Order oder Selbstbestimmung

Ideen für E-Mail-Verbot sind nur heiße Luft

28.08.2014 von Axel Oppermann
In einer freien und liberalen Gesellschaft sollte es der Einzelne sein, der entscheidet, was gut für ihn ist. Einseitige Konzepte, die das Löschen oder Abschalten von E-Mails sowie die Verhinderung von Vernetzung und Kommunikation forcieren, sind nicht die Lösung für Probleme in Unternehmen und Gesellschaft.

Und täglich grüßt das Murmeltier: Im Herbst 2013 polterte IG-Metall-Chef Wetzel mit seiner Forderung, gesetzlich einen allgemeines E-Mail-Verbot nach 20 Uhr durchzusetzen. Im April schwappten Konzepte und Ideen nach Deutschland, die die Diskussion um den E-Mail-Verzicht in den Abendstunden verbieten sollen. Und pünktlich zur Ferienzeit prahlten einige "gewerkschaftliche Vordenker und IT-Verantwortliche damit, dass sie "erfolgreich" E-Mails im Urlaub der Mitarbeiter gelöscht hätten. Doch es gibt noch immer keine ganzheitlichen Lösungen, die flächendeckend umgesetzt wurden, die die Interessen der Menschen und die Notwendigkeit der arbeitsweltlichen Realität vereinen. Der Ruf nach "Unerreichbarkeit" des Einzelnen muss verhallen. Es gibt kein Recht auf Unerreichbarkeit, sondern auf Selbstbestimmung.

Geschäftliche E-Mails nach Feierabend? Geschäftliche E-Mails im Urlaub? Das Thema Erreichbarkeit sorgt immer wieder für öffentliche Vorstöße von Gewerkschaftsbossen und Konzernlenkern.
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Die gute Nachricht zuerst: Die Forderung von Gewerkschaftsbossen, beruflichen E-Mail- und SMS-Verkehr nach Feierabend gesetzlich zu unterbinden, wird nicht erfolgreich sein. Warum? Weil der überwiegende Teil der Gesellschaft nicht in "Neuland", sondern in Deutschland lebt. Ein funktionierendes industrielles und wirtschaftliches Kommunikationsgebaren kann nicht per Gesetz, per Dekret oder Beschluss indoktriniert werden. Ferner geht es nicht um die Betrachtung eines einzelnen Kommunikationskanals, sondern um die Unmittelbarkeit des privaten und öffentlichen Selbst.

Worum geht es?

Immer häufiger fordern überforderte Organe, Institutionen oder Bewohner von "Neuland" Verbote und gesetzliche Regelungen, die SMS- und E-Mail-Verkehr nach "Feierabend" sowie an Wochenenden unterbinden sollen. Nach Ansicht dieser beschränkenden Regulierer darf die "zunehmende Digitalisierung" nicht dazu führen, dass Arbeitnehmer rund um die Uhr erreichbar seien. Die saturierten Funktionäre und die von idealisierten Vorstellungen beseelten "Neuländer" verlangen nach Gesetzen, die den "unzumutbaren" Zustand heilen.

Die Forderungen sind nicht nur fragwürdig und standortschädigend, sondern vielmehr auch der zentrale Schwachsinnspunkt in der Debatte um die Frage, wie Unternehmen und deren Mitarbeiter Kommunikationsinstrumente und Kommunikationskanäle nachhaltig nutzen sollen. Sowohl Gewerkschaften als auch Regierungen und Unternehmen sollten gewahr werden, dass heute und zukünftig Rezepte und Konzepte, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, im 20. Jahrhundert weiterentwickelt wurden und wohlstandsstiftend waren, im 21. Jahrhundert nicht mehr funktionieren, Wegweisendes geleistet werden kann. Was benötigt wird, sind Lösungen und nachhaltige Konzepte. Und dies für alle gängigen und aufkommenden Formen der Kommunikation.


Was benötigt wird

Selbstredend: Für viele Menschen entscheidet die Arbeit über das Lebensglück. Heute gilt - jedenfalls in unserem Wirtschaftskreis - eher die Auffassung, dass nicht Arbeit unzufrieden macht, sondern Arbeitslosigkeit. Arbeit kann Instrument der Selbstverwirklichung, Selbstwahrnehmung und des wirtschaftlichen Umfelds sein. Aber nur dann, wenn die Rahmenparameter stimmen.

Wir benötigen Modelle, welche die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer in vielen Berufen tatsächlich ermöglichen. Familienfreundliche, flexiblere Arbeitszeiten werden Voraussetzung und sind geeignete Rahmenparameter, die auf der einen Seite etablierte Werte erhalten, auf der anderen Seite jedoch einen wettbewerbskonformen Fortschritt ermöglichen. Anstatt sich mit einer Frauenquote zu beschäftigen, müsste die EU-Kommission eine Diskussion darüber anstoßen, wie Europa im 21. Jahrhundert auf den globalen Märkten wettbewerbsfähig bleibt und welche Rahmenparameter notwendig sind. Statt sich über die sinkenden Geburtenraten auszulassen, sollte die Bundesregierung Gesetze schaffen, die für unterschiedliche Qualifikationsprofile und Lebenssituationen mobile, ortsungebundene und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze ermöglichen.

Anstatt mit Verboten und Gesetzen zu poltern, die die Art und Weise der Kommunikation regeln, sollten Gewerkschaften Konzepte erarbeiten, die auf Transparenz und Offenheit in der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abzielen. Es reicht nicht, einzelne Kommunikationsmittel zu diskriminieren oder an den Pranger zu stellen. Es besteht Bedarf für eine ganzheitliche Betrachtung der Art und Weise wie in Unternehmen kommuniziert wird.

Verständnisse von Hierarchie, Unternehmensorganisation und Kommunikation in einem Unternehmen wie vor 20 oder 30 Jahren sind heute nicht mehr zielführend. Das werden - und müssen - immer mehr Entscheider in Unternehmen, aber auch Arbeitgebervertreter sowie Gewerkschaften, schnell lernen. Der Druck auf Deutschland - also die Gesellschaft -, die deutsche Wirtschaft und Unternehmen wird zu groß, als dass wir uns hier noch lange Zeit lassen können. Einerseits steigt der kultur- und wirtschaftsimperialistische Druck aus der nordamerikanischen Sphäre. Andererseits ist der Feuerschweif des asiatischen Drachens in der deutschen Gesellschaft - bis hin in mittelständische Unternehmen - zu spüren. Auch deshalb brauchen wir Regeln, die die wirtschaftliche Kraft Deutschlands nachhaltig festigen. Gesetzliche Einschnitte der Kommunikation oder artverwandte entartete Konzepte schaden dem Wohlstand aller und des Einzelnen.

Was es zu erreichen gilt

Das nahtlose und uneingeschränkte Verbinden von Menschen mit anderen Menschen, mit Daten, Informationen und Wissen, zukünftig auch stärker mit physischen Dingen und Maschinen auf eine effizientere und intelligentere Weise, wird ein Erfolgsfaktor für unsere Gesellschaft sein. Dabei dürfen unsere Kultur - unsere Leitkultur - und der Mensch nicht vernachlässigt werden. Es sollte gewahr werden, dass vor dieser durch Technologie veränderten Welt sich die Art ändert, wie wir konsumieren, Kontakte knüpfen, agieren sowie interagieren und letztlich auch, wie wir denken, leben und in einer Gesellschaft miteinander "funktionieren".

Axel Oppermann: "Wir sollten mehr Chancen erarbeiten, statt Türen durch antiquierte Denkmuster zu verschließen."
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Sollen die Vorteile bei uns gehoben werden, so benötigen wir eine neue Wirtschaftspolitik und einen erweiterten Begriff der Wohlstandsproduktion. Ein solches Modell - eine solche Politik - muss für umfassende Verfügbarkeit von Technik, Prävention und Schadensvorsorge sorgen sowie eine demokratische Mitbestimmung ermöglichen. Das ist Aufgabe der Politik.

Modelle für die Zusammenarbeit in Unternehmen, der Organisation von Unternehmen und der Gestaltung von Arbeits- und Privatleben obliegen den Unternehmen, den Arbeitnehmern und deren Vertretern. Hier gilt es, auf Basis zeitgemäßer Organisations- und arbeitsorganisatorischer Ansätze individuelle und anpassbare Rahmenvereinbarungen zu entwickeln. Hieraus entsteht für das einzelne Unternehmen eine entscheidende Chance, sich Wettbewerbsvorteile zu erarbeiten. Kommunikationsmittel und Richtlinien für deren Einsatz sind ein Wettbewerbsfaktor. Hygienemaßnahmen im Umgang und Einsatz der einzelnen Lösungen und Instrumente sind ein Erfolgsfaktor.

Vertrauen und Transparenz sind der Weg - nicht Verordnungen oder Gesetze

Vertrauen ist zumeist ein alltagssprachlicher Begriff, der inzwischen praktisch sämtliche Lebensbereiche durchdringt. An dieser Stelle geht es nicht um eine wissenschaftliche oder soziologische Begriffserläuterung; und es ist auch kein Blick in das Handbuch der Arbeits- und Organisationspsychologie notwendig. Vielmehr geht es um das Grundverständnis, dass Vertrauen in unsicheren Situationen die Akteure unterstützt und sie handlungsfähig macht. Im Kern geht es darum, dass Vertrauen die zentrale Grundlage des unternehmerischen Handelns ist.

Dabei wird ökonomischer Erfolg über die Ebenen Wahrnehmung, Einstellung und Verhalten erzielt. Vertrauen führt zu weniger Problemen, reduziert interpersonale Reibung - auch über Hierarchieebenen hinweg - und verstärkt Kooperationen. Voraussetzung ist eine Unternehmenskultur, die auf Transparenz aufbaut. Hierbei geht es nicht um "Sozialromantik". Es darf nicht gescheut werden, zu versuchen, die Wirklichkeit auszusprechen. Es darf aber auch nicht nach dem Leitsatz verfahren werden, dass Misstrauen nicht das Gegenteil von Vertrauen ist und grundsätzlich vom negativen Fall der Unsicherheit ausgegangen wird.

Und eben dieses Vertrauen und diese Transparenz müssen in unternehmensinternen Vereinbarungen als Grundlage vorausgesetzt werden, um dem Ziel aller und dem Schutz aller gerecht zu werden. So gilt es, das Ausnutzen von Mitarbeitern und übermäßige Belästigung einzuschränken. Gleichzeitig gilt es, die Selbstausbeutung und Selbstkasteiung der Mitarbeiter zu verhindern.

Was bleibt?

Wenn der Betriebsrat eines Autobauers heutzutage eine Vereinbarung durchsetzt, wonach die E-Mail-Funktion für Blackberry-Geräte 30 Minuten nach Feierabend abgeschaltet wird, ist es abgesehen davon, dass es sich um einen Treppenwitz der digitalen Geschichte handelt, ein nicht zielführender Ansatz. Es müssen vielmehr ganzheitliche Konzepte für alle Kommunikationsformen und Wege erarbeitet werden, welche den Interessen des Unternehmens gerecht werden und gleichzeitig den einzelnen Menschen schützen.

Wenn Gewerkschaften nach Gesetzen und Verordnungen schreien, handelt es sich um gefährlichen Populismus.

Es klingt heutzutage schon mehr als banal, wenn hervorgehoben wird, dass wir in einer Zeit des schnellen und fundamentalen Wandels leben. Nicht erst seit der massenkonformen Etablierung des Internets, des Zerbrechens (eigentlich) etablierter Wirtschaftsparadigmen und scheinbar unbeherrschbarer Dynamik, stehen herkömmliche Gesellschafts-, Produktions- und Managementsysteme vor einer Zerreißprobe. Interessant an dieser Stelle ist, wie sich der Wandel in unterschiedlichen Bereichen und Systemelementen vollzieht - und wahrgenommen wird. Und ein klein wenig mehr Unbequemlichkeit - auch beim Umgang mit der Wahrheit - könnte uns in Deutschland wirklich guttun: Wir sollten mehr Chancen erarbeiten, statt Türen durch antiquierte Denkmuster zu verschließen. Wir sollten einfach mal machen! (bw)