IT bleibt bis auf weiteres als Waffe im Wettbewerb stumpf

12.11.1998
Einmal mehr erwies sich die Gartner-Group-Konferenz ITxpo in Cannes als Mekka für europäische IT-Manager: Technologien, Trends und vor allem Strategien ohne Ende. Dieses Jahr widmete sich der Event jedoch vor allem der IT-Hausmannskost. Entscheidende Frage dabei: Wie kommen Anwenderunternehmen im Spannungsfeld zwischen Jahr-2000-Umstellung, noch kaum in Angriff genommenen Euro-Projekten sowie der Notwendigkeit einer E-Commerce-Strategie zurecht?

Konferenzen, hochkarätig besetzte noch dazu, beginnen gemeinhin mit Key-Note-Ansprachen - guten oder weniger guten. Daß es auch anders, im günstigen Fall sogar besser geht, wurde auf der diesjährigen ITxpo erfolgreich vorexerziert. Fünf Gartner-Analysten mimten zusammen mit dem renommierten BBC-Redakteur Peter Sissons die "IT-Krisensitzung" eines fiktiven, in Europa ansässigen Unternehmens. Thema: Wie läßt sich die Wettbewerbsfähigkeit der Company mittelfristig sichern und nach Möglichkeit noch verbessern? Sissons ließ sich in seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender vom CIO, dem verantwortlichen IT-Chef sowie den jeweiligen Projektleitern "E-Commerce", "Applikationsentwicklung" und "Standardsoftware" berichten.

Der "Krisenstab" auf dem Podium des großen Saales Louis Lumiere im Palais des Congrès in Cannes war sich in seiner Prioritätenfestlegung schnell einig. Dringendste Aufgabe ist eine rasche und erfolgreiche Jahr-2000-Umstellung. Möglichst ohne Zeitverzögerung sollte zudem der Euro in Angriff genommen werden; nach Möglichkeit auch noch die Ausarbeitung einer schlüssigen E-Commerce-Strategie. Alle drei "Basics" unter Einbeziehung von Geschäftspartnern, Zulieferern und Kunden, wohlgemerkt. Kein leichtes Unterfangen für den internen IT-Shop, zumal der sich noch mit einem ganz anderen Problem herumschlagen muß: dem auch in den nächsten Jahren anhaltenden Mangel an qualifiziertem Personal. Und als wären die IT-Verantwortlichen besagter fiktiver Company mit diesem Pflichtenheft nicht schon genug beschäftigt, stellte "Vorstandschef" Sissons noch die unbequeme Frage: Reichen diese Maßnahmen aus, um "uns" einen Vorsprung gegenüber dem Wettbewerb zu verschaffen?

Die Protagonisten auf der Bühne blieben die Antwort nicht schuldig: Nein. Jedes Unternehmen muß diese vielfach als Selbstverständlichkeiten geltenden IT-Hausaufgaben lösen - und ist schon damit meist überfordert. Eine Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb gelingt somit, wenn überhaupt, nur durch höhere Geschwindigkeit und Effizienz, mit der die Projekte durchgezogen werden. Gartner-President Bill Clifford hatte deshalb bereits in seiner Begrüßungsansprache die derzeitigen Prioritäten des IT-Managements ins rechte (Bugdet-) Licht gerückt. So sei der Anteil an den gesamten IT-Kosten eines Unternehmens, der durch die Jahr-2000-Problematik entsteht, von durchschnittlich fünf Prozent (1997) auf 21 Prozent gestiegen und dürfte 1999, also in der heißen Phase der Umstellung, auf bis zu 44 Prozent klettern. Zum Vergleich führte Clifford eine ebenfalls interessante Gartner-Prognose zum Thema E-Commerce an: Lediglich ein Prozent ihres IT-Budgets investieren die Anwenderunternehmen derzeit in ausgefeilte Internet-Security-Lösungen; ein Anteil, der in den kommenden Jahren aber auf immerhin knapp sechs Prozent zunehmen dürfte.

Stichwort E-Commerce: Grundsätzlich vertreten die Auguren die Auffassung, daß zwar nicht alle, aber viele der sich seit geraumer Zeit diskutierten visionären IT-Szenarien allmählich Realität werden. Gartner-Analyst Peter Sondergaard geht beispielsweise davon aus, daß sich binnen der kommenden drei Jahre schon 40 Prozent aller Großkonzerne aufgrund der Globalisierung des Wettbewerbs in puncto IT als virtuelles Unternehmen aufstellen müssen - Auswirkungen auf die generelle Organisationsstruktur inklusive. Dabei komme es aber nicht auf "Lippenbekenntnisse", sondern auf "tiefgreifende Veränderungen der Kommunikation und damit der Beziehungen mit Lieferanten und Herstellern" an.

Sondergaard spielte hier vor allem auf den falschen Ansatz vieler E-Commerce-Strategien an. Viele Firmen glaubten, so der Gartner-Analyst, daß es genüge, die bisherigen Geschäftsabläufe auf das Internet zu portieren. Mit fatalen Ergebnissen: Man ermögliche damit "das Kaufen, nicht aber das Verkaufen über das World Wide Web". E-Commerce dürfte deshalb keine zutreffende Beschreibung für die Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert sein; der Begriff virtuelle Unternehmen alleine aber auch nicht. Vielmehr müsse man zwischen diversen E-Commerce-Ansätzen, also der Idee und Kreation digitaler Geschäftsfelder, und deren Einbindung in eine umfassende E-Business-Strategie unterscheiden.

Zu letzterer gehörten neben der "Öffnung" der unternehmensweiten IT für den Handel im Cyberspace zwei weitere Spezifika: Das sogenannte Technology-enabled Relationship Management (TERM) und vor allem das Supply Chain Management (SCM).

Mit anderen Worten: Ohne besagte organisatorische und systemtechnische Einbindung der Vertriebspartner sowie Lieferanten und natürlich der Kunden geht es nicht. Dabei dürften Firmen mit Internet-Business-Ambitionen aber in eine weitere Zwickmühle geraten. Einerseits drohen "Channel-Konflikte" mit eigenen Außendienstleuten und konservativen Wiederverkäufern, zum anderen malt Gartner die Zukunft der klassischen ERP-Anbieter keineswegs in rosaroten Farben. Sowohl im Back-Office-Bereich als auch in puncto Sales Force Automation und Customer Management sehen die Auguren SAP, Peoplesoft, Siebel, Vantive & Co. über kurz oder lang mit ihrem Latein am Ende. Prognose: Die Software der genannten Hersteller wird mittelfristig nur noch als Framework für individuell anzupassende Lösungen benutzt werden (können).

Dienstleister und Systemintegratoren dürfen sich somit auf eine neue Hochkonjunktur freuen. Aus dem "Oracle-" oder "SAP-Shop" der 90er Jahre wird Gartner zufolge bei vielen Anwendern eine "KPMG-Filiale" werden - mit neuen Abhängigkeiten und weiter steigenden Kosten, versteht sich. Bei all dem müssen Unternehmen jedoch berücksichtigen, daß zunächst nur ein Teil ihrer E-Business-Aktivitäten wirtschaftlich sein wird. Gartner-Analyst Sondergaard rechnet damit, daß bis 2002 nur 15 Prozent aller Geschäfte, die ausschließlich über das Internet abgewickelt werden, einen Return on Investment bringen.

Daneben gilt es für das IT-Management, die erwähnten anderen Hausaufgaben zu erledigen. Man könnte dies übrigens auch mit weitaus dramatischeren Worten einfordern. Der Eindruck, der vielfach noch immer unter den Anwendern vorzuherrschen scheint, "Jahr 2000" und "Euro" seien von den Herstellern und Beratern forcierte Themen und deshalb in ihrer Brisanz nicht ganz so hoch einzuordnen, korrespondiert jedenfalls auf geradezu verhängnisvolle Weise mit den von Gartner in Cannes präsentierten neuen Untersuchungen. Demzufolge sind 85 Prozent der weltweiten Top-2000-Unternehmen mit der Jahr-2000-Umstellung in Verzug. Sei es, daß mit entsprechenden Projekten nicht rechtzeitig begonnen wurde, sei es, daß die notwendigen Ressourcen zu spät bereitgestellt wurden. Vielfach könne man deshalb, wie Gartner-Analyst Simon Levin formulierte, nur noch auf "Schadensbegrenzung setzen".

Noch Schlimmeres befürchtet Levin in Sachen Vorbereitung auf die Europäische Währungsunion. Auf das IT-Management der Unternehmen kämen hier gleich mehrere Lawinen zu. Erstens habe man das Problem derzeit "kaum auf dem Schirm". Die kommenden drei Jahre dürften somit "spannend" werden. Zweitens sei neben der erforderlichen Umstellung der geschäftskritischen Anwendungen (Gartner rechnet hier mit weltweiten Kosten zwischen 150 und 400 Milliarden Dollar) der Desktop als "verstecktes Problem" bis dato nicht berücksichtigt worden. Ein verhängnisvoller Fehler, wie Levin meint, denn hier dürften weitere zehn bis 20 Milliarden Dollar für die Einspielung neuer Software, den Austausch von Tastaturen etc. auf die Unternehmen zukommen - vom Zeitfaktor ganz zu schweigen. Drittens wüßten die Vorstände der meisten Unternehmen noch gar nicht, welche Konsequenzen der Euro für ihr eigentliches Business hat. Wie wirkt sich etwa die dann in Europa existierende Preistransparenz auf den Wettbewerb aus? Eine Frage, die nach Ansicht von Gartner unter anderem auch eine IT-relevante Zeitbombe in sich birgt.

Ein zeitgemäßes IT-Management dürfte sich daher in den nächsten Jahren primär der Schadensbegrenzung widmen (müssen). Von der immer wieder strapazierten Floskel der "IT als strategische Waffe im Wettbewerb" war jedenfalls in Cannes nicht die Rede. Auch weil sich die Branche sowohl auf Anwender- als auch auf Anbieterseite noch mit einem weiteren bekannten Problem herumschlagen muß. Bis 2003 dürften, so eine aktuelle Gartner-Prognose, von zehn hochqualifizierten IT-Arbeitsplätzen statistisch gesehen nur 7,5 besetzt werden können.

Mangel an Skills allenthalben wird also, so ist zu erwarten, einen weiteren IT-Klassiker zu neuen Höhenflügen führen - Outsourcing. Der eingangs erwähnte "IT-Krisenstab" einigte sich jedenfalls auf folgende Vorlage für einen Vorstandsbeschluß: Die Wartung und der Betrieb aller Legacy-Applikationen sowie des unternehmensweiten Netzes werden an einen oder mehrere externe Dienstleister oder Geschäftspartner ausgelagert. Intern werden dafür mit Nachdruck drei IT-Kompentenzzentren in den Bereichen "SAP/Manufacturing", "Internet-Commerce" sowie "Applikationsentwicklung" aufgebaut.