Filz, Fleece und Fantasie bei Dawanda und Co.

Jetzt geht's ans Selbstgemachte

13.10.2008
Im Wohnzimmer von Heidi Benisch in Berlin-Friedrichshain rattert die Nähmaschine. Stich für Stich entsteht hier aus violettem Fleece Frau Solei, die Heimwehbezwingerin.

Die flauschige Stoff-Figur hat keine Arme, dafür lange giftgrüne Beine aus Cord - und ist ein Star in Benischs selbstgeschneiderter Kollektion. Mit handgemachten Kissen, Wärmflaschen, Puppen und Taschen will die 27-Jährige bald ihren Lebensunterhalt verdienen. Dabei profitiert sie von einer wachsenden Do-it-Yourself-Szene in Berlin. Klassische Handarbeit erlebt nicht nur in der Kreativ-Metropole seit einiger Zeit eine Renaissance.

Handarbeit ist "in"

Das Imageproblem des Selbermachens ist passé, schreiben Holm Friebe und Thomas Ramge in ihrem Buch "Marke Eigenbau - Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion". Lange wurde Jean Pütz mit seiner Heimwerkersendung "Hobbythek" im WDR Fernsehen belächelt. Strickende Mütter steckte man schnell in die altbackene Öko-Tanten-Ecke. Das soll jetzt vorbei sein, meinen Trendforscher. "Eigenbau wird wieder sexy", sagt Friebe.

Die handgemachten Kleidungsstücke und Accessoires treffen nicht nur in Berlin auf eine wachsende Fangemeinde. "Der Selbstmachtrend, auch Crafting genannt, manifestiert sich seit rund drei Jahren besonders in Deutschland, Großbritannien und den USA", erklärt Sabine Koppe vom Hamburger Trendbüro. Bei vielen Menschen wachse das Bedürfnis, "der digitalen Welt ab und an den Stecker zu ziehen und wieder echte Dinge anzufassen".

So ist auch bei Heidi Benisch das Wohnzimmer längst zur Werkstatt geworden. Auf zwei Nähmaschinen fertigt sie täglich rund ein Dutzend Stücke, alles Unikate. "Jedes Teil geht durch meine Hände", sagt sie. Verkauft werden die Heimwehbezwinger, blumigen Kissen und Wärmflaschen mit Filz-Schaf in kleinen Läden am Prenzlauer Berg, in Hamburg und in Winterthur (Schweiz). In einer abrissreifen Skaterhalle in Friedrichshain steht Benischs Stand auf dem Kreativmarkt der "Trendmafia". Hier bummeln vor allem junge Alternative auf der Suche nach Liebhaberstücken. Marken- und Massenprodukte kommen für die Crafting-Fangemeinde nicht in Frage.

Ein Marktplatz für Einzigartiges

Darauf setzen auch die Berliner Claudia Helming und Michael Pütz mit ihrer Internet-Plattform Dawanda. Bastler aus ganz Deutschland bieten hier derzeit über 300.000 Produkte an - alle handgemacht. Die Palette reicht vom Spiegelei aus Filz über die Hängematte für das Meerschweinchen bis hin zum modischen Shirt mit Siebdruck. Jeder Monat steht unter einem anderen Farbmotto: zuletzt der Lila-Laune-September, dann Oktober-Brownies. Besonders trendig ist die Selbstmachszene in Großstädten, sagt Helming. "Aber aus den entlegensten Dörfern kommen manchmal die ausgeflipptesten Sachen."

Ein großer Teil der Dawanda-Community stammt aus dem Osten Deutschlands. Weil dort das Do-it-Yourself eine ganz andere Tradition hat, vermutet Helming. "In der DDR hatte man viel mehr die Notwendigkeit, Dinge selbst zu machen." Ökonomische Hintergedanken hätten die Dawanda-Nutzer aber nur selten. Käufer interessieren sich vor allem für die Einzigartigkeit und "die Geschichte, die Menschen hinter dem Produkt".

Die Geschichte hinter Heidi Benischs violetter Heimwehbezwingerin Frau Solei ist ganz simpel: Zunächst hat sie nur Taschen und Kissen genäht. "Doch da fielen immer Stoffreste ab", erzählt sie. Aus diesen entstehen jetzt kleine Figuren mit fantasievollen Namen wie Kuschelbruder Zwerg Purpur oder Gesundmacher Kaiser von Röck. Die Reste-Puppen mit den schielenden Augen verkaufen sich oft erfolgreicher als Kissen, Shirts und Accessoires. Sie treffen punktgenau ins Herz der Selbstmachszene: einzigartig, modisch und immer ein wenig schräg. (dpa/tc)