Geschäftsprozessmanagement

Kundenorientierung braucht Arbeit an Prozessen

19.06.2017 von Klaus Neugebauer
Es gibt weltweit technologische Trends, die das Zeug haben, unsere Welt zu verändern. Beispiele sind Kundenbeziehungsmanagement und Digitalisierung. Doch ohne den Fokus auf Geschäftsprozesse werden sich Erfolge kaum einstellen.

Der Blick in eine Glaskugel gibt uns Aufschluss über ihre Eigenschaften, ihre runde Gestalt, die Beschaffenheit des Glases, ihre Durchsichtigkeit oder zumindest durchscheinende Konsistenz. Eins wird sie uns schwerlich bieten: den Blick in die Zukunft. Schwierig an dieser trivialen Erkenntnis ist, dass wir selber es sind, die die eigenen Grenzen gestalten und bestimmen. Der Fachmann hat ein fundiertes Vorwissen, aber was die Zukunft bringt, bleibt weitgehend offen. So hat unser Verständnis von Kundenorientierung viel mit Marketing zu tun. Dem Kunden soll das nützen, was wir ihm gerne verkaufen.

Geht es um kundenorientierte Prozesse, brauchen Unternehmen mehr Flexibilität.
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Dabei war es einmal zumindest anders gedacht. In den neunziger Jahren hatte man die Idee eines erweiterten Kundenbegriffs, wonach jeder Schritt zur Erfüllung eines Auftrags als Teilprozess einem Kunden zuzuordnen wäre. Differenzierter als beim heutigen Customer Relationship-Management gab es nicht nur den Endkunden für einen Geschäftsabschluss. Vielmehr wollte man auch die internen Teilergebnisse auf dem Weg dorthin mit Kundenbetreuung verknüpfen. Die Organisation solcher Abschnitte war technisch möglich, sogar eine tragende Hauptidee im Kundenmanagement. Trotzdem unterblieb eine erfolgreiche, flächendeckende Umsetzung.

Heute, mit weiterentwickelter Technologie, stehen wir vor demselben Problem: Um die vergrößerte Komplexität der Geschäftsvorgänge in den Griff zu bekommen, ist eine Balance zwischen der Standardisierung der Prozessketten und der Einrichtung gewisser Bewegungsfreiräume erforderlich. Die Strukturierung der Abläufe ist mit Flexibilität zu verbinden, um auf die sich wandelnden Bedürfnisse von Industrie und Mensch eingehen zu können. Ein starres Strukturieren wäre falsch, ebenso ein Chaoskonzept. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Kundenmodell. Und da liegt es an den Teilnehmern des Wirtschaftsprozesses, also letztlich an uns, ob daraus ein Erfolg wird oder nicht.

Geschäftsprozessmanagement mit Bewegungsfreiräumen

Unter dem Vorzeichen der Digitalisierung überprüfen derzeit viele Unternehmen ihre Geschäftsmodelle. Dabei geht es nicht so sehr um Fragen der Einschätzung oder Einführung von neuen Technologien. Das Problem liegt in deren sinnvoller Nutzung. Im Geschäftsprozessmanagement gibt es dazu einen konkreten Anknüpfungspunkt. Denn die Technologie ist, wie damals in der Kundenbetreuung, vorhanden, doch wie kann man sie nutzen? Wie kann man mit Unterstützung digitaler Technologien die sich stark verändernden Abläufe im Unternehmen besser organisieren? Bei den drei bekannten Prozesstypen (Management-, Kern- und Unterstützungsprozessen) ist das nicht mehr so selbstverständlich. Die Stütze des früheren Kostenmanagements etwa waren und sind auch heute noch die Kennzahlen. Verglich man sie über Jahre, hatte man Indizien für die wirtschaftliche Veränderung des Unternehmens. Dieses rationale, quantifizierbare Potenzial krankte allerdings an einer kaum zu vermeidenden Vergangenheitslastigkeit. Für Prognosen war es wenig geeignet. Kennzahlen über Vergangenes sagen uns nicht direkt, wie die Zukunft sein soll, lassen aber ungefähre Schlussfolgerungen zu.

Umwälzende Technologien

Das kreative Potenzial eines Unternehmens kann man mit Kennzahlen nicht 'einfangen'. Auch die bekannte Balanced Scorecard aus den neunziger Jahren ist heute unzureichend. Sie bot zwar eine Balance zwischen unterschiedlichen, fast ausschließlich monetären Kennzahlen. Dabei waren die Finanz-, die Kunden-, die Prozess- und die Lern- und Entwicklungsperspektive berücksichtigt. Aber Kennzahlen haben sich besonders nachhaltig in der Finanzperspektive etabliert. In der gegenwärtigen Situation eines Paradigmenwechsels durch disruptive Technologien nützen diese Werte wenig. "Ich brauche ein Tool, mit dem ich flexibler werde und die vergangenheitsorientierte Kennzahlenorientierung hinter mir lassen kann", sagt Frank Morelli, Professor für Wirtschaftsinformatik - Management & IT an der Hochschule Pforzheim und Aufsichtsrat eines Stuttgarter Beratungs- und Softwarehauses. Das funktioniert offenbar mit einem Management, das erlaubt, die eigene Firma nicht nur in der Rückschau zu betrachten, sondern Geschäftsprozesse aktiv einzusetzen und möglichst auch mit eigenen Ideen zu modellieren. Dabei gibt es konkrete Antworten auf folgende Fragen: Was kostet ein Prozess? Wie kommt man zu fundierteren Aussagen darüber? Wie hoch ist die Qualität meiner Prozesse heute und morgen zu bewerten? Prozesse sollen am besten in eine Ablaufstrategie überführt werden. Dieses bekannte Modell zum Prozessmanagement, das sich zwischen Integration und Herausforderung bewegt, öffnet sich gerade sehr stark in Richtung Flexibilität, Agilität. Erfolgreiche Unternehmen sind unbürokratisch, unkonventionell und prinzipiell einer Haltung des 'Aufbruchs' verpflichtet.

Digitalisierung verbunden mit "Design by doing"

Digitalisierung, die überall als Vision bestaunt wird, ist nur der technische Exponent einer Umsetzungsleistung, die noch erfolgen muss. Denn was nützt die beste Digitalisierungsoption, wenn die Mitarbeiter sie ablehnen? So ist die Entwicklung der letzten 25 Jahre nicht schlecht gelaufen, sie hätte aber deutlich effizienter laufen können, so Morelli. Es gibt in den Unternehmen viele, die Probleme mit Prozessmanagement haben, es gängelt sie, es behindert sie. So werden im Sommersemester an der Business School Pforzheim Projekte zur Akzeptanzverbesserung von Ablaufprozessen durchgeführt. Motto: Wie schaffe ich Freude an Geschäftsprozessen? Dies wurde in den letzten Dekaden vernachlässigt, man sah die Mitarbeiter als nicht geeignet dafür an. Stattdessen fanden sie sich zu immer noch mehr Dokumentationen und Tabellenpflege eingekastelt. Positive Szenarien fehlten und fehlen weitgehend. Warum ist Prozessmanagement 'schön', warum macht es Freude?

"Ich brauche ein Tool, mit dem ich flexibler werde und die vergangenheitsorientierte Kennzahlenorientierung hinter mir lassen kann", sagt Frank Morelli von der Hochschule Pforzheim.
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Nach allgemeinen Einschätzungen (BITKOM) wird in den nächsten Jahren ein nicht unerheblicher Teil von Routinearbeiten wegfallen. Das gilt auch für die akademischen Berufe (Ärzte, Anwälte usw.). Prozesse werden dadurch nicht verschwinden, lassen aber mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu. Bisher gab es das Paradigma "Doing by design": Die Führungsebene definierte einen Geschäftsprozess und daran hatten die Mitarbeiter sich zu halten. Das neue Paradigma lautet "Design by doing". Innerhalb eines gegebenen Rahmens sollen und können Mitarbeiter Prozesse individueller, problem- und inhaltsgerechter lösen. So will die Branche den eigenen Dornröschenschlaf abschütteln.

Dies hat auch mit dem "Internet der Dinge" zu tun. "Dinge", also Maschinen, Geräte und Hardwarekomponenten, kommunizieren miteinander und beginnen, selber Prozesse zu steuern. Früher (neunziger Jahre) gab es schon die ereignisgesteuerten Prozessketten mit entsprechendem Konzept, die auch heute noch tauglich sind. Aber nun ist die Modellierungssprache BPMN 2.0 verfügbar. Der große Vorteil ist die Definition von Ausnahmen. Welche Bedingungen zur Vorwegnahme von Fehlern müssen berücksichtigt werden, welche Simulationen, um Iterationen zu vermeiden? Es geht also nicht nur um die Meldung einer fehlenden Wartungsmaßnahme, sondern um die aktive Vermeidung eines sich nähernden Fehlers. Öle werden bestellt, Verschleißteile rechtzeitig ausgetauscht. Das geschieht durch Kommunikation zwischen den am Prozess näher Beteiligten, aber zunehmend auch zwischen den Dingen selber, so dass die Freiräume der Mitarbeiter sich erheblich vergrößern. Es entsteht ein Chancenpotenzial, das die Arbeit interessanter macht, ohne dass es in der Komplexität des Alltags verlorengeht. Dazu gehören der BPMN-Standard, auch der CMMN-Standard mit Ergänzungen, die in diese Richtung gehen. Damit definieren wir geführte Freiräume, also das Gegenteil von Beliebigkeiten oder langweiliger Routine. Und gerade dieser neue flexible Umgang mit Prozessen muss vermittelt werden, was nicht einfach ist. Geschäftsprozesse werden zwar eine zentrale Rolle spielen, aber viele wissen noch nicht so genau, was das ist und was es überhaupt für sie bedeutet. Aber gerade das ist die eigentliche Herausforderung der digitalen Transformation.

Chief Digital Officer statt Chief Process Officer

Fast alle Unternehmen kennen den Begriff des "Process Owners". Damit ist ein bestimmter Mitarbeiter gemeint, der einen Geschäftsprozess verantwortet. In der Praxis sieht es so aus, dass die meisten das im Nebenamt machen. Es ist also nicht ihr Hauptgeschäft. So was wie eine echte Prozessorganisation findet man so gut wie nie. Wie soll man damit Kundenorientierung realisieren? Nur in 20-25% der Fälle findet sich eine Person in der Führungsmannschaft, die Prozessmanagement im Hauptjob macht.[1]Dieses Konzept ist also keineswegs flächendeckend in die Unternehmen eingedrungen. "Die Idee vom 'Chief Process Officer' ist inzwischen tot", so Morelli. "Vielleicht haben wir sie verschlafen. Heute ist der 'Chief Digital Officer' gefordert." Diese Position besitze die richtige Schlüsselkraft. Jeder rede gerade über neue Technologien, diesen Fehler mache man immer. Nicht die Technologien aber seien entscheidend, sondern was wir daraus machen. So ist der nachhaltige Erfolg einer Umsetzung von Digitalisierung in die Praxis zumindest fragwürdig. Dafür ist Kreativität als Grundlage erforderlich, die ganz neue, heute noch unbekannte Geschäftsmodelle schafft. Das Prozessmanagement in seiner Brückenfunktion ist dabei ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Simplifizierung für Smartphones und Tablets

Ein weiterer Erfolgsfaktor ist mit dem Schlagwort "Simplifizierung" angesprochen. Wie kann ein Business User einfach mit solchen Prozessen umgehen und auch Freude daran haben? Die vielfältigen Technologieoptionen müssen in den Hintergrund treten. Stattdessen stellt sich die Frage, wie man komplizierteste Funktionalität vereinfacht auf Smartphone oder Tablet zum Laufen bringt. Das sind Faktoren, die zu einem werthaltigen Einsatz neuer Technologien führen könnten. Die Erfolgsgeschichte der Digitalisierung als technischer Potenzialität liegt zwar auf der Hand. Bisher aber ist sie bei den Firmen nur so nebenbei mitgelaufen, und zwar halbherzig. Letztendlich geht es um eine neue Kultur von Offenheit und Risikobereitschaft.

Fazit

Wir haben zwei Paradigmen beleuchtet: Kundenorientierung als Arbeit an Geschäftsprozessen, Digitalisierung als Aufgabe der dringend benötigten beruflichen Position eines digitalen Officers mit seinem Drang, in Prozessen der Unternehmen wirksam zu werden. Jedes von ihnen hat eine klare positive Realisierungstendenz. Wie sieht nun eine wünschenswerte Zukunft aus, etwa mit dem Horizont 2027? "Ich hoffe, dass unsere technologischen Potenziale dazu genutzt werden", so Morelli, "die persönlichen, wirklichkeitsbezogenen Bedürfnisse des Menschen besser zu befriedigen. Das Zukunftsszenario vom sich vergrößernden Freiraum ist realistischer denn je. Allerdings ist das Gegenteil genauso wahrscheinlich, dass wir nämlich in eine Welt tiefgreifender Manipulation abrutschen, in der jeder nur noch in seinem eigenen geistigen Gefängnis hockt." Der Dichter und Denker Friedrich Hölderlin hatte schon 1803 einen Blick für die Ambivalenz unserer Möglichkeiten. In seiner Patmos-Hymne dichtete er: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch."