Kommentar: Warum Semiramis scheitern musste

08.11.2006
Funktionale Mängel, die fehlende Finanzbuchhaltung und eine Überforderung der Anwender haben zur Pleite des ambitionierten ERP-Anbieters geführt, meint Brancheninsider Eric Scherer, der den folgenden Kommentar verfasst hat.

"ERP-Branche geschockt über den Semiramis-Konkurs" - so oder ähnlich berichte die deutschsprachige Computerpresse über den Insolvenzantrag des österreichischen Softwareherstellers Semiramis (siehe: Semiramis-Pleite schockt die ERP-Branche und Was Partner und Kunden sagen). Tenor der Berichterstattung war immer wieder die Verwunderung darüber, dass ein so hoch gelobtes Produkt derartig scheitern konnte. Insbesondere für Entscheider auf der Anwenderseite entsteht durch solche Vorfälle Verunsicherung: Wie kann ich mich vor Fehlinvestitionen schützen? Der klassische Reflex ist die Flucht zu Anbietern mit großen Namen, die hier mehr Sicherheit zu bieten scheinen.

Dabei war schon lange klar, dass das "Venture Semiramis" nicht - beziehungsweise nicht so - erfolgreich sein wird. Der Konkurs war nahezu klassisch, ganz ähnlich dem des Schweizer Anbieters Miracle, der vor fünf Jahren das Zeitliche segnete. Es gab auch im Fall Semiramis genügend Anzeichen, die auf ein Scheitern hindeuteten. An erster Stelle ist hier die Situation im ERP-Markt selbst zu nennen. Es gibt kaum einen Markt, der mit Angeboten so überflutet ist.

ERP-Experte Scherer sieht funktionale Schwächen im Produkt.

Der Markt selbst expandiert nicht wirklich, er hat vielmehr alle Kennzeichen eines reinen Verdrängungsmarktes. Analysiert man die Zahlen zum Marktpotenzial, die in Investorenkreisen herumgereicht werden, muss man feststellen, dass diese durchweg auf Schätzwerten beruhen. Es reicht auch nicht aus, nur die Anzahl potenzieller Kunden in einem Marktsegment zu listen. Unternehmen investieren in langen Zyklen in den ERP-Markt. Wer sich einmal für eine Business-Software entschieden hat, investiert über acht bis zwölf Jahre nicht mehr in den Markt. Bereits ein Vergleich des realistischen Marktpotenzials und der dafür notwendigen Aufwändungen für Markt- und Produktentwicklung hätten gezeigt, dass ein Markteinstieg mit dem Anspruch, SAP das Fürchten zu lehren, nicht machbar war.

Der Autor

Eric Scherer ist Partner und Geschäftsführer des Beratungs- und Marktforschungsunternehmens Intelligent Systems Solutions (i2s) in Zürich. Er verfügt über Praxiserfahrung als Projektverantwortlicher im Bereich PDM/ERP in der Automobilindustrie und ist Lehrbeauftragter an der ETH Zürich, sowie im Excecutive MBA-Programm der RWTH Aachen und der Hochschule St. Gallen.

i2s hat die "ERP-Zufriedenheitsstudie" ins Leben gerufen, die mittlerweile eine länderübergreifende, anbieterunabhängige Initiative im gesamten deutschsprachigen Raum ist.

Ein klassisches Problem von Semiramis war die über weite Strecken lückenhafte und teilweise fehlende Funktionalität. Das Unternehmen war klar über seine technologische Führerschaft platziert worden, der Mangel an Funktionalität wurde kaschiert und musste immer wieder neu in Projekten ausgebügelt werden. Das bindet nicht nur Entwicklerkapazitäten an der falschen Stelle, es führt auch zu verärgerten Kunden.

Semiramis ist es zwar gelungen, die verärgerten Kunden vor der Öffentlichkeit versteckt zu halten, existiert haben sie trotzdem. Als weiteres Alarmzeichen ist die fehlende Branchenfokussierung im Marketing zu nennen. In vielen Fällen war schlicht weg nicht zu verstehen, wie das gehen sollte: Semiramis war überall, aber nirgendwo so richtig. Eine klare Branchenfokussierung erlaubt es, die Entwicklerkapazitäten zu bündeln und zu fokussieren. Dies ist gerade in einer schnellen Aufbauphase, wie sie das Management verfolgt hat, unabdingbar.

Ein weiterer Mangel war mehr als offensichtlich und bei vielen Entscheiden gegen Semiramis mit Sicherheit ein zentraler Entscheidungspunkt: Die Software verfügt über keine eigene Buchhaltung. Dieses Manko mag mit dem Versuch, sich auf die eigenen Ressourcen zu konzentrieren, begründbar sein. Am Markt hat sich jedoch das Paradigma des "integrierten ERP-Systems" klar durchgesetzt - und zwar zu recht. Semiramis stand damit für den Business-orientierten Entscheider von Anfang an in der zweiten Reihe. Erstaunlich nur, dass dies den Analysten, die Semiramis so gerne gelobt haben, meistens nicht einmal einen Nebensatz wert war.

Ein letzter kritischer Punkt ist die Flexibilität von Semiramis. Auf den ersten Blick ist es der Aspekt, der das Produkt auszeichnet und dessen Fehlen man den Marktführern so gerne vorwirft. Zu viel Flexibilität kann den Einführungsprozess beim Kunden aber erheblich verlangsamen, da der rote Faden, der "Referenzprozess" fehlt. Dadurch wird Prozesswissen zu einer noch kritischeren Größe, als bei starren Systemen, die aber über klar definierte Prozesse verfügen. Gerade in einer Phase des Marktaufbaus sind schnelle und kalkulierbare Projekte absolut zwingend.

Natürlich gab es viele erfolgreiche Semiramis-Projekte. Der Erfolg war aber nicht skalierbar. Dazu haben eine angepasste Strategie, eine klare Fokussierung und eine ausgereifte Projektmethodik gefehlt.