Verzögerungstaktik von seiten der Gewerkschaften und der Personalräte:

ISDN-Modellversuch in Nordrhein-Westfalen ist blockiert

04.07.1986

DORTMUND - Nach einem schwungvollen Auftakt mußte das Vorhaben, im Land Nordrhein-Westfalen einen ISDN-Modellversuch mit digitalen Nebenstellenanlagen von Philips, Siemens und Nixdorf durchzuführen, wieder auf Eis gelegt werden. Gewerkschaften und Personalräte, aber auch Wissenschaftler machten unter anderem aus Furcht vor dem "Großen Bruder" Front gegen das Projekt.

Der Anfang klang vielversprechend: Nordrhein-Westfalen steigt in das ISDN-Geschäft ein und engagiert sich für die zügige Einführung des diensteintegrierenden Netzes. Ministerpräsident Rau am 10. Juni 1985: "Die Landesregierung wird darauf hinwirken, daß die Netze für geschäftliche Telekommunikation rasch verfügbar sind." Sogar bei sich selbst, in den obersten Landesbehörden, wollte er die neuen Informations- und Kommunikationstechniken nutzen und erproben.

Für Dortmund wurde ein Großversuch angekündigt: Die Inhouse-Nutzung von ISDN-Systemen für die Bürokommunikation sollte untersucht und wissenschaftlich erforscht werden - wahrhaft eine Chance für die mit Strukturproblemen überfrachtete Stadt. Drei Pilotprojekte werden angepeilt: Bei der Universität Dortmund, der Stadtverwaltung und der Hoesch-Tochter mbp sollten Inhouse-Systeme finanziell gefördert werden: Hicom (Siemens) für die Universität, Sopho S (Philips) für die Stadt und eine 8818 (Nixdorf) für mbp.

Die Ankündigung ließ hoffen. Nordrhein-Westfalen einmal in vorderster Linie an der High-Tech-Front? Das Land als Vorreiter für neue Technologien? Wollte man sich etwa bei ISDN nicht wie sonst von den Süddeutschen die Butter vom Brot nehmen lassen?

Entwicklung nicht dem Markt überlassen

Anders als beim verspäteten Einstieg in das Kabelpilotprojekt war der Zeitpunkt diesmal gut gewählt. Einige wenige ISDN-Anlagen kamen gerade erst auf den Markt. Es bot sich die einmalige Gelegenheit, sehr früh auf die Gestaltungsalternativen und die Einsatzformen von integrierten Bürosystemen Einfluß zu nehmen.

Professor Karl Kurbel von der Universität Dortmund bewertet den verhinderten Einstieg so: "Statt sich von der Technik überrollen zu lassen und im nachhinein bestenfalls noch korrektiv tätig werden zu können, bestand hier die reelle Chance, zu einem frühen Zeitpunkt Rahmenbedingungen zu setzen, die Sozialverträglichkeit der Technik konstruktiv zu beeinflussen und die weitere Entwicklung nicht ausschließlich den Herstellern und dem Markt zu überlassen."

Gegenwind von den Gewerkschaften

Doch das Drama nahm seinen Lauf. Gewerkschaften und Personalräte entdeckten das Thema. DGB und ÖTV, die den Modellversuch kategorisch ablehnten, verfolgten eine Verbindungstaktik, Vorsorglich wurden bereits Positionen eingerammt und die Basis mobilisiert, obwohl bei den vorgesehenen Betreibern noch gar keine Vorstellungen über den Einsatz, geschweige denn Nutzungskonzepte existierten. Klischees vom "Großen Bruder" wurden reaktiviert und Rationalisierungsängste aufgebaut.

Was sonst noch keiner wußte (es sollte ja erst untersucht werden!) - die ÖTV konnte im Dezember bereits verkünden: "Wir wissen jetzt, daß bei der Einführung von ISDN. . . Überwachung und Kontrolle bis zum "gläsernen Menschen" möglich werden" und daß ". . . durch ISDN Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut werden. "

Technik-Ängste wurden geschürt

Emotionen und unterschwellige Ängste wurden gezielt geschürt. In der Öffentlichkeit stellte sich der Pilotversuch plötzlich so dar, als ob sein alleiniger Zweck darin bestünde, die Mitarbeiter bei Stadtverwaltung und Universität möglichst lückenlos zu überwachen und Rationalisierungsnischen aufzuspüren. Die Diskussion erreichte vor Weihnachten ihren Höhepunkt. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht der Lokalpresse eine Negativposition zu ISDN zu entnehmen gewesen wäre.

Auch einige Wissenschaftler reihten sich in die Ablehnungsfront ein. So wurde etwa die Mutmaßung verbreitet, das Pilotprojekt diene dem Ziel, die technische Kompatibilität der drei unterschiedlichen ISDN-Anlagen zu testen und damit die Hersteller zu subventionieren - eine Vorstellung, die nicht gerade von Sachverstand zeugte, wo doch der Modellversuch für 1986/87 terminiert war, die Bundespost aber erst 1988 damit beginnen will, die technischen Voraussetzungen für ISDN-Kommunikation im öffentlichen Netz zu schaffen.

Verhaltener Optimismus an der Universität

Die Universitätsspitze und der Senat der Universität Dortmund standen dem Wunsch der Landesregierung, den Pilotversuch durchzuführen, grundsätzlich befürwortend gegenüber. Auch viele Universitätsmitglieder versprachen sich von dem Projekt positive Auswirkungen auf die Universität und die Region. Angesichts des scharfen Gegenwinds wagte allerdings kaum jemand, sich mit befürwortenden Äußerungen allzuweit aus dem Fenster zu hängen.

Die Universität bezog in der aufgeladenen Atmosphäre keine eindeutige Position. Auch von den 16 Fachbereichen der Universität faßte nur einer - der Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, dem das Gebiet "Bürokommunikation" am nächsten liegt - einen positiven Beschluß. Den einzigen konstruktiven Beitrag für die ISDN-Nutzung und die Begleitforschung unterbreiteten ebenfalls zwei Professoren dieses Fachbereichs.

Worum ging es denn nun eigentlich? In der Hitze der Diskussion war der Gegenstand der Erregung schon fast untergegangen.

Auslotung der Chancen und Risiken

Das Land hatte beschlossen, im bescheidenen Umfang von 2,8 Millionen Mark (an denen gleich der Rotstift zu nagen begann) den "Großversuch" Inhouse-ISDN-Einsatz zu fördern. Für die Universität Dortmund waren davon 1,4 Millionen vorgesehen, die auf magische Weise inzwischen auf 1,0 Millionen Mark geschrumpft sind.

Die Zielsetzung klang vernünftig: Bevor eine umfassende Einführung von ISDN-Anlagen erfolgt, sollten Chancen und Risiken der ISDN-Technik erforscht, Einsatzmöglichkeiten und Anwendungsvoraussetzungen untersucht, Gestaltungsalternativen aufgezeigt werden.

Ministerpräsident Johannes Rau vor Projektbeginn: "Mit diesem Versuch soll zumindest in einem Teilbereich versucht werden, die Einführung dieser neuen Technik nicht unkontrolliert dem Markt zu überlassen." Das hörte sich durchaus logisch an: zuerst und zügig in einem beschränkten Modellversuch empirische Erfahrungen mit der Bürokommunikation auf ISDN-Basis gewinnen, bevor man umfassendere Bewertungen vornimmt und Konsequenzen zieht. Johannes Rau: "Nur wenn die Fakten bekannt sind, kann durch flankierende Maßnahmen Mißbrauch verhindert oder Fehlentwicklungen gegengesteuert werden."

Pilotversuch mit 30 Arbeitsplätzen

An der Universität Dortmund wurde im Sinne der Zielsetzung von den Lehrstühlen Betriebsinformatik (Professor Kurbel) und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung (Professor Müller-Böling) eine Konzeption für den Piloteinsatz des ISDN-Systems entworfen und ein Forschungsprogramm erarbeitet.

Dieses sah Untersuchungen sowohl über die ökonomische Effizienz (Kurbel: "Der wirtschaftliche Nutzen der ISDN-Technik ist ja keineswegs ein Faktum an sich, sondern muß im konkreten Anwendungsfall bestimmt werden") als auch über die Sozialverträglichkeit, vor. Fragen der Benutzerakzeptanz (Handlungsspielräume, Hardware-/Softwareergonomie) und des Personenschutzes bildeten einen Schwerpunkt. Zur Ermittlung der Gestaltungsspielräume sollten unter anderem Organisations- und Kommunikationsanalysen durchgeführt und die Chancen zur Weiterentwicklung der Kommunikationsstrukturen herausgearbeitet werden.

Basis für die Begleitforschung vorgeschlagen, in einem Teil Fachbereichs der Universitätsmitarbeiter mit multifunktionalarbeitsplätzen auszustatten und gesamte Bürotätigkeit in diesem ISDN-gestützt abzuwickeln. "Ansonstens des beschränkten Volumens von einer Million Mark erschien uns der sinnvollste Weg, eine Infrastruktur von 20 bis 30 Arbeitsplätzen zu schaffen, in der Untersuchungen im Sinne des Pilotversuchs über diese möglich sind", begründet Kur(...)ie Initiative.

Bei der Universität setzte sich allmählich die Einsicht durch, daß die Chance, auf die Entwicklung und Gewinnung neuer Techniken Einfluß zu nehmen, auf jeden Fall wahrgenommen werden sollten. Ein Angebot Siemens - zwar noch überarbeitungsbedürftig - lag ebenfalls vor. (...) war an der Universität, ja oder in zu sagen. Das höchste Entschei(...)igsgremium, der Senat, sollte am März 1986 darüber befinden, ob der Modellversuch durchgeführt wird oder nicht. Die Zeichen standen auf Zustimmung, und man konnte hoffen, endlich konstruktiv an das Projekt heranzugehen.

Kalte Füße bekommen

Zu schön, um wahr zu sein! In Nordrhein-Westfalen gehen die Uh(...)en eben manchmal etwas anders. Am Tag vor der Senatssitzung erreicht ein Anruf der Staatskanzlei in Düsseldorf den Reaktor der Universität; ihm wird dringend nahegelegt, vorläufig keinen Beschluß über den ISDN-Versuch zu fassen. Die Landesregierung, die der Universität das Projekt angetragen hatte, hatte plötzlich kalte Füße bekommen.

Was war geschehen? DGB und ÖTV waren in der Zwischenzeit natürlich nicht untätig geblieben, sondern versuchten auf höchster Ebene weiter, den Modellversuch zu verhindern. Am 27. Februar 1986 hatte ein Gipfelgespräch zwischen der Landesregierung und den nordrhein-westfälischen Gewerkschaftsspitzen (...)tgefunden, dessen Resultat die ÖTV prägnant zusammenfaßte: "Zunächst wird es also keine Bestellung und Installation von Geräten geben."

Wie Politiker nun mal sind: Es wurde eine Kommission verabredet. Vertreter von ÖTV, DGB, Staatskanzlei und mehreren Ministerien sollten erst einmal wieder grundsätzlich Überlegungen anstellen, über Rahmenbedingungen nachdenken, Konzeptionen erarbeiten. . .

Das Ergebnis ist auf Sommer 1986 avisiert, aber - wie Kommissionen nun mal sind vielleicht dauert Æs auch ein bißchen länger.

Die Bilanz: traurig

"Mehr als ein Jahr nach der verheißungsvollen Ankündigung ist das Land der Zielsetzung des Modellversuchs um keinen Millimeter nähergekommen", bewertet Kurbel den Stand. Das Projekt droht im politischen Machtkampf zu stranden. Unter dem Aufkleber "Modellversuch" werden offensichtlich ganz andere Schlachten geschlagen - wie sonst ließe es sich erklären, daß Spitzenfunktionäre, Politiker und Ministerialbeamte sich mit einem bescheidenen Miniprojekt von einer Million Mark auseinandersetzen?

Dabei steht völlig in den Sternen, welches Mäuschen der kreißende Berg wohl gebären mag - doch nicht etwa einen faulen Kompromiß? Fraglich erscheint inzwischen auch, ob die Universität bereit ist, einen Modellversuch unter Rahmenbedingungen durchzufahren, die vielleicht politisch opportun, wissenschaftlich aber nicht akzeptabel sind.

Selbst wenn die "Spitzenkommission" termingerecht ihre Ergebnisse vorlegen sollte, ist mit einer Beschaffung und Installation der ISDN-Anlage in diesem Jahr nicht mehr zu rechnen. Das heißt, die Nutzung und auch die Begleitforschung könnten frühestens im Lauf des Jahres 1987 aufgenommen, erste Ergebnisse nicht vor 1988 oder 1989 erreicht werden.

"Angesichts der zeitlichen Perspektiven", meint Professor Kurbel dazu, "wagt man gar nicht mehr, die Bezeichnung "Pilotversuch" in den Mund zu nehmen." Die anspruchsvollen Ziele, Gestaltungsalternativen aufzuzeigen und auf die weitere ISDN-Entwicklung konstruktiv Einfluß zu nehmen, sind wohl kaum noch zu verwirklichen.

Chancen verspielt

ISDN-Anlagen kommen zunehmend auf den Markt, werden verkauft und eingesetzt, ohne daß Nordrhein-Westfalen die Entwicklung auch nur marginal beeinflußt hätte.

Vordergründig scheint die Verzögerungstaktik der Verhinderer aufzugehen. Der Modellversuch ist zunächst blockiert. Ein innovatives Pilotprojekt mit der ursprünglichen Zielsetzung wird immer fragwürdiger.

Damit bleibt die Initiative den Herstellern überlassen, die Bedingungen für den ISDN-Einsatz werden vom Markt geprägt. Die Modernisierungschancen für das krisengeschüttelte Ruhrgebiet, die zur Wahl des Standorts Dortmund geführt hatte, werden verspielt. Ist es das, was DGB und ÖTV erreichen wollten? Die ISDN-Entwicklung läuft auf Hochtouren weiter. "Um so dringlicher ist, sich mit dieser Technik rechtzeitig auseinanderzusetzen", meinte Johannes Rau. Hätte er doch!