Moderne Business-Software

Kann ERP II Geschäftsprozesse verbessern?

14.09.2010 von Christian Riethmüller
ERP-II-Systeme sollen unternehmensübergreifende Wertschöpfungsketten steuern. Doch was damit genau gemeint ist, bleibt diffus, weil es in der Softwarebranche keine einheitliche Semantik gibt. Hinzu kommt, dass Hersteller den Begriff sowohl für neue Entwicklungen als auch für runderneuerte Altsoftware verwenden.

Was für die Physik die "Theory of Everything", die Weltformel in ihrem eigentlichen und positiven Sinn, ist, das sind für die Anbieter von ERP-Systemen ihre eigenen Produkte. Laut den Angaben dieser Hersteller bringt ihre Software sämtliche Geschäftsprozesse unter einen Hut. Sie stellt interne und externe Unternehmensabwicklungen in einer einheitlichen modernen Oberfläche dar, lässt sich auf jede Größe skalieren, erlaubt es, komplexe Prozesse einfach zu bearbeiten, und kann auf jeder erdenklichen Plattform eingesetzt werden.

Doch leider gibt es keine universelle Software, die zu jeder Branche gleich gut passt. Vielmehr muss jedes ERP-System für die spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Branche oder eines Anwenderunternehmens konfiguriert werden. Nicht selten passt sich dabei die Firma an die Bedingungen der Software an.

Was ist eigentlich ERP II?

Enterprise-Resource-Planning umfasst Funktionen, mit denen Unternehmen interne Abläufe steuern können. Mit dem Begriff "ERP II" ist die überbetriebliche Abwicklung interner Geschäftsprozesse ohne die Defizite herkömmlicher ERP-Software gemeint. Externe Abläufe lassen sich einbeziehen beziehungsweise bisher intern erledigte Aufgaben abgeben. ERP II lenkt die Geschäftsprozesse, indem es Ressourcen wie Kapital, Material und Personal möglichst effizient für den betrieblichen Ablauf einsetzt. Extern initiierte Aufträge beispielsweise werden angenommen, intern bearbeitet, mit Lieferanten abgesprochen, zur Weiterverarbeitung an einen externen Leistungserbringer weitergereicht und bestätigt sowie wiederum intern abgeschlossen.

Der Gedanke, Prozesse zu vereinheitlichen, egal, ob sie intern oder extern ablaufen, ist zwar nicht neu, bis heute aber nicht vollständig in Software abgebildet worden.

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Enterprise Application Integration (EAI) als Anfang

Ein Vorläufer von ERP II ist Enterprise Application Integration (EAI). Das Konzept zieltdarauf ab, die Grenzen einzelner Applikationen zu sprengen, indem sämtliche in einem Unternehmen existierenden Anwendungssysteme über eine Integrationsplattform miteinander verbunden werden. Dabei ist es unerheblich, auf welcher Softwareplattform diese Anwendungen aufsetzen. Eine komplexe Zuordnung ("Mapping") sorgt dafür, dass Daten eines Geschäftsvorfalls in der richtigen Abfolge an einzelne Softwarefunktionen oder andere Prozesse übergeben werden. Zudem werden so Prozessergebnisse weitergeleitet. EAI ist stark prozessorientiert und generalisiert die Daten der Warenwirtschaft, der Produktion, des Vertriebs, des Marketings und anderer Geschäftsbereiche über funktionale Schnittstellen. Auf diese Weise lassen sich Geschäftsinformationen konsistent verwalten sowie unter einer einheitlichen Oberfläche darstellen. Sie stehen damit allen am EAI-System angebundenen Programmen zur Verfügung, die einzelnen Geschäftsfunktionen bleiben in ihrem Ursprung unverändert.

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Ende der 90er Jahre erfand das Beratungs- und Marktforschungsunternehmen Gartner den Begriff ERP. Er bezeichnet die effiziente Unterstützung der innerbetrieblichen Auftrags- und Projektabwicklung. An der Stelle, an der ein Geschäftsprozess im ERP beendet war, übernahm das EAI-System die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Applikationen in einem Unternehmen sowie mit den Programmen der Filialen oder mit Software von externen Kunden, Lieferanten oder Kooperationspartnern. Dazu zählt beispielsweise das Absenden einer Warenbestellung per Fax oder E-Mail. Allerdings ist damit noch nicht der gesamte Prozess abgeschlossen. Alles, was darüber hinausgeht - Rechnungserstellung, Skonto, Nachbesserung, Zahlungsausfälle oder die Übergabe der Daten an den Steuerberater - wird hier noch nicht betrachtet.

ERP II soll diese Prozesse nun aufnehmen und auf eine einheitliche Funktions- und Datenebene heben. Das Konzept macht zwischen internen Prozessen sowie denen von Lieferanten und Kunden einen Unterschied. Man spricht auch von "Collaborative Commerce".

ERP-II-Systeme sollen unternehmensübergreifende Wertschöpfungsketten steuern. ERP als Begriff ist dazu aber eigentlich nicht notwendig.

Ein "magnetischer Begriff"

Großhandel, Anlagen- und Maschinenbauer, Oberflächenveredeler oder Finanzdienstleister werden durch den Begriff ERP II, den Softwarehersteller wie SoftM (Produkt "Semiramis") und Actindo verwenden, angezogen, wissen aber oft nicht genau, was er überhaupt bedeutet beziehungsweise was der Anbieter darunter verstehen will. Andere Unternehmen bieten analoge Funktionen, ohne den Terminus ERP II so stark zu betonen. Vielleicht verwenden sie ihn sogar absichtlich diffus.

Doch von wohlklingenden Begriffen hängt die Qualität einer Software nicht ab, sondern vielmehr von der Erfahrung des Herstellers. Der setzt um, was gut für seine Kunden ist, verharrt damit aber zwangsläufig in den Gepflogenheiten der betreffenden Branche.

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Softwareberater, die Wissen aus vielen Wirtschaftszweigen mitbringen und sich mit modulübergreifenden Funktionen auskennen, werden kaum in die Entwicklung von ERP-Systemen einbezogen. Vielmehr sind Spezialisten am Werk, beispielsweise Kostenrechner, Logistiker, Materialwirtschaftler und Produktionsplaner, die es nicht gewöhnt sind, aus dem Gesamtzusammenhang heraus Prozesse zu verbinden und übergreifend zu gestalten.

In der Folge sind die Funktionen und Prozesse vieler Softwareprodukte, die für verschiedene Branchen geeignet sein sollen, wenig durchdacht: Sie bilden eben immer nur einen Ausschnitt ab. Solche ERP-Programme scheitern oft daran, dass ihr Datengerüst zu trivial ist, um eine große Bandbreite von Branchen abbilden zu können.

Zwar verfügen die Programme über eine Fülle an Einzelfunktionen, doch in der Praxis reichen die oft nicht aus. Anbieter erleben es immer wieder, dass die Kunden, denen sie ihr ERP-System vorstellen, Forderungen erheben, mit denen sie bislang noch nicht konfrontiert waren. Das ist nicht verwunderlich, denn vielen Softwarehäusern fehlen Kernkompetenzen, um Prozesse konsequent zu Ende zu denken.

Keine Systematik in der Semantik

Verwirrend ist zudem die Semantik, die die Hersteller verwenden. Während ein ERP-Anbieter von einer "Pseudobaugruppe" spricht, heißt es anderswo "Phantomgruppe", "Scheinbaugruppe" oder "virtuelle Baugruppe". Und selbst dann, wenn dieses für den Anlagen- und Maschinenbau wichtige Strukturmerkmal vorhanden ist, variieren die Lösungen in puncto Materialdisposition kräftig. Ebenso uneinheitlich fällt die Funktionstiefe aus: Während die Pseudobaugruppe in einem System ausschließlich Materialcharakter aufweist und beispielsweise nur eine Teilesammlung darstellt, können in einer anderen ERP-Software für diese Sonderbaugruppe Arbeitspläne hinterlegt werden. Ein drittes Softwareprodukt sieht vor, in Kundenvorgangspositionen Pseudobaugruppen als individuell zusammengestellte Ersatzteilsammlung zu verkaufen.

An Semantik mangelt es jedoch nicht nur innerhalb der Software, sondern auch in der Beratung. Manch umfangreichem Projekt werden zwar viele Berater zur Seite gestellt, die Kommunikation zwischen ihnen gestaltet sich ohne übergreifendes Fachwissen, ohne einheitliche Semantik sowie ohne ein bereichsübergreifendes Verständnis von Abläufen aber schwierig. Die Anbieter müssen sich deshalb der Welt anderer Branchen öffnen. Bis jetzt bieten die ERP-Hersteller ähnliche Funktionen, die in der Praxis unterschiedlicher Branchen aber eben doch stark voneinander abweichen.

Das Fehlen einer Norm für die Semantik in den ERP-Systemen versuchen Hersteller unter anderem durch kleine Funktionsbausteine auszugleichen, die im Sinne des ERP II beliebig kombinierbar sein sollen. Das ist im Prinzip besser als die Versuche der Allrounder, weil man sich mit den einzelnen Prozessteilschritten auseinandersetzt. Als Beispiel mag myOpenFactory (ein neuer Quasi-Standard) dienen, eine Mittelstandsplattform für den überbetrieblichen Datenaustausch.

Was kommt nach ERP II?

Das ERP-System der Zukunft (vielleicht heißt es ja ERP 3.0) dürfte eine Branchenlösung sein, die offen für die Integration beliebiger Systeme ist und damit die Fähigkeit hat, mit einer einheitlichen Semantik Fremdsysteme anzusteuern, um dort Prozesse zu initiieren oder fortzusetzen. Die Tools und Schnittstellen, die das neue ERP-System für die Prozesssteuerung nutzt, sind dann auch in der Lage, Abfragen vernünftig zu beantworten.

Diese neue Systemgeneration lässt sich nicht mit der Modernisierung alter Laufzeitumgebungen erreichen. Etablierte Produkte, die seit sieben Jahren oder länger am Markt sind, ihren Zenit erreicht oder überschritten haben, bauen im Gegensatz zu innovativen Herstellern lediglich auf ihre vorhandenen Strukturen auf. Ihre Evolution sieht vor, sich auf Biegen und Brechen dem jeweils aktuellen Stand anzupassen. Neuentwicklungen, wie sie Semiramis oder Greenax bieten, verzichten hingegen vollkommen auf alte Quellen, und in ihnen können neue Ideen realisiert werden. Dagegen stellt sich irgendwann die Frage, ob alte ERP-Software, die immer wieder evolutionär weiterentwickelt wurde, noch als neu oder modern bezeichnet werden darf.

Der Anwender muss im Mittelpunkt stehen

Aber auch moderne Software ist noch kein Garant für eine erfolgreiche ERP-Einführung. Von entscheidender Bedeutung ist eine individuelle, branchenspezifische Beratung, bei der die Anwender im Mittelpunkt stehen und nicht das Softwareprodukt. Doch Unternehmen lassen sich noch immer relativ leicht von plakativen Aussagen der ERP-Anbieter beeinflussen. Der Anwender muss sich deshalb genau überlegen, was er will und braucht. Mitunter müssen nach der Einführung der Software zusätzliche Funktionen nachimplementiert werden, weil das neue ERP-System Merkmale vermissen lässt, die das abgelöste Programm bot. So mancher Anwender ist bei der Systementscheidung naiv vorgegangen und hat es bereut.

Einen Standard für ERP-Systeme wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Softwarehersteller werden zukünftig stärker gefordert sein, individuelle Lösungen bereitzustellen, die sie zusammen mit dem Anwender erarbeiten. Gefragt ist Software, die Prozesse leistungsstark unterstützen kann und durch eine einheitliche Semantik leicht verständlich ist.