungen des Chirurgen auf Miniaturarme mit Operationsinstrumenten übertragen und so eine präzise Schnitt- und Stichführung ermöglicht. Der Blutverlust ist dadurch gering, der Heilungsprozess wird beschleunigt. Entscheidungen und Vorgehensweisen hängen jedoch noch immer von dem menschlichen Chirurgen ab, der die Fernsteuerung bedient.

Bis Roboter vielseitige, komplexe und filigrane Arbeiten selbstständig ausführen können, wird es noch lange dauern. Das nächste, für Unternehmen wesentlich schneller erreichbare Ziel sollte daher lauten, die Produktivität, Effizienz und Genauigkeit ihrer menschlichen Mitarbeiter durch den Einsatz von AR zu steigern.