Die nächste Revolution in der Fertigungsindustrie

Industrie 4.0 birgt Herausforderungen an das Qualitätsmanagement

08.10.2014 von Ralf Neubauer
Die vierte industrielle Revolution steht für die Vernetzung und Verschmelzung von virtuellen Informations- und Kommunikationstechniken mit Produktionssystemen zu sogenannten Cyber Physical Systems (CPS). Diese „Smart Factory“ der Zukunft ist geprägt durch die intelligente Vernetzung von Materialien, Produkten, Produktionstechnologien und Automatisierungsprozessen und ein daraus resultierendes dezentrales, selbststeuerndes und flexibles Agieren.
Eine wichtige Grundlage für zukünftige Produktionsmechanismen ist die nahtlose Integration und Vernetzung der administrativen und dispositiven IT-Systeme mit der produzierenden Infrastruktur.
Foto: Mathias Rosenthal - Fotolia.com

Intelligente Produkte koordinieren selbst den für sie besten Weg durch den immer komplexer werdenden Produktions- und Logistikdschungel bis hin zum Kunden. Dabei können Produktionsnetzwerke entstehen, innerhalb derer selbst Unternehmensgrenzen verschwimmen.

Die Umsetzung einer derartigen Vision für die Produktion hat natürlich auch Folgen für abhängige und unterstützende Prozesse wie das Qualitätsmanagement. Dessen Werkzeuge und Prozesse orientieren sich an den historisch gewachsenen und heute definierten Produktionsprozessen. Verändern sich diese hin zur smarten Fabrik, müssen auch die Prozesse und Werkzeuge für das Qualitätsmanagement angepasst werden, damit diese der neuen Flexibilisierung und Vernetzung Rechnung tragen.

Herausforderung: Austausch von Qualitätsanforderungen

Im Zuge des sich verändernden Marktes müssen Hersteller zunehmend auf individuelle Wünsche ihrer Kunden eingehen können und in der Lage sein, die Konfiguration eines Produkts auch noch zu einem späten Zeitpunkt zu ändern. Die Folge sind unter anderem zunehmend kleinere Losgrößen und eine stetig steigende Variantenvielfalt in den Produkten. Analog dazu können sich auch die Qualitätsprofile der Produkte ändern, was ebenfalls in der Produktion berücksichtigt werden muss.

Darüber hinaus ist ein entscheidendes Kriterium für eine Smart Factory, auf Störungen bis zu einem gewissen Grad eigenständig reagieren zu können. Diese Widerstandsfähigkeit oder auch Resilienz erfordert eine hohe Flexibilität in den Produktionsabläufen. Fallen einzelne Komponenten im Netzwerk aus oder muss die Kapazität kurzfristig erhöht werden, kann dies durch die Hinzunahme von weiteren Anlagen oder den Aufbau von alternativen Produktionspfaden kompensiert werden. Dabei können bisher ungenutzte Anlagen zum Einsatz kommen, zum Beispiel Anlagen, die noch nicht ausgelastet sind, oder solche, die bisher Aufträge mit niedrigerer Priorität bearbeitet haben.
Gerade hier aber lauern potenzielle Schwachstellen, denn eine derartige selbstorganisierte Flexibilität in den Abläufen muss natürlich auch die Anforderungen an die Qualität berücksichtigen. Dazu ist es erforderlich, dass die dafür notwendigen Informationen im Produktionsnetzwerk vorliegen und zwischen den beteiligten Komponenten ausgetauscht werden können. Ein Austausch dieser Informationen ist nur mithilfe von noch zu definierenden Standards möglich, die es erlauben, Informationen zwischen den Anlagen unterschiedlicher Hersteller und auch über Firmengrenzen hinweg auszutauschen.

Industrie 4.0 auf der Hannover Messe 2014
Industrie 4.0 auf der Hannover Messe
Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), das Centrum Industrial IT (CIIT) sowie die TU Berlin habe auf der Messe den Stand der Forschung rund um Industrie 4.0 gezeigt.
DFKI: Smart Factory
Fertigungsmodule von Festo, Rexroth, Harting, Phoenix Contact und Lapp Kabel wurden so kombiniert, dass sie gemeinsam individuell gestaltete Visitenkartenhalter produzieren konnten. Zweimal am Tag wurde die Reihenfolge einiger Module verändert. Die Produktion lief in den nicht betroffenen Anlagen weiter.
DFKI: Smart Factory
Auf der Rückseite der Anlage versorgte ein gemeinsamer Backbone die Module mit Druckluft, Strom und Kommunikationsdiensten.
DFKI: Smart Factory
Jeder gefertigte Visitenkartenhalter enthielt einen RFID-Chip. Er lieferte den einzelnen Anlagen die erforderlichen Produktionsdaten.
CIIT: Arbeitsplatz der Zukunft
Das CIIT veranschaulichte Industrie 4.0 mit Hilfe von Lego-Figuren, die am Messestand gefertigt wurden. Zum Start konnten Besucher aus drei verschiedenen Lego-Vorlagen wählen und am Terminal eine individuelle Gravur eingeben.
CIIT: Arbeitsplatz der Zukunft
Die Beschriftung der Figuren erfolgte vollautomatisch (im Bild ist der Roboter zu sehen). Die Information darüber, welche Figur mit welcher Gravur versehen werden musste, speicherte das System auf einem RFID-Chip, der auf dem Trägersystem für die Legofiguren integriert war.
CIIT: Arbeitsplatz der Zukunft
Am Handarbeitsplatz führte eine Datenbrille durch den Bearbeitungsprozess. Unter anderem zeigte sie dem Fertigungskollegen, welcher Box das nächste zu verwendende Bauteil zu entnehmen ist.
TU Berlin: Gestensteuerung
Die TU Berlin steuert Roboter mit Hilfe von Gesten. Per Fingerzeig zeichnet der Benutzer die gewünschten Bewegungen des Roboterarms vor. Damit sollen sich Roboter einfach und schnell neu programmieren lassen.
Wibu: Verschlüsselung
Einen Koffer voller Dongle präsentierte Wibu Systems auf der Messe.
Wibu: Verschlüsselung
Mit Hilfe der Hardwarekomponenten lassen sich Industrieanlagen schützen. Hier wird das Besticken von Fußballschuhen gesichert. Die Wibu-Hardware verschlüsselt die von Designern entworfenen Stickmuster.
Wibu: Verschlüsselung
Auf der Rückseite des Windows-CE-basierenden Terminal wird der USB-Dongle eingesteckt.

Herausforderung: Informationslogistik in dynamischen Produktionsnetzwerken

Neben Standards zum Austausch von Qualitätsanforderungen muss dabei auch die Informationslogistik Berücksichtigung finden. Aufgrund des potenziell sehr dynamischen und selbstorganisierenden Produktionsnetzwerks kann nicht immer auf eine zentrale Infrastruktur zurückgegriffen werden, welche diese Informationen produktspezifisch zur Verfügung stellt. Die Produkte müssen diese Anforderungen also selbst in sich tragen.

Ein Schritt in Richtung Intelligente Smart Products können RFID Tags mit hoher Speicherkapazität sein. Diese Tags bilden dann das sogenannte Objektgedächtnis (Digital Object Memory, DOM) ab, in dem sämtliche relevanten Informationen zu einem physischen Objekt, beispielsweise einem Bauteil in der Automobilproduktion, gespeichert werden. Eine Weiterentwicklung sind aktive digitale Objektgedächtnisse (Active Digital Object Memory, ADOM), die über integrierte Computer verfügen und neben der Speicherung von Daten auch weitere Funktionen wie etwa Standortverfolgung oder Zustandsüberwachung erlauben. Inzwischen gibt es bereits einige Bestrebungen, Standards in diesem Bereich zu entwickeln. So wurde zum Beispiel das OMM (Object Memory Model) im Rahmen der W3C Incubator Activities als Strukturformat für Objektgedächtnisse entworfen. OMM basiert auf XML und ermöglicht den Austausch von Daten zwischen den einzelnen Produkten, mit der Produktion und den Systemen.

Herausforderung: Ursachenidentifikation in flexiblen Produktionsumgebungen

Die neu gewonnene Flexibilität und Dynamik in den Produktionsabläufen der Smart Factory führt im Extremfall dazu, dass jedes Produkt auf einem anderen Weg durch den Fertigungsprozess geschleust wird. Das allerdings erschwert Analysen von Fehlerbildern und die Ursachenidentifikation deutlich.

Auch hier bietet das Smart-Product-Konzept Lösungsansätze. Aufgrund ihres Objektgedächtnisses sind die Produkte in der Lage, sich ihren individuellen Produktionsweg zu merken. Auf seinem Weg durch die einzelnen Verarbeitungsschritte erzeugt jedes Produkt damit seinen individuellen "Qualitätsabdruck", vergleichbar mit einem Fingerabdruck. Dieser kann neben dem Weg, den das Produkt genommen hat, auch weitere qualitätsrelevante Metainformation enthalten, zum Beispiel Fertigungstoleranzen.

Durch einen entsprechenden Vergleich dieser Qualitätsabdrücke können Problemstellen im Produktionsnetzwerk identifiziert und automatisch bereinigt oder umgangen werden. Auch in diesem Fall sind gemeinsame Standards zur Dokumentation der qualitätsrelevanten Daten und Metadaten notwendig - nicht zuletzt, um einen späteren Vergleich und eine Analyse zu ermöglichen. Für die Analyse der Daten können klassische Business-Intelligence- oder Data-Mining-Werkzeuge verwendet werden. Wenn allerdings ein direkter Rückfluss in die Produktion notwendig ist, werden Tools benötigt, die diese Analyse fortlaufend in Echtzeit betreiben und das Feedback daraus direkt über Schnittstellen in die Produktion liefern können.

Das Wertschöpfungspotenzial von Industrie 4.0
Diese Branchen können profitieren
Der Bitkom und das Fraunhofer IAO haben das Wachstumspotenzial für die Branchen ITK, Maschinen- und Anlagenbau, Chemische Industrie, Kraftfahrzeugbau, Elektroindustrie und Landwirtschaft erhoben.
Technologiefelder
Dabei wurden die Aktivitäten in divesen Technologiefelder bewertet, die für eine vernetzte und intelligente Fertigung relevant sind.
Gesamtpotenzial
Insgesamt erwarten die Marktexperten ein jährliches Wachstum von 1,7 Prozent, das mit Waren und Diensten rund um Industrie 4.0 zu erzielen ist.
ITK-Industrie
Der ITK-Branche eröffnen sich Chancen durch neuen Produkte und Dienstleistungen, die eine einfache, flexible und echtzeitnahe Produktionsplanung und -steuerung ermöglichen. Neue Services basieren vielfach auf Big Data und Cloud Computing.
Maschinen- und Anlagenbau
Die Branche ist Anwender und Anbieter zugleich. Betriebs-, Zustands- und Umfelddaten können genutzt werden, um effizienter zu produzieren oder neue Geschäftsmodelle zu entwerfen. Zudem statten Anbieter andere Fertigungsunternehmen mit neue Komponenten und Systeme aus.
Elektroindustrie
Die Branche der elektrischen Ausrüster umfasst vor allem die Herstellung elektrischer und optischer Geräte. Ihre Lösungen können komplexe Produktionsprozesse fast in Echtzeit überwachen. Das schafft höhere Transparenz und senkt Lagerkosten.
Chemie
In der Chemie-Industrie geht es vor allem um die bessere Überwachung und höhere Flexibilität global verteilter Produktionsprozesse.
Kraftfahrzeugbau
Die Branche ist primär Anwender von Industrie 4.0, insbesondere in der Produktion und Logistik. Neue Technologien in den Fahrzeugen erhöhen die Verkehrssicherheit und erleichtern das Management von Ersatzteilen und die Wartung.
Landwirtschaft
Das kleinste betrachtete Segment ist die Landwirtschaft. Hier sind verbesserte Prozesse und neue Geschäftsmodelle möglich. Die Effekte werden vor allem durch die Vernetzung von Landmaschinen untereinander sowie den Einsatz mobiler Geräte gesehen: Sie vereinfachen eine flexible und echtzeitnahe Produktionsplanung und -steuerung.

Herausforderung: Virtuelle Qualitätsprüfung für die smarte Fabrik

Um sich selbst organisieren zu können, muss die smarte Fabrik in der Lage sein, sich ein virtuelles Bild der Qualität der späteren realen Produkte und Prozesse zu machen. Auf Basis dieser prognostizierten Qualität können dann intelligente Algorithmen die Produktion optimieren und steuernd eingreifen. Grundlage hierfür ist ein übergreifendes Verständnis darüber, wie die Güte eines virtuellen Modells bewertet werden kann. Um die Qualität eines Produktes prognostizieren zu können, reicht es nicht aus, einzelne Produktionsschritte zu bewerten - hier müssen die verschiedenen Wege durch die Fabrik simuliert und die jeweiligen Ergebnisse zusammengefasst werden.

Hat ein Produkt zum Beispiel bereits eine oder mehrere Stationen innerhalb seines Fertigungsprozesses durchlaufen, so werden seine Eigenschaften auch durch die speziellen Eigenschaften der Maschinen bestimmt, auf der es bearbeitet wurde. Damit kann dann zum Beispiel hochgerechnet werden, welche Fertigungsmaße für das Produkt abhängig von den folgenden Stationen noch erreicht werden können und ob diese noch im Rahmen der zulässigen Toleranzen liegen.

Fazit

Mit der Vision Industrie 4.0 steht das Qualitätsmanagement vor neuen Herausforderungen. Um den hier skizzierten Anforderungen an Datenaustausch, Informationslogistik, Ursachenidentifikation und Qualitätsprüfung in den flexiblen Produktionsnetzwerken der smarten Fabrik begegnen zu können, müssen noch einige Voraussetzungen erfüllt werden. Eine wichtige Grundlage ist die nahtlose Integration und Vernetzung der administrativen und dispositiven IT-Systeme mit der produzierenden Infrastruktur. Auch werden neue und erweiterte Standards notwendig werden, um für eine gleiche Semantik in den Daten zu sorgen. Denn erst das Vorhandensein und die Nutzung einer definierten, einheitlichen Semantik ermöglicht den Austausch der Daten, der nötig ist, um das Qualitätsmanagement in der Smart Factory sicherzustellen. (bw)