Gute Forschung allein reicht nicht

12.11.2004 von Hans-Jörg Bullinger
Trotz Offshoring und Stellenabbau könnte die deutsche IuK-Industrie das Potenzial haben, auch künftig zur Weltspitze zu gehören. Innovationen gibt es genug.

Die Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) haben in den vergangenen zehn Jahren unseren Alltag und unsere Arbeit grundlegend verändert. Die IT gewinnt dabei in immer mehr unternehmenskritischen Bereichen an Bedeutung und macht eine vorausschauende, strategische Innovationsplanung und Entwicklung im IuK-Bereich wichtiger denn je. Hierbei sind zum einen globale Herausforderungen zu beachten, vor denen alle Industrieländer gleichermaßen stehen.

Auch wenn sonst weltweit niemand den Forschungsstandort Deutschland in derart düsteren Farben malt, wie dies hierzulande geschieht, so gibt es doch Anzeichen dafür, dass wir tatsächlich zusehends den Anschluss nicht nur an andere Forschungsnationen wie die USA und Japan, sondern sogar innerhalb Europas verlieren. Allein der Gedanke an ein weit verbreitetes "Rechnerbetriebssystem made in Germany" scheint verwegen. Warum dies so ist, wird durch die seit Monaten geführte Debatte um ein innovationsfreundlicheres Klima deutlich, aber auch durch einen Blick auf die internationale Konkurrenz im Forschungsmarkt.

So scheint es auf den ersten Blick, dass die USA ebenso wie wir mit der zunehmenden Auslagerung von IT-Kompetenzen in ausländische Unternehmen zu kämpfen hat. Schließlich sind IuK-Technologien geradezu prädestiniert für "Offshoring", ja sie ermöglichen es oft sogar erst. Server-Farmen können so kostengünstig in Tschechien stehen und gewartet werden, Call-Center sind in Indien angesiedelt, ohne dass der Anrufer es merkt.

Wer aber den Präsidentschaftswahlkampf in den USA verfolgt hat, konnte mit Erstaunen feststellen, dass das vermeintliche Schreckgespenst "IT Offshoring" dort als volkswirtschaftliche Chance verstanden wird. Und tatsächlich ist die Bilanz positiv: Wie eine McKinsey-Studie kürzlich vorgerechnet hat, bedeutet jeder durch Offshoring abgewanderte Dollar unterm Strich einen volkswirtschaftlichen Gewinn von rund 13 Cent, da die erzielten Einsparungen wieder investiert werden. So bringt ein auf den ersten Blick verlorener Arbeitsplatz durch die Einspareffekte und eine schnelle Wiederbeschäftigung der Betroffenen in produktiveren Jobs letztlich sogar einen Gewinn.

Für Deutschland geht dieselbe Rechnung allerdings nicht auf. Hier werden Einspareffekte durch Offshoring, die sich beispielsweise in einer höheren Rentabilität der Unternehmen oder in Preisvorteilen für die Endverbraucher niederschlagen, kaum für zusätzliche Investitionen verwendet. Somit kostet McKinsey zufolge jeder Euro, der ins Ausland abwandert, die deutsche Volkswirtschaft unterm Strich bis zu 35 Cent. Das Problem ist offenbar ein viel zu inflexibler Arbeitsmarkt. Je nach Schätzung werden in Deutschland allein in der IT 50000 bis 150000 Jobs mittlerer und hoher Qualifikation in den kommenden Jahren verloren gehen. Trotzdem zeigt das Beispiel USA, dass man globale Trends wie das Offshoring nicht bekämpfen muss.

Wir sollten auch akzeptieren, dass ein deutscher Mittelständler nie über Massenfertigung und Preis mit einer armenischen Software-Schmiede konkurrieren kann, sehr wohl aber über Qualität und Innovationskraft. Auf Dauer behalten wir daher bei diesem Standortkampf nur mit marktfähigen Innovationen die Oberhand.

Was sind Ingenieurstugenden?

Was zeichnet daher deutsche IuK-Technologien aus? Wie kann die wissenschaftliche Community wichtige Kompetenzen stärken und schnell in den Markt bringen? Welche sind unsere Stärken, und wie können diese Stärken durch eine vorausschauende Forschung und Entwicklung weiter gestärkt werden? - Zum Beispiel durch die deutsche Ingenieurstradition. Bedauerlicherweise kommt diese aber in der Software-Entwicklung noch viel zu selten zum Tragen. Gezeigt hat sich dies wieder einmal an den Misserfolgen von IT-Projekten wie etwa der Autobahnmaut. Zwar mögen Fehler in der Softwareentwicklung unvermeidlich sein, aber mit derselben Fehlerquote wie bei handelsüblichen Softwaresystemen würden beispielsweise im Flugverkehr statistisch gesehen jeden Tag rund 14 Flugzeuge abstürzen.

Professioneller entwickeln

Weil Software eben nicht nur ein Programm ist, sondern ein Moving Target, ein kompletter Lebenszyklus, der ein solides Prozess-Management erfordert, von der ursprünglichen Idee bis zum Wartungsvertrag, müsste die Entwicklung von Software stärker als Engineering verstanden werden - als ingenieursmäßige Entwicklung. Auch Systeme, die von sich aus intelligent mit Softwarefehlern umgehen können, sind hier eine große Herausforderung. Die angewandte Forschung in Deutschland gehört auf diesem Gebiet weltweit zur Spitze. Eine Kompetenz, auf die alleine hierzulande 20000 Softwarehäuser stärker zurückgreifen könnten.

Vor einer Gefährdung des Ingenieursstandorts Deutschland warnte jüngst auch Prof. August-Wilhelm Scheer, IDS-Geschäftsführer und Beiratsmitglied der Fraunhofer-IuK-Gruppe, in einem Interview: Trotz der starken deutschen Marktposition im Maschinenbau sei insbesondere bei der Produktentwicklung die Abhängigkeit von ausländischen Softwareherstellern bedenklich. Die angewandte Forschung hat diesen Bedarf erkannt und arbeitet an neuen IuK-Lösungen, damit das Versprechen der "digitalen Fabrik" gegenüber der Industrie eingelöst werden kann.

Auch die Qualifikation des deutschen IT-Nachwuchses wird immer wieder in Frage gestellt. Der weiter bestehende Bedarf an deutschen Fachleuten und die negativen Erfahrungen deutscher Unternehmen im Ausland belegen aber genau das Gegenteil: In Indien beispielsweise erfüllt nur einer von 20 Hochschulabsolventen die Voraussetzungen, die er hierzulande beim Berufseinstieg erfüllen müsste. So sollte man in der Debatte über "Offshoring" die Bildung wohl eher als "Exportschlager" begreifen. In jedem Fall sind Aus- und Weiterbildung in Deutschland Stärken, die es zu untermauern gilt.

Chancen für den Nachwuchs

Nachwuchswissenschaftler haben beispielsweise bei Fraunhofer die Möglichkeit, über ein eigenes Spin-off marktfähige Ideen in die Tat umzusetzen. Dies sind Chancen, die dem "Brain Drain", dem aggressiven Abwerben kluger Köpfe durch andere Nationen, wirklich etwas entgegensetzen können. Dadurch, dass Wissenschaftler dabei auch zu Unternehmern werden, schließt sich eine Kette, die mit einer technischen Vision beginnt und über die Forschung bis hin zur Vermarktung führt. Auch hier lohnt ein Blick in die USA: Nachdem die Zahl der Studenten im Bereich Informatik seit einiger Zeit rapide zurückgeht, hat nun das National Science Board davor gewarnt, die USA stünden unmittelbar davor, ihre führende Stellung im IT-Bereich zu verlieren. Umfragen zeigen, dass Arbeitsmarktsorgen dabei ein wichtiger Faktor sind.

Viele Bildungseinrichtungen reagieren darauf neuerdings mit "Offshoring"-Seminaren, um künftige IT-Spezialisten auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Was die Studienanfänger aber fast genauso stark abschreckt, ist der Eindruck, dass Informationstechnologien ihre Faszination verloren haben. Dass in Wirklichkeit aber die Herausforderungen in der IuK-Forschung größer sind denn je - gerade weil alles um uns herum zusehends von IuK-Technologien durchdrungen wird - beweist die gesellschaftliche Auswirkung neuer Entwicklungen jeden Tag aufs Neue. Bleibt zu hoffen, dass der amerikanische Pessimismus nicht auf das ohnehin eher innovationsscheue Deutschland übergreift.

Wirtschaft und öffentliche Hand können ihren Beitrag dazu leisten, Impulse für den Ausbau ganz bestimmter technologischer Stärken zu geben, indem sie in strategisch wichtigen Bereichen ihr Engagement verstärken. Beispiele für solche Bereiche sind in den Leitinnovationen enthalten, mit denen die Fraunhofer-Gesellschaft vor einem Jahr einen öffentlichen Diskurs angestoßen hat:

Leitinnovationen

- Die Forschung auf dem Gebiet der Digitalen Medizin wird IuK-Technologien hervorbringen, die verbesserte Diagnosen und Behandlungen sowie ein weitaus effizienteres Gesundheitssystem sowie eine schnellere Wirkstoffforschung ermöglichen.

- Forschung und Entwicklung werden die Möglichkeiten Elektronischer Assistenz erweitern. Unsere Umgebung wird zunehmend vernetzt und "intelligent": Ambient Intelligence ist der Schlüsselbegriff, der diese umfassende Vision kennzeichnet.

- Intuition wird bei immer komplexeren Systemen der Schlüssel zur nutzerfreundlichen Bedienung. Anstatt dass Menschen Maschinen bedienen müssen, werden Maschinen lernen, uns Nutzer zu bedienen. Dies erschließt IuK-Technologien viele weitere Anwendungsbereiche.

- Eine effizientere, integrative Produktion wird möglich durch realistischere Simulationen und Vernetzung.

- IuK-Lösungen für den Bereich der Logistik wie etwa RFID-Etiketten oder neue Flottenmanagement-Systeme optimieren den Transport.

- Die Simulierte Realität zieht sich durch die meisten Anwendungsgebiete von IuK-Technologien. Sie wird es unter anderem ermöglichen, Materialien nach Maß zu entwerfen und zu testen.

Auf all diesen Gebieten muss sich die deutsche Forschung keineswegs verstecken. Um aber im globalen Wettstreit besser mithalten zu können, müssen wir uns noch stärker auf unsere Stärken besinnen. Grundvoraussetzung hierfür sind Innovationen. Es reicht nicht, neue Ideen in die Welt zu setzen, wir müssen sie auch Wirklichkeit werden lassen - vor allem aber verwerten. Denn nur der Erfolg am Markt bringt zurück, was wir investiert haben.