Intelligente Produktionsabläufe

Gesucht: Referenzarchitektur für die Industrie 4.0

16.11.2014 von Ralf Neubauer
Industrie 4.0 wird die Fertigungsindustrie durch die weitreichende Vernetzung von Objekten, Diensten und Akteuren revolutionieren. Die Voraussetzung dafür ist eine Architektur mit hohem integrativen Potential.
Das sogenannte Internet der Dinge und die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) stellen wichtige Konzepte für die Industrie 4.0 dar.
Foto: BMW

Die Vernetzung erreicht in der Industrie 4.0 eine neue Dimension: von der Anlage bis zum Produkt, horizontal entlang der Wertschöpfungskette und vertikal von der Geschäfts-IT über Manufacturing Execution- (MES) und Produktionssysteme bis hin zu einzelnen Sensoren in den Anlagen. Gesucht wird eine Referenzarchitektur, die geeignet ist, die Grenzen zwischen Objekten und Diensten, Akteuren und Maschinen, verschiedenen Herstellern und Anwendern sowie der realen und virtuellen Welt zu überwinden.

Wie könnte eine solche Architektur aussehen und was sind die zentralen Herausforderungen, um den komplexen Anforderungen von Kommunikation und Vernetzung auf allen Ebenen gerecht zu werden?

Internet der Dinge und M2M

Das sogenannte Internet der Dinge und die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) stellen wichtige Konzepte für die Industrie 4.0 dar. Diese Begriffe sind zwar schon seit längerem etabliert, allerdings sind auch hierfür noch keine wirklich übergreifenden, etablierten Kommunikations- oder Architekturstandards verfügbar.

Wichtigstes Element für die einfachste Form des Internet der Dinge ist die eindeutige Identifikation eines zu betrachtenden Objektes. Erste Lösungen wurden zum Beispiel mit RFID (Radio-Frequency Identification) oder noch einfacher mit Barcodes realisiert. Anhand einer Nummer als Identifizierungsmerkmal werden damit zentrale Informationen zum Produkt verfügbar gemacht. Für die Vision der Industrie 4.0 ist das jedoch nicht ausreichend, sie benötigt eine übergreifende, komplexere und flexiblere Struktur.

Objekteigene Intelligenz als Voraussetzung

In der Industrie 4.0 sollen die Objekte selbst die notwendigen Informationen bereitstellen und auch weiterführende Intelligenz beherbergen, wie zum Beispiel die Speicherung von Informationen über ihren bisherigen Produktionsweg. Aber auch Funktionen wie beispielsweise Standortermittlung und andere Dienste müssen angeboten werden können. Hier spricht man unter anderem vom (Active) Digital Object Memory.

Notwendig wird diese objekteigene Intelligenz, da nicht immer auf ein zentrales Netzwerk zurückgegriffen werden kann, zum Beispiel, wenn sich das Produkt im Transport oder zur Veredelung bei einem Zulieferer befindet. Für eine Umsetzung der Industrie 4.0 wird diese Intelligenz nicht nur in den Produkten oder Fertigungserzeugnissen notwendig. Sie wird in allen Bereichen erwartet: den Anlagen, der Logistik und auch in der Energieversorgung.

Accenture über das Industrial Internet of Things (IIoT)
Industrial Internet of Things (IIoT)
In dem Papier "Driving unconventional growth through the industrial internet of things" schreibt Accenture über neue Umsätze durch das Erweitern klassischer Produkte mit digitalen Services. Die Analysten nennen das Produkt-Service-Hybrid.
Beispiel Claas
Ein Beispiel dafür liefert der Nutzmaschinen-Hersteller Claas. Dank neuer Sensortechnologie laufen Mähdrescher und Traktoren per Autopilot. Mit Partnerunternehmen hat Claas die Software 365FarmNet entwickelt, die den Landwirt bei Planung, Verwaltung, Analyse und Dokumentation seines Betriebs unterstützt.
Beispiel General Electric
General Electric und Accenture haben das Joint Venture Taleris gegründet. Von GE Aviation kommen Maschinen, Taleris spezialisiert sich auf Wartungen rund um die Flugzeuge. Neu sind Angebote im Flotten-Management.
Beispiel Virtual Radiologic
Das Unternehmen begann mit der Interpretation von Röntgenbildern. Heute bietet es IT-Services rund um Workflow-Verbesserung an.
Beispiel Michelin
Bekannt ist Michelin als Hersteller von Reifen. Über Michelin Solutions sollen Manager von Lastwagen-Flotten Energieverbrauch und Kosten senken können. Unter dem Motto Tires as a service überwachen Sensoren die Performance der Reifen.

Hoher Integrationsbedarf

Aus diesen Anforderungen leitet sich direkt ein sehr hoher Integrationsbedarf zwischen den einzelnen Elementen ab. Sensoren müssen Daten an MES liefern und ihre Dienste aktiv bereitstellen. Anlagen müssen mit den Produkten kommunizieren oder auch untereinander Informationen austauschen, unabhängig, von welchem Hersteller sie geliefert wurden und in welchem Unternehmen sie eingesetzt werden. Diese Integration kann reibungslos nur auf einem gemeinsamen Verständnis und einer übergreifenden Architektur stattfinden.

Bereits im Abschlussbericht des Arbeitskreises zum Zukunftsprojekt Industrie 4.0 wurde als ein Handlungsfeld der Bedarf an Standardisierung und einer gemeinsamen Sichtweise, zum Beispiel in Form einer Referenzarchitektur beziehungsweise Integrationsarchitektur erkannt und durch Gründung einer Arbeitsgruppe adressiert. Eine Referenzarchitektur beschreibt die Architektur von Systemen, unabhängig von den tatsächlich eingesetzten Technologien, Protokollen und Produkten auf einer abstrakten Ebene. Für die weitere Forschung und Entwicklung sind Referenzarchitekturen wichtig, um auf ein gemeinsames Modell und Glossar zurückgreifen zu können. Sie können maßgeblich dazu beitragen, schneller zu verwertbaren und übergreifend nutzbaren Ergebnissen zu kommen.

SOA als Referenzarchitektur

Sogenannte serviceorientierte Architekturen (SOA) als Aufsatzpunkt für eine solche Referenzarchitektur zu verwenden, liegt nahe. Kern einer serviceorientierten Architektur sind Dienste, die von sogenannten Dienstanbietern zur Verfügung gestellt und von Dienstkonsumenten genutzt werden. Das passt grundsätzlich in das verteilte Bild eines Industrie-4.0-Szenarios. SOA und die damit verbundenen Konzepte, Prinzipien und Paradigmen können also wichtige Grundlagen liefern:

Mehr Bestandteile, neue Ebenen

SOA als Referenzarchitektur wird der Aufgabenstellung Industrie 4.0 aber noch nicht vollständig gerecht. SOA wird bereits seit langem erfolgreich in der Geschäfts-IT eingesetzt. Hier kommunizieren in der Regel fest mit dem Netzwerk verbundene Systeme. Dienste existieren in diesem Netz nur einmal und liefern jeweils die gleichen Ergebnisse.

Zukünftig sind Objekte als Dienstanbieter und -konsumenten zu betrachten, die nur sporadisch verfügbar sind. Sie stammen nicht aus dem eigenen Netzwerk und müssen trotzdem verlässlich Nachrichten aus dem Netzwerk empfangen (oder senden) können - teilweise in Echtzeit. Diese Objekte bieten die gleichen Services an, repräsentieren aber jeweils eine eigene physische Entität mit einem eigenen, vielleicht nicht einmal vorhersagbaren, spezifischen Verhalten. Diese Identität muss auch in einer Referenzarchitektur abgebildet werden können.

Unter dem Projektnamen Internet of Things Architecture erarbeitet ein europäisches Konsortium verschiedene Architekturmodelle - zum Beispiel für die Herstellung des Cockpits eines LKW.
Foto: chungking - shutterstock.com

Dazu gehört auch das Einziehen einer Abstraktionsebene, denn ein Objekt als eine physische Entität kann wiederum aus weiteren Bestandteilen, wie mehreren Sensoren und Aktuatoren bestehen. Diese Objekte müssen sich auch in neuen Netzwerken sicher bewegen können. Nehmen wir als Beispiel das Cockpit-Modul eines Fahrzeugs: Es muss vom Hersteller und aus dessen Netz über den Transportweg LKW zum verbauenden OEM und damit in dessen Netzwerk gebracht werden. Abhängig von der Umgebung, in der sich dieses Objekt befindet, müssen eventuell auch andere Dienste zur Verfügung gestellt oder sogar neue Dienste auf dem Objekt installiert und konfiguriert werden können.

Weiterentwicklung der IoT-Architektur

Eine Referenzarchitektur muss also auch die innere Struktur und Fähigkeiten der Endpunkte betrachten. Ansätze hin zu einer Referenzarchitektur gibt es: Im Rahmen des Projektes IoT-A (Internet of Things - Architecture) hat ein Konsortium aus verschiedenen Industrieunternehmen und Forschungseinrichtungen einen konkreten Vorschlag für ein Referenzmodell für das Internet der Dinge erarbeitet. Hier fassen sogenannte Virtual Entities als Fassade die Sensoren und Aktuatoren eines Objektes, zum Beispiel des genannten Cockpit-Moduls, zusammen und stellen dessen Dienste zur Verfügung.

Fazit

Das Internet der Dinge ist für die Industrie 4.0 eine maßgebliche Säule. Die Vision der Industrie 4.0 lebt ja vor allem von der Integration der physischen Welt mit der virtuellen Welt. Dazu gehört auch die administrative Geschäfts-IT und nicht zuletzt der Mensch. Hier müssen die vorhandenen Modelle noch weiterentwickelt werden, um diese Bereiche abzudecken. Das Schaffen einer gemeinsamen Referenzarchitektur legt den Grundstein für darauf aufbauende übergreifende Standards. Erst wenn wir diese haben, können wir den Schritt machen, von herstellerspezifischen Insellösungen hin zu einem unternehmens- und technologieübergreifenden, integrierten Gesamtsystem, welches bei aller Flexibilität und Dynamik trotzdem noch steuerbar bleibt. (bw)