Generative AI überfordert

KI ohne Kompass - Betriebe finden keinen Einstieg

11.09.2023 von Florian Bongartz
300 Millionen Jobs seien durch KI bedroht, schreiben die Banker von Goldman Sachs in einer Studie. Tatsache ist aber, dass ChatGPT erstmals Nutzer verliert. Wie passt das zusammen?
Die KI gefährdet viele Arbeitsplätze, zum Beispiel die von Bank- und Versicherungsangestellten.
Foto: Midjourney

Stehen wir wegen künstlicher Intelligenz bald alle auf der Straße? Das legen immer mehr Studien nahe. Betroffen seien vor allem sogenannte White-Collar-Jobs. Gemeint sind Menschen, die in weißen Hemden in den Büros sitzen und vermeintlich mit ihrem Kopf arbeiten, statt im Blaumann mit den Händen. Am stärksten durch KI gefährdet sind Bankangestellte.

Bis 2027, so das World Economic Forum, arbeitet nur noch ein Bruchteil dieser Berufsgruppe in ihrem Job. Dazu passt, dass die BayernLB keine Bankkaufleute mehr ausbilden will. Software macht dann das, wofür heute noch teure - und ohnehin kaum verfügbare - Fachkräfte angeheuert werden.

Die Automatisierungswelle rollt gerade erst an

40 Prozent aller geleisteten Arbeitsstunden ließen sich durch KI einsparen, erklärt Accenture in einer aktuellen Studie. Der Grund: KI, wie wir sie heute kennen, basiert auf einem Sprachmodell. Ein Large Language Model sagt, vereinfacht ausgedrückt, voraus, welches Wort auf das nächste folgt. Mehr als 60 Prozent unserer Arbeit, so die Studie, basiert auf dieser Logik. Es geht um Sprache.

Ganz oben auf der Liste der Branchen, deren Tätigkeit von Sprache abhängt, stehen Banken und Versicherungen. Jobs bestehen hier sogar zu gut 90 Prozent aus mit Sprache verbundenen Aufgaben. Übrigens schaffen es Kommunikation und Medien nicht mal in die Top-5 - und das, obwohl gerade erst das 136 Seiten starke Magazin Panta Rhai erschienen ist, das ganz allein von AI geschrieben und designed worden sein soll.

"Zeit ist Kunst, Zeit ist Leben, Zeit ist alles" - so ist im Untertitel der ersten Ausgabe von Panta Rhai, das übrigens aus Deutschland kommt, zu lesen. Das dürfte kein Zufall sein: Je mehr die KI erledigt, desto mehr Zeit behalten die Menschen für sich. Bedauerlicherweise ist Zeit für die meisten damit verbunden, Geld für den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.

KI reduziert Arbeitszeit - und Einkünfte?

Fast 42 Millionen Menschen hierzulande arbeiten angestellt. Sie tauschen ihre Zeit gegen ein geregeltes Einkommen, egal, ob Vollzeit oder Teilzeit. Zeit ist für sie Geld - haben sie mehr vom einen, haben sie weniger vom anderen. In westlichen Wissensgesellschaften ist Zeitgewinn demnach nicht automatisch ein Geschenk. Oft bedeutet mehr Zeit zu haben, weniger Einkommen zu erzielen und sich weniger leisten zu können.

OpenAI, das Unternehmen hinter ChatGPT, prognostiziert, dass 80 Prozent der Beschäftigten in den USA bis zu zehn Prozent ihrer Aufgaben an die Software abgeben werden. Was hier noch spielerisch klingt, wirkt für die meisten Arbeitnehmer bedrohlich. Womit sollen sie ihr Geld verdienen, wenn Software einen immer größeren Anteil ihrer Arbeit erledigen kann?

In Deutschland gehört Andrea Nahles zu den Opfern. Die ehemalige Arbeitsministerin leitet heute die Bundesagentur für Arbeit. In einem Interview für die Zeit sagte sie: "Mein Job ist zu 56 Prozent ersetzbar." Angst habe sie nicht, und die brauche auch niemand zu haben. Durch KI verliere keiner seinen Job. KI übernehme bloß die Arbeiten, die wegen des demographischen Wandels ohnehin bald keiner mehr machen könne.

Können KI-Lösungen den Fachkräftemangel ausgleichen?

In die gleiche Kerbe schlägt Aljoscha Burchardt vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Wir sollten der KI möglichst jetzt alles beibringen, bevor es zu spät ist, empfiehlt sie im Interview. Zu spät ist es, wenn es keine Fachkräfte mehr gibt, die ihr Wissen an eine KI weitergeben können. Noch seien diese Leute da. Wer aber weiß, wie lange noch?

Ob sich KI als Retter eignet, ist aber noch längst nicht entschieden. Vielleicht kann die KI wirklich Lücken schließen, wenn sich Menschen in den Ruhestand verabschieden. In den meisten Unternehmen bedeutet KI-Einsatz aber vor allem, dass mit weniger Beschäftigten mehr hergestellt werden kann. Dafür gibt es bereits einen Ausdruck: Hyperproduktivität.

Sechs Bibeln in einer Stunde

Hyperproduktivität lässt sich als exzessive Akkordarbeit verstehen. Bezahlt wird nicht mehr die Zeit, die jemand mit einer Tätigkeit verbringt, sondern für die Mengen, die jemand herstellt. Wer mehr in der gleichen Zeit schafft, bekommt auch mehr Geld. Jetzt schon lässt KI viele Menschen in White-Collar-Jobs schneller werden. Um bis zu 35 Prozent steige das Tempo, rechnen MIT-Forscher vor.

Chatbots ersparen den Menschen also gut ein Drittel ihrer Zeit, um zu vergleichbaren Ergebnissen zu kommen. Diese Zeit sollen die Beschäftigten nach der Vorstellung ihrer Arbeitgeber in andere wertschöpfende Aufgaben investieren. Gelingt das, steigt die Effektivität deutlich und sie nimmt weiter zu, je besser die KI-Modelle werden. Wie wir inzwischen wissen, passiert das ungewöhnlich schnell - zumindest weisen aktuell verfügbare KI-Modelle darauf hin.

Als ChatGPT letztes Jahr im November veröffentlicht wurde, hat das Sprachmodell einen regelrechten Hype ausgelöst. Die schieren Zahlen ließen schon damals erahnen, wohin sich KI in den kommenden Jahren entwickeln wird. Die damalige Version GPT-3 war mit 175 Milliarden Parametern trainiert worden und galt als das größte Sprachmodell der Welt.

Vor kurzem ist der Nachfolger GPT-4 erschienen. Dieses Modell soll angeblich bereits mit 100 Billionen Parametern arbeiten. Wenn das stimmt, hat sich die Kapazität von GPT in weniger als einem Jahr vertausendfacht. Und das gilt nicht nur für dieses Modell, wie McKinsey berichtet. Anthropics KI etwa verarbeite inzwischen mehr als 75.000 Wörter pro Minute. Das entspricht einem Volumen von sechs Bibeln in einer Stunde.

Die KI lernt in atemberaubender Geschwindigkeit. Da kann der Mensch nicht mithalten.
Foto: Midjourney

Wenn wir in Deutschland davon sprechen, dass KI uns die von vielen ersehnte Viertagewoche bringen wird, ist das wohl deutlich zu kurz gesprungen. KI dürfte unsere Wirtschaft viel stärker verändern, als vielen lieb ist. Dafür reicht ein Blick in die Unternehmen nicht aus, es geht um die gesamte Volkswirtschaft.

Schlechte Mitarbeiterproduktivität rächt sich doppelt

Wer ein Gefühl dafür bekommen möchte, was kommt, sollte einen Blick in die Arbeiten des britischen Wissenschaftshistorikers Derek John de Solla Price werfen. Eine seiner Thesen, die auch als "Price's Law" bekannt geworden ist, besagt, dass 50 Prozent der Arbeit in einem Team von einer Anzahl von Personen erledigt wird, die der Quadratwurzel der insgesamt an dieser Arbeit beteiligten entspricht. Kurz: Von 10.000 Beschäftigten erzeugen 100 die Hälfte der Ergebnisse.

Wenn man so will, sind das die Hyperproduktiven. Ähnlich wie beim Fußball, wo uns meistens nur die Namen der großen Stars einfallen, gilt auch bei Buchautoren, Musikern oder eben bei Angestellten, dass nur eine Minderheit einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Price's Law geht noch weiter. Er hat - einfach formuliert - festgestellt, dass Inkompetenz innerhalb einer Organisation exponentiell wächst, Kompetenz dagegen linear. Man stelle sich vor, dass sich der kleine Kreis der Kompetenten nun auch noch mit einer KI ausstattet: Die weniger Kompetenten dürften endgültig abgehängt werden.

Marc Andreessen: "Freeze-Frame Moment of AI"

Im Podcast mit Lex Friedman macht Marc Andreessen ähnliche Beobachtungen. Ihm zufolge müsste es da draußen Autoren geben, die Abertausende von außergewöhnlichen Büchern schreiben könnten. Und warum produzieren Musiker nicht tausendfach mehr Songs? Die verfügbaren KI-Werkzeuge seien spektakulär, so der Netscape-Schöpfer und Mitgründer der Venture-Capital-Firma Andreessen Horowitz (siehe Video ab 2:59:50).

Viele Menschen, vor allem die jüngeren, könnten heute mit KI theoretisch schon sehr früh hyperproduktiv werden. Doch der KI-Boom sei bislang ausgeblieben. Andreessen nennt das den "Freeze-Frame-Moment of AI" - ein Standbild, in dem wir uns alle befinden. Die KI-Werkzeuge seien verfügbar, aber die wenigsten Menschen wüssten bislang etwas damit anzufangen. ChatGPT verliert jetzt sogar erstmals Nutzer.

Mehr als 100 Millionen Nutzer monatlich sollen ChatGPT in den ersten beiden Monaten nach dem Launch aufgerufen haben. Im Juni 2023, ein gutes halbes Jahr später, zeigt sich ein eingetrübtes Bild: Um rund zehn Prozent sind die Zugriffszahlen eingebrochen. Heute beschäftigen sich nicht mehr, sondern weniger Leute mit dem Chatbot als damals.

Ist GPT schlechter geworden - oder sind die User unfähig?

Einige Kritiker machen dafür die angeblich schlechtere Qualität verantwortlich, die ChatGPT in der neuesten Version abliefere. Manche Antworten des Systems sind auch wirklich grotesk falsch: Forscher an den US-amerikanischen Universitäten Stanford und Berkeley wollen sogar bewiesen haben, dass GPT-4 gegenüber dem Vorgängermodell signifikant schlechtere Ergebnisse abliefere.

Möglicherweise liegt das Problem aber auch darin, dass die Menschen nicht wissen, wie sie die KI bedienen müssen. Prompt Engineering ist eine noch junge Disziplin. Die Studie der Eliteuniversitäten hat jedenfalls OpenAI dazu veranlasst, Stellung zu nehmen. Auf Twitter verteidigt sich Peter Welinder, Vice Presindet Product von OpenAI, GPT-4 sei gewiss nicht dümmer geworden. Doch wer das Werkzeug nicht intensiv genug nutze, dem blieben viele Eigenschaften und Funktionen verborgen.

Arvind Narayan, Informatik-Professor in Princeton, kritisiert zudem die Methodik der Tester. Die Studie messe das Sprachmodell im Bereich der Software-Entwicklung etwa daran, ob sich der erzeugte Quellcode sofort ausführen lasse. Dabei liefere GPT-4 in den Ergebnissen viele Erläuterungen über den Quellcode hinaus. Der Versuch, hilfreicher für den Nutzer zu sein, werde von den Testern gegen das Modell verwendet und nicht dafür. Jedenfalls zeigt die Debatte, dass sich mit KI ernsthaft beschäftigen muss, wer damit Erfolge erzielen möchte.

Die Menschen "zappen" unkonzentriert durch ChatGPT

Andreessen vermutet bei vielen das "Netflix-Syndrom": Die Menschen ließen sich zu leicht ablenken. Fast jeder dürfte sich schon einmal durch die vielen Filme eines Streaming-Dienstes geklickt haben, ohne am Ende tatsächlich etwas anzusehen. Das Angebot ist groß, und es ist für manche nicht einfach, sich für etwas zu entscheiden. Bei KI ist es so ähnlich: "Ich will mal was mit KI machen", reicht als Vorsatz einfach nicht aus, um hyperproduktiv zu werden.

Wer KI nutzen will, sollte sich zuvor ausgiebig mit dem zu lösenden Problem beschäftigen - und sich nicht davon ablenken lassen.
Foto: Midjourney

Wer KI ohne Kompass nutzt, der produziert nicht, der spielt. Dieses Experiment kann jeder für sich selbst durchführen. Die Webseite https://theresanaiforthat.com listet mehr als 7.000 KI-Tools auf, die sich für fast 2.000 verschiedene Aufgaben eignen. Produktiv wird damit nur derjenige umgehen, der schon weiß, was er mit KI anstellen will und warum. Alle anderen probieren nur ein wenig herum oder sind überfordert. Das sind diejenigen, die sich von ChatGPT wieder verabschieden, weil sie damit nichts Konkretes anfangen können.

Wahrscheinlich verstärkt KI bloß das, was ein Mensch ohnehin erreichen will. So wie es Peter Thiel in seinem Buch "Zero to One" beschreibt, ist es der erste Schritt, der etwas Neues schafft. Von Null auf Eins muss der Mensch alleine kommen, erst danach hilft die KI. Darum warten wir auch noch auf das große KI-Feuerwerk. Wir haben eine mächtige Lösung zur Hand, für die wir jetzt passende Probleme suchen. (hv)