Maschinenbau: Ohne Planer und Prozessdenker geht nichts mehr

03.04.2002 von Helga Ballauf
Die deutsche Maschinenbaubranche will Exportweltmeister und Konjunkturlokomotive bleiben. Die Berufs- und Aufstiegschancen für junge Ingenieure sind dort gut - sofern sie nicht nur etwas von ihrem Fach, sondern auch von Kosten und Kundenwünschen verstehen.

Szenario 2010: Die Fabrik, die biochemische Substanzen herstellt, hat auf einem Tisch Platz. Ultrapräzisionsverfahren, Diamantwerkzeuge und Lasertechniken gehören zum Instrumentarium im Maschinenbau. Integrierte Prüftechnik ist Standard, komplexe Bauteile werden im Rechner mit Hilfe von Simulationsverfahren und virtueller Realität konzipiert. Maschinen lassen sich per Spracheingabe bedienen. Ein einziges Datenmodell bildet alle Schritte im Wertschöpfungsprozess ab - von der Bestellung über Produktion und Wartung bis zur Rechnungsstellung. Kunden, Zulieferer und Partner sind eingeschlossen. Das sind Zukunftsvisionen, wie sie der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, Professor Hans-Jürgen Warnecke, vor dem Fachkongress "Maschinenbau 2010" Ende vergangenen Jahres ausbreitete.

Rückgrat der Wirtschaft

Es ist nicht das Eldorado für pure Technik-Freaks, das der Fraunhofer-Präsident vor den deutschen Maschinenbau-Managern skizzierte. Im Gegenteil: Die Traditionsbranche wird ihre technologische Innovationskraft nur dann in einen Markterfolg umsetzen können, wenn sich die Organisation der Unternehmen mitentwickelt. Hochgestecktes Ziel: vernetzte Strukturen nach innen und außen. Eine Perspektive, die Vorsicht und Euphorie gleichermaßen auslöst. In den 80er- und 90er-Jahren war der Traum vom Computer Integrated Manufacturing (CIM) geplatzt. Das könnte sich beim Konzept des "E-Manufacturing" - der komplett automatisierten, Internet-basierenden Herstellungs- und Vertriebskette - wiederholen.

Entscheidend für den Erfolg des Modells ist laut Warnecke deshalb die Erkenntnis: "Vor der notwendigen Rechnerunterstützung durch moderne Informationstechniken steht die Reorganisation." Das für die Umgestaltung notwendige Wissen liegt bei den Mitarbeitern - gute Beschäftigungs- und Aufstiegschancen also für Querdenker und Schnittstellen-Spezialisten. Der deutsche Maschinen- und Anlagenbau trotzte weitgehend den konjunkturellen Stürmen im Herbst 2001. Die überwiegend mittelständisch organisierte Branche mit rund 6000 Unternehmen und fast einer Million Beschäftigten sieht sich als Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Konjunkturlokomotive, Exportweltmeister, Hidden Champions - das sind Attribute, mit denen sich der drittgrößte Zweig der deutschen Industrie gerne selber schmückt.

Tatsächlich hat die Branche die tiefe Krise der 90er-Jahre gut gemeistert. Im Jahr 2000 wuchs allein der Umsatz im Vergleich zu 1999 um 8,4 Prozent; bei sinkenden Lohnstückkosten stieg der Produktionsausstoß. Diese Aufwärtsentwicklung hielt trotz des gesamtwirtschaftlichen Einbruchs auch im vergangenen Jahr an. Dem entsprach die Einstellungspraxis der Unternehmen: Die Nachfrage der Maschinen- und Fahrzeugbauer nach ingenieurtechnischen Fachkräften und IT-Profis blieb konstant hoch. Die Hersteller von Unterlegscheiben und Bremsen, Industrieöfen und Autokränen, Digitaldruckern und Turbinen produzieren für sehr unterschiedliche Marktsegmente unter wenig vergleichbaren Konditionen. Dennnoch gibt es, so der Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) Diether Klingelnberg, einen Grund für den weltweiten Erfolg der Branche: "Wir liefern nicht nur das reine Produkt, sondern eine Gesamtleistung. Dazu gehört die intelligente Verbindung von Hardware, Software und passendem Dienstleistungspaket."

IT auf dem Vormarsch

Wenn es um die Weiterentwicklung des speziellen Produktions-Know-hows geht, will sich kein Maschinenbauer in die Karten schauen lassen. Hochqualifizierte Softwareingenieure in den firmeneigenen Forschungsabteilungen sind daher gefragte Leute. Gleichzeitig lagern die Firmen immer mehr Aufgaben im Bereich der industriellen Informationstechnik aus. Es entsteht eine Sekundärbranche: eigenständige Ingenieurbüros, die als Software-und Systemspezialisten dem Maschinenbau zuarbeiten. Der VDMA hat beiden Tendenzen Rechnung getragen und den "Fachverband Software und Industrial Communication" (http://www.vdma.org) etabliert, der inzwischen rund 180 Mitgliedsfirmen aus der Old und New Economy führt.

Nur nicht stehenbleiben und sich auf dem Errreichten ausruhen, mahnte Fraunhofer-Präsident Warnecke auf dem Fachkongress. Auf der vom Bundeswirtschaftsministerium veranstalteten Tagung ermunterte er die Manager, die Informationstechniken nicht nur dafür einzusetzen, dass Warenkataloge nun online verfügbar sind und dass Wartung und Fehlerdiagnose per Teleservice funktionieren. Ziel müsse vielmehr die "medienbruchfreie Auftragsabwicklung von der Anfrage über die Umsetzung bis hin zur Zahlungsabwicklung" sein, sagte Warnecke. Das setze Kooperationen voraus, die Mittelständlern dann besonders schwerfielen, wenn sie den Verrat von Geschäftsgeheimnissen fürchteten. Das Risiko sei ernst zu nehmen, doch an einer stärkeren Vernetzung, die auch die Achse Wirtschaft/Wissenschaft einschließe, führe kein Weg vorbei, betonte der Fraunhofer-Präsident.

 Im Frühjahr 2001 arbeiteten einer VDMA-Umfrage zufolge etwa 131 000 Ingenieure in der Branche, allen voran Maschinenbauer, gefolgt von Elektro- und Verfahrenstechnikern, Wirtschaftsingenieuren und Informatikern. Ihr Anteil an den Beschäftigten in den Unternehmen steigt stetig und zeigt, dass ohne Planer und Prozessdenker auch im produktiven Gewerbe nichts mehr geht. Fast die Hälfte aller Ingenieure kümmert sich inzwischen um Forschung, Entwicklung und Konstruktion. Immerhin jeder zwölfte Ingenieur gab an, Dienstleister zu sein. Fazit der Erhebung 2001: Trotz nachlassender Konjunktur bleiben Ingenieure weiterhin umworben.

Weniger Absolventen

Das hat mehrere Gründe: Die Industrie braucht immer mehr Hochqualifizierte in einer Zeit, in der die Absolventenzahlen in naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen massiv sinken. Dem Statistischen Bundesamt zufolge machten im Jahr 2000 rund 13 Prozent weniger Maschinenbauer und 16 Prozent weniger Elektrotechniker ihren Abschluss als im Jahr zuvor. Dazu kommen die besonderen Anforderungen der Branche: "Die Firmen suchen Schnittstellenspezialisten, die Verständnis für die klassischen Produkte des Maschinenbaus mit IT-Kenntnissen verbinden", beschreibt Rainer Glatz, Geschäftsführer des Fachverbands Software im VDMA, die Lage.

Veränderte Anforderungen

Das gewünschte Anforderungsprofil der Maschinenbauindustrie ist anspruchsvoll. Die Arbeitsmarktbeobachterin Constanze Kurz vom Göttinger Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI): "Das Zusammenwachsen der Technologien sprengt die engen fachlichen Spezialisierungen in Entwicklung und Konstruktion." Erfolgreich sei nur, wer Wissen "problemadäquat aktivieren und umsetzen kann".

Ohne sozial-kommunikative und betriebswirtschaftliche Kenntnisse lasse sich die prozessorientierte Produktentwicklung nicht erfolgreich steuern, so die Forscherin. Die traditionellen Studiengänge Maschinenbau und Elektrotechnik berücksichtigten aber die disziplinübergreifenden Anforderungen noch kaum. Kurz bemängelt, dass Kritikfähigkeit und Querdenken, Kreativität und Experimentierfreude an den Hochschulen viel zu wenig gefördert werden. Die Unternehmen sorgen auf ganz unterschiedlichen Wegen dafür, an das richtig ausgebildete Personal zu kommen. Sie experimentieren beispielsweise mit neuen dualen Berufsbildern wie Mikrotechnologe, Mechatroniker oder Fachinformatiker, um die qualifikatorische Lücke zwischen den Konstrukteuren aus der Abteilung Engineering und der Fertigungsmannschaft an den hochautomatisierten Anlagen zu schließen.

Innerbetriebliche Fortbildung setzt in der Regel dort ein, wo Softwareingenieure lernen müssen, zwischen technisch wünschenswerten Lösungen und dem jeweils zur Verfügung stehenden Zeit- und Finanzbudget abzuwägen. Bereits in Trainee-Programmen spielen Projekt-Management-Kenntnisse eine wichtige Rolle. Immer größerer Beliebtheit erfreuen sich Absolventen der Studiengänge, die sich mit Mechatronik beschäftigten. Mechatronik ist die interdisziplinäre Antwort auf das Zusammenwachsen von Maschinenbau, Elektronik und Informatik.

An der TU in Dresden kooperieren für den entsprechenden zehnsemestrigen Studiengang die Fakultäten Elektrotechnik, Maschinenwesen und Verkehrswissenschaften. Die Kollegen an der TU München bieten seit zwei Jahren ein modulares Konzept an: Wer das Hauptstudium an der Fakultät für Maschinenwesen beginnt, muss sich für zwei von 35 Schwerpunkten entscheiden. Mechatronik ist einer davon und kann beliebig kombiniert werden - mit Fahrzeugtechnik oder Produktentwicklung, mit Maschinenbau, Verfahrens- oder Medizintechnik.

Mauern in den Köpfen

Das ist ein Konzept, bei dem ein hoher Beratungsbedarf entsteht, berichtet TU-Dozent Andreas Karcher. Der Informationstechniker erlebt auf der einen Seite, wie hoch der Bedarf der Maschinen- und Anlagenbauer nach Ingenieuren ist, die eine "Querschnittsperspektive" entwickeln können, wie sie die Mechatronik vermittelt: "Der Maschinenbau ist heute eine High-tech-Branche, in der es auf Prozess-Know-how ankommt." Andererseits sieht Karcher, dass das Berufsbild noch traditionell geprägt ist: "Maschinenbau - das löst die Vorstellung von einer Anlage aus, aus der Öl tropft. Tatsächlich ist aber jede Maschine inzwischen softwaredominiert."

Idealtypisch, so der TU-Dozent, beherrsche der moderne Maschinenbauer den Gesamtprozess, und der Informatiker leiste die Zuarbeit. "Wir müssen aber noch einige Mauern aufbrechen - zunächst in den Köpfen und danach zwischen benachbarten Hochschulinstituten und zwischen voneinander abgeschotteten Unternehmensabteilungen." Die TU München will ihren Beitrag dazu leisten und demnächst einen eigenen Studiengang Mechatronik etablieren. Einige Young Professionals in der Branche Maschinenbau schwören auf Engagement parallel zum Studium: Nirgendwo ließen sich "der andere Blick" sowie Kommunikations-, Verhandlungs- und Teamfahigkeit besser lernen als in einer Fachschaft oder in einem Kulturverein.