Vor drei Jahren sprach Bundeskanzlerin Merkel den Satz: "Das Internet ist für uns alle Neuland." Seither haben Politik und Verbände viel verstanden und versuchen, mehr digitale PS auf die Straße zu bekommen - zum Beispiel bei dem aktuell drängenden Thema für einen Industrie-4.0-Standard aus Deutschland ("DIN-4.0-Stecker").
Doch wir müssen die Schlagzahl erhöhen. Mit der Digitalisierung erleben wir eine tektonische Verschiebung in Wirtschaft und Gesellschaft. Doch im führenden Industriestandort Deutschland begegnen wir dieser Revolution offenbar mehrheitlich noch mit "German Angst".
So schlussfolgert die frische Studie "Industrie 4.0 im internationalen Vergleich" (Huawei Technologies Deutschland / Handelsblatt Research Institute) für Deutschland: "Neben dem schwierigen Zugang zu Risikokapital ist hier auch ein Mentalitätswandel erforderlich: Es herrscht eine zu geringe Bereitschaft, Risiken einzugehen."
Das Urteil ist erschreckend. Der Wohlstand in Deutschland fußt auf industriellem und technologischem Vorsprung in vielen Branchen - Vorsprung durch Technik. Unser Industriesektor hat sich in der Nachkriegsära breit und bestens aufgestellt. Und heute liegt bereits ein gutes Fundament für einen modernen Smart-Factory-Standort - mit führender IT-4.0-Technologie und zahlreichen Leuchtturm-Projekten.
Doch die notwendige Geschwindigkeit für einen Innovationsschub in der Breite fehlt ganz offensichtlich noch. Wollen wir unseren Wohlstand sichern und ausbauen, muss sich ein Mentalitätswandel hin zu mehr Risikobereitschaft schnell vollziehen.
US-Firmen vor gleichen 4.0-Herausforderungen
Die USA und Asien sind in Sachen Innovationsfreude und Risikobereitschaft eine Länge voraus - ein Vorsprung durch Technikfreundlichkeit. Doch es lohnt sich weiter, auf das Gaspedal 4.0 zu drücken. Denn der Wettlauf der Industrieländer ist noch nicht entschieden.
Aus der Praxis kann ich berichten, dass sich Fertigungsverantwortliche in den USA den gleichen Herausforderungen der digitalen Transformation stellen müssen wie deutsche. Das wurde auf dem Smart Factory World Symposium meines Unternehmens Anfang Juni im US-Regierungsinstitut DMDII in Chicago deutlich.
So arbeiten auch in den USA viele Fabriken noch mit Maschinen, die nicht vernetzt sind. Oder es sind zwar erste Maschinen digital angeschlossen, doch der Big-Data-Tsunami wird nicht beherrscht. Auch erfolgt das Stör- und Fehlermanagement mancherorts noch handschriftlich auf Papier - wie in den 90er Jahren.
Heterogene Maschinenparks
Die Herausforderung Nr.1 für alle Unternehmen weltweit stellen heterogene Maschinenparks dar. Kimberley Hagerty vom Flugzeugmaschinenbauer Pratt & Whitney sagte auf dem Smart Factory World Symposium: "Ich habe Maschinen, die 20 Jahre alt sind und kaum Daten liefern, und solche Maschinen, die mehr Daten liefern als ich benötigen kann. Was ich brauche ist eine Lösung, die beide Welten verbindet."
Gefragt sind Technologien 4.0, die heterogene Maschinen einheitlich an eine Shop-Floor-Plattform anschließen und mit verschiedenen Schnittstellen-Standards arbeiten können. Zudem müssen Big-Data in Echtzeit in nützliche Kennzahlen kanalisiert und auf alle browserfähigen Endgeräte visualisiert werden.
Chris Fangmann, Chief Technology Officer beim international tätigen Next-Generation-IT-Dienstleister CSC, drückt es so aus: Technologie 4.0 muss physische und digitale Prozesse synchronisieren, automatisieren und optimieren und Unternehmen in die Lage versetzen, in Echtzeit auf jedem Gerät von überall Einblick in den Shop Floor zu erhalten, um auf Zielabweichungen sofort reagieren zu können. Das Fortune-500-Unternehmen CSC war ein Sponsor des Smart Factory World Symposium.
Widerstände in der Belegschaft
Ebenso muss auch in den USA an der kulturellen Seite der Transformation gearbeitet werden. Die neue Technologie mache vor allem älteren Fabrikarbeitern Angst, erläuterte Frau Hagerty in Chicago. "Wir müssen verstehen, in welcher Entwicklung wir uns alle zusammen befinden: Wir haben eine angstmachende Technologie und bewegen uns sehr schnell hin zu einer Fertigung, die dafür bereit sein mag oder nicht - aber die Fertigung benötigt die neue Technologie unbedingt."
Bob Luthy vom Ventilhersteller Richards Industries pflichtete bei: Gerade weil das Industrial Internet eine unumkehrbare Entwicklung sei, müsse die Belegschaft verstehen, dass der Einsatz neuer Software keine freiwillige Veranstaltung sei. Ein Arbeitnehmer habe gefragt, ob man ihm ein Ultimatum setze. Die Antwort war: "Ja."
Smart starten: ein Pilot erleichtert den Start
Aber bei Richards Industries setzt man lieber auf Überzeugungsarbeit. Zum Einsatz kam dort zunächst ein Smart Factory Starter Kit, mit welchem die Transformation in kleinen überschaubaren Schritten in einem Pilotbereich vollzogen wird. Vorteile: Die Hauptproduktion läuft ungestört weiter, Erfolge können in Ruhe erarbeitet und ausgerollt werden.
Bob Luthy von Richards Industries: "Stellen Sie sicher, dass alle im Unternehmen die Nutzen der Veränderung sehen können - höhere Maschinenverfügbarkeit, höhere Produktivität, niedrigere Fehlerhäufigkeit."
"Unternehmen müssen sich schnell ändern"
Schließlich fehlt es auch in den USA nicht an Appellen, die Geschwindigkeit der digitalen Transformation zu erhöhen. "Unternehmen müssen sich schnell verändern", rief David Brousell von Frost & Sullivan den rund 150 Experten in Chicago zu. In den 1960er Jahren sei der Vorläufer der vierten industriellen Revolution die Automatisierung gewesen. Bei der heutigen vierten Revolution der Digitalisierung, in denen Maschinen ihre Leistung selbst messen und sich selbst warten, werde nicht mehr so viel Zeit verstreichen. "Wir werden keine 25 Jahre mehr Zeit haben, um bei der Fertigung 4.0 aufzuspringen."
Das gilt auch für Deutschland. Die Geschwindigkeit der Digitalisierung fordert es, dass wir mutig und schnell vorangehen und Risiken und Rückschläge einkalkulieren. Einen langwierigen akademischen "Diskurs 1.0" verzeiht der Wettbewerb 4.0 nicht mehr - weder bei den Rahmenbedingungen, die Politik und Verbände setzen, noch in den Unternehmen. (mb)