Mängel im Detail

LTE leidet noch unter Schluckauf

21.11.2012 von Jürgen Hill
LTE professionell nutzen? Im November 2012 fällt es schwer, eine Entscheidung zu treffen. Praxisversuche mit der Technik förderten sowohl positive als auch negative Überraschungen zutage.
Hohe Ziele: Vor den Ballungsgebieten müssen erst die weißen Flecken mit LTE versorgt werden.
Foto: Telekom

Als die UMTS-Frequenzen im Jahr 2000 für rund 51 Milliarden Euro in Deutschland versteigert wurden, waren die Erwartungen hoch: Mit den Mobilfunknetzen der dritten Generation (3G) sollte endlich die schnelle mobile Datenübertragung Einzug halten. Noch größer war in der Folge aber die Enttäuschung: Hohe Latenzzeiten und je nach Auslastung der Funkzellen stark schwankende Übertragungsraten machten das Arbeiten mit remoten Anwendungen zur Qual.

Abhilfe verspricht nun die vierte Mobilfunkgeneration (4G), auch als Long Term Evolution (LTE) bekannt. Wir folgen hier der im Sprachgebrauch allgemein üblichen Bezeichnung von LTE als 4G, auch wenn in akademischen Kreisen LTE lediglich als Mobilfunktechnik der Generation 3.9 (3.9G) bezeichnet wird. Geringe Latenzzeiten sollen Anwendungen wie VoIP, IP-Video, schnelle Online-Spiele und Echtzeitanwendungen ermöglichen. Und mit Spitzenraten von bis zu 100 Mbit/s sind große Datenmengen angeblich auch kein Problem mehr. Mit der Weiterentwicklung LTE Advanced sollen gar Datenraten von bis zu 1 Gbit/s realisiert werden. Euphorisch feiert die TK-Industrie LTE bereits als Ersatztechnik für den klassischen Kupferanschluss und fragt, ob kostspielige Investitionen in den Glasfaserausbau überhaupt noch erforderlich seien.

Das alles zu einem Zeitpunkt, zu dem LTE noch gar nicht flächendeckend verfügbar ist. Vor allem in Ballungsräumen ist LTE noch nicht nutzbar. Und das ist politisch gewollt so: Bei der Versteigerung der LTE-Frequenzen war die Vergabe an die Bedingung geknüpft, zuerst die weißen Flecken auf dem Land, die bis dato keinerlei Breitbandzugang hatten, mit LTE zu versorgen. Als Frequenz hierzu sollte das 800-Megahertz-Band - auch als digitale Dividende bezeichnet, da es vor dessen Digitalisierung für den Rundfunk genutzt wurde - verwendet werden.

Die Bundesnetzagentur versteigerte 2010 für LTE Frequenzen in den Bereichen 800 Megahertz, 1,8 Gigahertz (bisher durch die Bundeswehr genutzt) und 2,6 Gigahertz für den drahtlosen Netzzugang zum Angebot von Telekommunikationsdiensten. Die Frequenzen in den Bereichen 800 Megahertz und 2,6 Gigahertz werden von den drei deutschen Mobilfunkanbietern Telekom, Vodafone und O2 Telefónica verwendet. E-Plus erwarb keine 800-Megahertz-Lizenz und bildet auch sonst einen Sonderfall - als einziger Netzbetreiber vermarktet dieser Anbieter noch kein LTE. Die Telekom benutzt abweichend von den anderen Anbietern auch noch 1800 Megahertz aktiv.

Mobilfunktechniken im Vergleich

Technik

Geschwindigkeit

Generation

GPRS

53,6 Kbit/s

2G

EDGE

220 Kbit/s

2G (auch 2.5G)

UMTS

384 Kbit/s

3G

HSDPA

3,6 Mbit/s

3.5G

HSDPA+

7,2 Mbit/s

3.5G

HSPA

21,6 Mbit/s

3.5G

HSPA+

42 Mbit/s

3.5G

LTE

100 Mbit/s

4G (auch 3.9G)

LTE Advanced

1 Gbit/s

4.5G

Beyond LTE

30 Gbit/s

5G

Alle Geschwindigkeitsangaben beziehen sich auf die im Standard definierten Maximalwerte. In der Praxis werden häufig deutlich geringere Transferraten erreicht. Quelle: Wikipedia.de, 4G.de

Frequenzspiele

Nachdem die Carrier die unterversorgten Landstriche bedient haben, dürfen sie nun in den wirtschaftlich lukrativeren Ballungsräumen und Metropolen ihre LTE-Netze in Betrieb nehmen. Seit dem Frühjahr 2012 läuft der Rollout, und fast täglich kommen neue Städte hinzu. In der Regel werden dabei die Frequenzen von 1800 und 2600 Megahertz genutzt.

Ein Unterschied zwischen dem auf dem Land verwendeten LTE 800 und LTE 1800 ist die erzielbare Datenrate: Im ersten Fall sind das bis zu 50 Mbit/s, im zweiten Fall um die 100 Mbit/s - was allerdings nur für relativ leere Funkzellen und bei optimalem Empfang gilt. "Wenn sich in einer Zelle zwischen 200 und 300 Leute befinden, dann dürfte eine Transferrate von 10 bis 14 Mbit/s noch realistisch sein", dämpft Bruno Jacobfeuerborn, Geschäftsführer Technik der Telekom, allzu hohe Erwartungen. Damit die Empfangsleistung bei starker Nutzung nicht zu sehr einbricht, will die Telekom zudem in Hotspots, also Gegenden mit vielen Nutzern wie etwa Messen oder Flughäfen, noch LTE-2600-Netze aufbauen. Die höheren Übertragungsraten im Vergleich zu LTE 800 fordern dagegen auf einer anderen Seite ihren Tribut: Während in den 800-Megahertz-Netzen eine Funkzelle einen Radius von rund zehn Kilometern abdeckt, werden mit LTE 1800 etwa fünf Kilometer erreicht. So musste beispielsweise die Telekom rund 70 Sendemasten in Betrieb nehmen, um den Münchner City-Bereich zu versorgen.

Messergebnisse

Ein Aufwand, der sich gelohnt hat. Bei unseren Messungen im Telekom-LTE-Netz an verschiedenen Standorten in München erreichten wir Transferraten von bis zu 25 Mbit/s. Im schlechtesten Fall, einem Bürokomplex mit viel Stahlbeton und bedampften Fensterscheiben, gingen die Übertragungsraten auf bis zu 10 Mbit/s im Download und 1 Mbit/s im Upload zurück. Verglichen mit früheren Mobilfunkerfahrungen sind zudem die Ping-Zeiten im LTE-Netz eine Offenbarung: Sie lagen in der Regel zwischen 35 und 85 Millisekunden. Mit anderen Mobilfunktechniken hatten wir hier oft Werte um die 300 Millisekunden gemessen.

Auch bei anderen Tests auf dem flachen Land konnte LTE überzeugen und stellt im Vergleich zu den 3G-Techniken UMTS und HSPA eine Revolution dar. So konnte sich die Computerwoche in einem weißen Flecken nahe dem bayerischen Ebersberg im O2-Netz vom LTE-Potenzial überzeugen: Im Test erreichten wir Latenzzeiten um die 30 Millisekunden, so dass etwa das Arbeiten mit einer Citrix-Desktop-Lösung kein Problem war. Dabei ermittelten wir durchschnittliche Download-Raten um die 40 Mbit/s und in der Gegenrichtung um die 12 Mbit/s.

Anwendungen für LTE

Auch bei weiteren Tests an sehr gut per Funk versorgten Standorten stellten wir fest, dass LTE mit den schnellen leitungsgebundenen VDSL-50-Internet-Zugängen der Telekom konkurrieren kann. Allerdings müssen die teuersten LTE-SIM-Karten von Telekom und Vodafone verwendet werden, um die maximale Leistung zu erhalten.

Ernüchternde Erfahrungen

Die COMPUTERWOCHE und Kollegen anderer Redaktionen von IDG hatten die Möglichkeit, LTE von Beginn an in der Praxis zu testen - sowohl in Pilotversuchsnetzen in Stadt und Land als auch später im Regelbetrieb. Und anfangs rief die Technik bei uns wahre Begeisterungsstürme hervor - etwa wenn in der DSL-Diaspora per LTE-Mobilfunk mit Geschwindigkeiten gesurft werden konnte, die sonst eigentlich VDLS-Nutzern vorbehalten sind. In jüngster Zeit ist die Euphorie bei den Probanden aber einer gewissen Zurückhaltung gewichen.

So berichtet der eine Tester von nicht funktionierenden DNS-Servern, der andere von Schwierigkeiten beim Einloggen in das LTE-Netz. Wieder andere erlebten LTE-Geschwindigkeiten, die bestenfalls auf UMTS-Niveau lagen. Ebenso kame es vor, dass LTE-Netze komplett zusammenbrachen. An Lokationen, für die LTE-Versorgung versprochen worden war, gab es schlicht keinen Empfang. Diese Beobachtungen mögen Einzelfälle ohne statistische Relevanz sein. Sie verdeutlichen aber, dass es sich bei LTE noch um eine junge Technik handelt, die mit ihren Kinderkrankheiten zu kämpfen hat - das galt aber auch für DSL in den Anfangstagen. Im Business-Umfeld sollte in jedem Fall eine Backup-Verbindung vorhanden sein, egal wie langsam, um wichtige Daten, wenn LTE nicht funktioniert, dennoch transferieren zu können.

Damit taugt LTE auch für anspruchsvolle Business-Anwendungen bis hin zur Standortvernetzung mittels VPN over LTE. Hohe LTE-Datenraten und kurze LTE-Ping-Zeiten sind noch unter einem anderen Aspekt von Bedeutung: Cloud-Anwendungen lassen sich auf den Endgeräten auch unterwegs zum Arbeiten nutzen. An gut versorgten Standorten reicht LTE für Voice over IP, Videoconferencing oder Videoüberwachung aus.

Allerdings erfuhr unsere LTE-Euphorie auch Dämpfer. Zudem hat LTE noch mit Kinderkrankeiten zu kämpfen. So ist ein einfaches Daten-Roaming, wie wir es von UMTS kennen, derzeit nicht möglich. Bis echtes Multiband-Equipment für LTE verfügbar ist, wird es noch einige Zeit dauern. Deshalb ist es keine gute Idee, von einem Business-Trip ins Ausland ein LTE-Tablet oder -Notebook mitzubringen.