Selbst die besten Anwendungen helfen oft nicht weiter

Lernen an der Maschine ist öde

24.01.2002 von Hans Königes
E-Learning wird sich erst dann durchsetzen, wenn die Anwender seine Entwicklung vorantreiben und nicht die Lernplattform- und Inhalteanbieter. So lautet ein Fazit eines COMPUTERWOCHE-Roundtable-Gesprächs mit Vertretern von Schulungsanbietern und großen Anwenderunternehmen.

CW: Wie schätzen Sie den E-Learning-Markt ein, welche Trends erkennen Sie?

Littig: In den USA wird im Augenblick viel vom so genannten Blended Learning gesprochen. Es geht dabei darum, nicht nur Inhalte ins Web zu stellen, sondern Lern-Arrangements zu konstruieren, alle Formen des Lernens einzusetzen, wobei E-Learning nur einen gewissen Anteil davon hat.

Die Schulungsexperten Ellen Dittmer, Erwin Ihm und Rolf Knoblauch.

Quelle: Kassmann

Und vor allem geht es darum, zu erkennen, dass nicht für jeden Teilnehmer die gleiche Methode funktioniert.

Ihm: Der neue Begriff, den ich in den USA vernommen habe, lautet C-Learning , wobei das C für Classroom steht. Über Blended Learning kommen die US-Anbieter dazu, wieder mehr Präsenzschulung in althergebrachter Form anzubieten. Das Interessante dabei: Die Zahl der Kurse mit klassischen Unterrrichtsmethoden nimmt wieder zu, diese Seminaranbieter erleben einen Boom.

CW: Eigentlich sollte es den E-Learning-Anbietern nicht schlecht gehen. In der Krise müssen alle Unternehmen sparen, als Folge ließe sich doch die Weiterbildung online praktizieren, also ohne Reise- ohne Hotel- und Trainerkosten.

Dierk: Wir stehen vor folgender Schwierigkeit: Der Online-Weiterbildungsmarkt wird von den Technologie-Anbietern, etwa den Lernplattformherstellern, getrieben. Wir erleben hier eine Entwicklung, wie wir sie beispielsweise schon vor 20 Jahren mit der Bürokommunikation erlebt haben. Sie wurde anfangs sehr stark durch die Technologie beeinflusst, und es hat lange gedauert, bis diese in den Hintergrund gedrängt wurde und die Anwendungen sich durchsetzten. Wir haben heute eine ähnliche Entwicklung: Die Learning-Management-System- (LMS-) Firmen besetzen den E-Learning-Begriff, obwohl sie keine Inhalte anbieten. Sie verwalten und verteilen nur. Aber solange gute Anwendungen fehlen, wird sich E-Learning nicht durchsetzen. Wenn aber die guten Anwendungen fehlen, kriege ich auch die Leute nicht dazu, elektronisch zu lernen.

CW: Verschiebt sich also der vielfach prophezeite E-Learning-Boom?

Dierk: Wenn man sich den Markt anschaut, stellt man sowohl einen Ausleseprozess bei den LMS- als auch bei den Content-Anbietern fest. Letztere haben das Problem, dass sie sehr viel investieren müssen, um Inhalte Webfähig zu machen. Es ist davon die Rede, dass eine Stunde E-Learning ungefähr 140 000 Dollar kostet. Das bedeutet, dass nur kapitalstarke Unternehmen in der Lage sind, in Mengen Inhalte zu produzieren. Die Plattformentwickler müssen damit rechnen, dass ERP-Anbieter LMS-Funktionen in ihre Systeme integrieren. Die Wertschöpfung durch ein E-Learning-System liegt nicht im LMS, sie liegt in der Distribution und im Content.

Ellen Dittmer, Com Computertraining

Dittmer: Für mich ist es ein Phänomen, dass soviele Unternehmen einem Trend hinterherrennen und dann warten bis sie Pleite gehen. Denn die Krise der Online-Trainings-Anbieter konnte man vorhersehen. Die Menschen wollen nicht an der Maschine lernen, da können wir die Anwendung noch so toll gestalten. Lernen muss Diskussion, muss Austausch sein. Eine weitere Erfahrung: E-Learning läuft nur erfolgreich mit Druck und Belohnung. Wenn der Mitarbeiter weiß, dass es einen Pluspunkt in der Personalakte gibt, dann strengt er sich an.

CW: Wie sieht die Anwenderperspektive aus?

Knoblauch: Wir erleben bei uns eine Renaissance der Printmedien, weil die gut transportierbar sind. Viele unserer Mitarbeiter verbringen ihre Arbeitszeit im Zug, zum Beispiel wenn sie zu einem Einsatzort fahren. Da diese Zeit nicht wertschöpfend ist, wäre es zu teuer, jedem einen Laptop mitzugeben. Die E-Learning-Lösung, die bei uns im Moment am besten läuft, ist auch die billigste und kommt von unseren Azubis. Die angehenden Fachinformatiker haben Lerninhalte für die jungen Kaufleute entwickelt. Das funktionierte so gut, weil alle auf dem gleichen Flur arbeiten. Die Bahn hat den Vorteil, dass sie große Lernergruppen zum gleichen Thema schulen kann. So wird im Moment ein Online-Kurs für unsere 24 000 Lokführer entwickelt, da rechnen sich die Programme.

CW: Vorhin hörten wir, dass die Produktionskosten sehr hoch sein sollen.

Knoblauch: Wir sind bereit, lieber technische Abstriche vorzunehmen – wir machen also fast keine Videos und weniger Animation, damit das Programm in unserem Netz läuft und weil es billiger ist. Je länger wir daran arbeiten, desto mehr kommen wir zum Schluss, einfache und pragmatische Lösungen zu finden, von denen man sich dann auch später sorgenfrei trennen kann.

Dierk: Es gibt aber Themen, die brauchen eine aufwändige Animation, zum Beispiel, wenn es um das Thema Werbung oder Kundenbindung geht. Dann muss das Beste her. Wenn wir unsere 40 000 Manager dagegen mit dem Thema E-Business überziehen, dann reicht Text und ein wenig Highlevel-Animation. Die sind eh gewohnt, Informationen als reinen Text aufzunehmen.

Peter Littig, Dekra Akademie

Littig: Dem Lerner sollte nicht zu viel versprochen werden, damit er nicht frustriert wird und zu früh aussteigt. 50 bis 90 Prozent der Lernprogramme werden nicht zu Ende bearbeitet, sagt eine Studie aus den USA. Das hat mit der Länge des Kurses zu tun, mit der Aufmachung und mit der Motivation. Ich bin entsetzt, wie häufig die Bedürfnisse des Lerners ignoriert werden. Erst im zweiten Schritt denken die Hersteller nach, wie ein Lernprozess abläuft. Die Informatiker müssten ab und zu mit den Pädagogen reden und gemeinsam Kurse entwickeln. Davon würden die Anwender am meisten profitieren.

CW: Wird denn ständig am Benutzer vorbeigedacht?

Ihm: Die wenigsten Unternehmen machen sich Gedanken um die Komplexität einer systematischen Lernerbetreuung. Selbst wenn das Produkt im Netz verfügbar ist, kann das nur der erste Schritt sein. In den USA spricht man beispielsweise von einem 24/7-Service. Auch beim Lernen muss an sieben Tagen 24 Stunden ein Support möglich sein. An sowas denkt hier keiner. Gerade die Lerner, die sich abends mit elektronischen Medien zu Hause weiterbilden wollen, bräuchten Unterstützung, müssen sich aber gedulden und warten, bis ihnen jemand helfen kann. Das ist auch ein Grund, warum einige Mitarbeiter E-Learning kritisch sehen. Es gibt keine sauberen Prozesse von der Entscheidung bis zur Implementierung.

CW: Wer soll einen solchen Service bezahlen?

Dittmer: Richtig. Das geht nicht, weil es zu teuer ist. Wenn Sie rund um die Uhr Trainer bereithalten, die beispielweise am Telefon Fragen beantworten, dann ist das viel teurer, als wenn Sie gleich einen Experten einfliegen lassen, der gemeinsam mit dem Benutzer das Problem löst.

CW: Gibt es eine Alternative?

Dittmer: Wenn Sie sich zu einem Klassenraumtraining anmelden, gehen Sie auch hin. Wenn es aber heißt, „heute Nachmittag habe ich meine E-Learning-Session,“ da kommt meistens etwas dazwischen, außerdem fehlt die Gruppendynamik. In der Pause eines Kurses ist die Diskussion unter den Teilnehmern und mit dem Trainer am intensivsten. Das kommt über die Leitung nie zustande. Ich war bei uns lange Zeit die Einzige, die dies vetreten hat. Jetzt, da nach dem Nutzen gefragt wird, findet eine Entmystifizierung von E-Learning statt.

Ihm: Wir haben seit Jahren Erfahrung mit E-Learning und stellen fest, dass die Ausfallrate hoch ist. Manche Vorgesetzte zweifeln, ob ein E-Learning-Kurs in der Qualität vergleichbar ist mit einem traditionellen Klassenraumtraining. Viele haben noch nicht verstanden, dass E-Learning genauso einsatzintensiv ist wie traditionelle Wissensvermittlung. Lernen tut weh, und das merken langsam auch die E-Learner.

Udo Dierk, Siemens

Dierk: Wir fragen uns immer, ob E-Learning effizient ist und ob die Ausfallrate nicht zu hoch ist – unterstellen aber dabei, dass das Klassenraumtraining besser ist. Wir wissen aber bis heute nicht, ob es stimmt. Wir können die Diskussion nur dann vernünftig führen, wenn wir wissen, was das Klassenraumtraining bringt.

Dittmer: Ich bleibe bei meiner Kritik am E-Learning. Der Wissensdurstige ist allein, kann nicht aus Problemen anderer lernen; es fehlt die Gruppendynamik, dass einer mitgerissen wird. Warum findet eine Gegenbewegung statt, dass Leute Kontakte suchen und auf den Marktplatz gehen?

Littig: Ich bekomme eher Bauchschmerzen, wenn ich an ein neues E-Learning-Umschulungsangebot des Arbeitsamtes denke. Dabei werden Arbeitslose zu IT-Managern ausgebildet, und von den zwölf Monaten Kurs finden elf online statt. Die Teilnehmer haben die längste Zeit des Kurses mit Menschen nichts zu tun, sollen aber danach Mitarbeiter führen.

CW: Was taugt eigentlich ein Online-Diplom? Ist es weniger wert als ein herkömmliches?

Ihm: Wir setzen seit etwa sechs Jahren Lernprogramme für die Schulung von Standard-Office-Produkten ein. Bis vor drei Jahren sind wir dem Motto gefolgt: anbieten und hoffen, dass es angenommen wird. Die Nutzung war schlecht. Danach haben wir einen Lehrplan um die Online-Themen gebaut, eine Anmeldung, Vermerk in die Personalakte, eine offizielle Freischaltung in der Plattform, offizielle Zuteilung des Materials. Zum Schluss musste noch ein Test absolviert werden, der dann Voraussetzung für die Anerkennung des Kurses war. Als das Geld kostete – natürlich nur für die Abteilung – nahm die Akzeptanz zu, es bekam den gleichen Stellenwert wie die herkömmlichen Seminare. Über die ganze Zeit stand eine Hotline für inhaltliche und technische Fragen zur Verfügung. Sie war von von 9 bis16 Uhr besetzt, also während der Arbeitszeit. Wir wollten damit absichtlich nicht das Lernen in der Freizeit durch die Hintertür einführen, sonst

hätte der Betriebsrat einer solchen Form nie zugestimmt.

Dittmer: Ich bin nach wie vor skeptisch, was die Integration von Lernen am Arbeitsplatz angeht. Es gibt immer einen Grund zu sagen: „Ich habe keine Zeit, weil noch eine Menge zu erledigen ist“, oder „Ich muss früher nach Hause“, und schon steht Lernen hintendran.

Dierk: Was ist aber ein Arbeitsplatz? Beim Lokführer ist es klar, aber bei vielen Mitarbeitern, auch bei mir, ist es mittlerweile so, dass sie sich von überall einwählen können, dass sie den Arbeitsplatz im Koffer.

Teilnehmer der Runde:

Udo Dierk ist Leiter Corporate Area Management Learning, Siemens.

Ellen Dittmer ist Geschäftsführerin der Training and Services Com Computertraining and Services GmbH.

Erwin Ihm ist Leiter Corporate Learning, Deutsche Telekom.

Rolf Knoblauch ist Leiter des Dienstleistungszentrums Bildung der Deutschen Bahn.

Peter Littig ist Direktor Bildungspolitik und –strategie, Dekra Akademie.

Die Moderation leitete Hans Königes, Ressortleiter von Job&Karriere.