Hessen: Benchmark für E-Government

21.10.2004 von Karin Quack
Das Land Hessen hat einen eigenen CIO. Er ist angetreten, die internen Verwaltungsabläufe umzugestalten und durchgängig mit IT zu unterstützen. Was für Finanzdienstleister, Industrie und Handel zum guten Ton gehört, ist im öffentlichen Bereich noch die Ausnahme: ein strategischer und nutzenorientierter Einsatz der IT-Ressourcen.

Jahrzehntelang spiegelte die informationstechnische Unterstützung der Verwaltungsabläufe die Grundsätze des kameralistischen Rechnungswesen wider. Für die IT wurde grundsätzlich ausgegeben, was der Plan vorsah. Deshalb spielte das "Wieviel" eine größere Rolle als das "Wozu". Solange das Budget nicht ausgeschöpft war, investierten Gemeinden, Länder und staatliche Institutionen in neue Technik - häufig überhastet und unkoordiniert, weil die am Jahresende nicht verbrauchten Finanzmittel für immer verloren waren.

Im Regierungsprogramm

Nun sind die föderativen Staatsorgane gehalten, bis 2010 ihre Bilanzen den in der Wirtschaft üblichen Standards anzupassen. Der Umstieg auf das nicht nur mit Einnahmen und Ausgaben, sondern auch mit Erträgen und Aufwendungen operierende kaufmännische Rechnungswesen ruft unmittelbar die Informationstechnik auf den Plan. Denn die "doppische" Buchführung funktioniert logischerweise erst dann, wenn sie von der Software unterstützt wird. Gleichzeitig vollzieht sich ein Wandel in der Wahrnehmung der IT-Ressourcen; im Bundesland Hessen nimmt er gerade Gestalt an.

Bei ihrem Amtsantritt zu Be-ginn des Jahres 2003 hat sich die CDU-Regierung in Wies-baden auf die Fahnen geschrieben, Vorreiterin in Sachen E-Government zu werden. Wie wichtig ihr dieses Thema ist, belegt die Tatsache, dass sie sich auch in ihrem Regierungsprogramm damit auseinander setzt.

Die in mehr als zwei Dutzend Punkten beschriebenen E-Government-Aufgaben erschöpfen sich nicht darin, den Bürgerinnen und Bürgern ein Selbstbedienungs-Portal anzubieten. Sie umfassen vielmehr vor allem die Umgestaltung interner Verwaltungsvorgänge (siehe Kasten "E-Government in Hessen"). Wer sich solche Ziele setzt, benötigt mehr als das technische Know-how von HTML- und XML-Spezialisten, er braucht Prozesskentnisse und integrative Fähigkeiten.

Um dieses heikle Vorhaben in kompetente Hände zu legen, leistet sich das Land deshalb seit etwa anderthalb Jahren einen Chief Information Officer: Im Amtsdeutsch heißt er "Bevollmächtigter für E-Government und Informationstechnologie", doch nach seinem Selbstverständnis und dem seines Dienstherren vergleicht sich Harald Lemke eher mit einem CIO in der Wirtschaft.

Als CIO des Landes Hessen kämpft Harald Lemke nicht nur mit technischen, sondern auch mit politischen Widerständen.

"Die öffentliche Verwaltung benötigt dringend einen Modernisierungsschub", konstatiert Lemke, der den Rang eines Staatssekretärs innehat. In Sachen Prozessautomation hinke sie der Wirtschaft um Jahre hinterher. Deshalb müsse die Einbindung von Bürgern und Unternehmen in die Verwaltungsprozesse erst einmal hinter die interne Neugestaltung der Abläufe zurücktreten: "Wenn ich die bestehenden Prozesse einfach an das Internet anschließe, ist das wohl kaum kompatibel", begründet Lemke die Entscheidung. "Und deshalb geht bei uns Binnen- vor Außenmodernisierung." Schließlich seien die Bürger ja nicht nur Konsumenten staatlicher Dienstleistungen, sondern auch Steuerzahler. "Und die Frage ist doch, wovon sie am Ende am meisten haben." Davon abgesehen, fehle den Bürgerportalen bislang die "Killerapplikation", sprich: die rechtsverbindliche E-Mail für alle Behördenangelegenheiten.

Wie viel Reformpotenzial in der öffentlichen Verwaltung steckt, weiß der 48-jährige Lemke aus Erfahrung. Im April 2002 übernahm er das Projekt "Inpol-neu", das häufig in einem Atemzug mit öffentlichen IT-Ruinen wie "Fiscus", "Toll Collect" oder "Herkules" genannt wird. Der ehrgeizige Plan, ein Fahndungsverbundsystem für die deutsche Polizei zu erstellen, drohte damals an den fachlichen und politischen Widerständen der Landespolizeien zu scheitern.

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Paradigmenwechsel bei Inpol

Dass zumindest die intendierten Grundfunktionen seit dem August vergangenen Jahres verfügbar sind, verdanken die Fahnder einem von Lemke initiierten "Paradigmenwechsel": Anstatt 16 unterschiedliche, BS2000- und MVS-gestützte Systeme in einem Big Bang durch ein neues System zu ersetzen, veranlasste er die Entwicklung eines Internet-basierenden Zentralsystems auf der Grundlage des in Hamburg und Hessen entwickelten "Polas": Die zentralen Applikationen bedienen über Schnittstellen die bestehenden Altsysteme, aber auch das neue System, das die Länder nach ihrem eigenen Zeitplan adaptieren können.

So sind die Polizeidienststellen von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen ab sofort in der Lage, mit einheitlichen Fahndungsdaten zu arbeiten, ohne sich einer überstürzten Softwaremigration unterziehen zu müssen. "Erneuerung von innen" nennt Lemke diese Strategie. Mit dem ursprünglichen Projektansatz sei die IT völlig überfordert gewesen, so seine Auffassung. Er kenne keinen Fall, in dem ein solches Unterfangen bewältigt worden wäre.

Strategie ist Risiko

Im April 2003 überließ Lemke das Projekt seinem Nachfolger, weil er zum Staatssekretär befördert und als CIO in das Finanzministerium des Landes Hessen berufen wurde. Seine erste Amtshandlung bestand darin, eine IT-Strategie zu formulieren keineswegs eine Selbstverständlichkeit für ein Bundesland. Und womöglich auch ein Risiko! Denn eine Strategie zu haben bedeutet auch, sich an den selbst gesteckten Zielen messen zu lassen. Auf der anderen Seite ist nach Lemkes Auffassung ein übergeordneter Fahrplan als Rahmen für alle einzelnen Projektziele unabdingbar.

Die Aufgaben des CIO sind offiziell beschrieben als "strategische Steuerung und Implementierung von E-Government", "Koordinierung der dazu laufenden Projekte" sowie "Festlegung landesweiter Standards". Den Hauptgrund, warum er in die Landesregierung befördert wurde, stellte aus seiner Sicht jedoch die angestrebte Reform des Rechnungswesens dar.

Fernziel Produktorientierung

Die Entscheidung, diese mit der SAP-Software R/3 zu tun, ist laut Lemke relativ unerheblich. Außerdem war sie zum Zeitpunkt seiner Berufung schon getroffen. Der Startschuss für das Vorhaben war im Jahr 1988 gefallen, also noch in der vorletzten Legislaturperiode, die von einer rot-grünen Regierung gestaltet wurde. Das im Jahr 2000 verabschiedete und auf acht Jahre angelegte Programm umschließt neben der Modernisierung der Finanzbuchhaltung mit R/3 FI (bis Ende des laufenden Jahres) die Neugestaltung des Personalwesens mit R/3 HR (bis 2006) sowie eine flächendeckende Ablösung der Kameralistik durch eine IT-Steuerung auf der Basis von Produkten (bis 2008). Die Gesamtkosten hat Lemke auf knapp 300 Millionen Euro taxiert.

Kritik vom Rechnungshof

Vor allem um die Kostenfrage entbrannte kürzlich eine lebhafte Diskussion. Entzündet worden war sie von einem Bericht des hessischen Rechnungshofs, der unter anderem eine "Honorarüberzahlung" an ein SAP-Partnerunternehmen in Höhe von etwa 170.000 Euro festgestellt hatte. Insgesamt monierte das Kontrollorgan, dass mangels landeseigenen Personals zu viele externe Berater beschäftigt würden, die angestrebten Einsparungen bislang nur rudimentär erzielt worden seien und das Budget-Controlling noch nicht wirke.

Naturgemäß griffen die Oppositionsparteien SPD und Bündnis 90/DieGrünen das Thema auf und verwiesen außerdem auf die Diskrepanz zwischen dem im Jahr 2000 angekündigten Projektvolumen von 51 Millionen Euro und der jetzt veröffentlichten Kalkulation, die um ein Sechsfaches höher liege. Allerdings räumten auch die Bündnisgrünen ein, "dass mit Amtsantritt von Staatssekretär Lemke das größte Chaos bei der SAP-Einführung zumindest eingedämmt werden konnte".

An Stellschrauben gedreht

Die vom Rechnungshof erhobenen Vorwürfe weiß Lemke zu kontern: Ja, es habe einen Fall gegeben, wo ein Anbieter zu viel Honorar erhalten habe, doch der Differenzbetrag "von etwa 160.000 Euro" sei nachträglich mit tatsächlich erbrachten Leistungen verrechnet worden.

Den Vorwurf, zu wenig eigenes Personal eingesetzt zu haben, lässt der CIO ebenfalls von sich abprallen: Er habe zwar eine höhere Anzahl von internen Mitarbeitern angefordert, aber gewusst, dass er wohl weniger bekommen würde. Also habe er sich beizeiten Ausweichstrategien überlegt. An welchen Stellschrauben er im Einzelnen gedreht habe, wolle er allerdings für sich behalten: "Ich werde den Teufel tun, damit auf den Jahrmarkt zu gehen." In Bezug auf die Personalstärke "atme" das Projekt; es schwanke zwischen 100 bis 200 Beteiligten. Und last, but not least ließen sich die angepeilten Ersparnisse nicht erzielen, bevor das Finanzsystem Ende dieses Jahres in den Vollbetrieb gegangen sei.

Iterative Budgetfindung

Die früher bekannt gegebenen Budgetumfänge waren, so Lemke weiter, weder vom Projektumfang noch vom Zeitraum her vergleichbar. Das ärgere ihn vor allem deshalb, weil die Diskussion über Zahlen die Inhalte außen vor lasse: "Wir zerreden hier ein Projekt, das wir dringend brauchen." Darüber hinaus sei eine "iterative Budgetfindung" für ein bislang beispielloses Vorhaben "etwas ganz Normales".

Gefallen lassen muss sich Lemke allerdings die Frage, ob es noch sinnvoll sei, R/3 zu installieren, wenn SAP selbst dieses System für überholt erklärt hat. "Das sehe ich sehr gelassen", erwidert er, "kein Softwareunternehmen kann es sich leisten, die Kunden gegen die Wand laufen zu lassen." Im Klartext: Vor der Migration in die Mysap-Welt sei ihm nicht bange.

Die weiteren Vorhaben

Neben dem Mammutvorhaben "Neue Verwaltungssteuerung" (NVS) führt der von 2003 bis 2008 reichende "E-Government-Masterplan" der hessischen Landes-IT drei weitere Punkte auf:

Dokumenten-Management und Workflow auf der Grundlage der Extended Markup Language (XML),

Ausbau der Internet- und Intranet-Aktivitäten sowie

Standardisierung der "Basiswelten".

Mittelfristig strebt der CIO eine "sukzessive Erneuerung" der gesamten IT-Landschaft an mit ressortübergreifenden Architekturstandards.

Dabei weiß Lemke wohl, dass er der aktuellen Technik immer ein wenig hinterherhinken wird, nicht nur wegen der knappen Budgets, sondern auch wegen der achtjährigen Abschreibungsfristen. Lemke: "Wir lassen unsere Systeme immer grandios veralten." Für eine kontinuierliche Anpassung an den Stand der Kunst zu sorgen ist eine weitere Herausforderung, der er sich stellen will.